Gastkommentar

Warum Intellektuelle den Kapitalismus verachten

Intellektuelle hängen an ihrem eingefleischten Antikapitalismus, auch jene die tagtäglich alle erdenklichen Vorzüge des bekämpften «Systems» geniessen. Warum eigentlich dieses Schuldgefühl der Privilegierten?

Reinhard Mohr
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200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx, 170 Jahre nach der Veröffentlichung seines Kommunistischen Manifests hat sich der Kapitalismus weltweit durchgesetzt. Selbst Russland und China, die Super-Novas der sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, sind zum Kapitalismus umgeschwenkt. Seit dem Fall der Berliner Mauer ist der epochale Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus entschieden, und das jüngste Desaster eines «volkssozialistischen» Experiments, das sich in Venezuela abspielt, könnte als weiteres Menetekel einer langen historischen Beweiskette verstanden werden: Die Idee des Sozialismus ist noch jedes Mal an der Realität gescheitert.

Kuba hat sein Ziel verfehlt. (Bild: se. / NZZ)

Kuba hat sein Ziel verfehlt. (Bild: se. / NZZ)

Marx’ Prophezeiung von 1848, das Proletariat werde «seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreissen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, das heisst des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren», hat sich stets in Gestalt der Diktatur einer Funktionärskaste verwirklicht, in der es weder Wohlstand noch Freiheit gab, weder Demokratie noch Menschenrechte.

Ursache allen Übels

Trotz alledem hat der Kapitalismus bis heute wenig bekennende Freunde. Allenfalls zu einer «sozialen Marktwirtschaft» mag man sich unter vielfältigen Einschränkungen murrend bekennen. «Der Kapitalismus» aber, obwohl er tatsächlich in unzähligen politischen Mischformen existiert – von Thailand bis Schweden, von Kanada bis Frankreich, von Australien bis Polen –, gilt als Ursache allen Übels auf der Welt.

Der Kapitalismus ist moralisch a priori disqualifiziert, ein unheilvolles, letztlich dem Untergang geweihtes System, in dem Profit, Eigennutz und materielle Gier zur Antriebsfeder unmenschlichen Handelns degenerieren.

Vor allem in intellektuellen Kreisen, unter «Kulturschaffenden» und in grossen Teilen der Massenmedien ist klar: Ausbeutung und Unterdrückung, Kriege, Ungerechtigkeit und Umweltvergiftung, Klimakatastrophe, Armut, Krisen, Krankheiten, Elend, Entfremdung und Unglück – an allem ist der Kapitalismus schuld; wahlweise der Turbo- bzw. Finanzkapitalismus, der «Neokolonialismus» und der «Neoliberalismus», nicht zu vergessen: die Globalisierung.

Wer dazu noch die Attribute entfesselt, enthemmt, brutal und asozial ins Vokabular aufnimmt, braucht gar keine Argumente oder Zahlen mehr, allenfalls Bilder – ob von ertrinkenden Flüchtlingen oder Elendsregionen in der sogenannt Dritten Welt. In deutschen Fernsehsendungen für die angeblich denkende Klasse wie «Kulturzeit» (3SAT), «Aspekte» (ZDF) und «ttt» (ARD) reichen solche Stichworte aus, um die immergleichen Assoziationen zu wecken. Der Kapitalismus ist moralisch a priori disqualifiziert, ein unheilvolles, letztlich dem Untergang geweihtes System, in dem Profit, Eigennutz und materielle Gier zur Antriebsfeder unmenschlichen Handelns degenerieren.

«Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung» – wer ein Sachbuch mit diesem Titel veröffentlicht, das nicht nur in Berlin Prenzlauer Berg mühelos als Party-Crasher einsetzbar wäre, muss da fast verrückt erscheinen. Rainer Zitelmann, Historiker, ehemals Verlagsleiter und «Welt»-Redaktor, Autor und Immobilieninvestor aus Berlin, hat es gerade getan. Als Geschichtswissenschafter vergleicht er Sozialismus und Kapitalismus in der Wirklichkeit – nicht mit der bei Intellektuellen so beliebten Fata-Morgana-Methode, bei der sich die unvollkommene und selbstverständlich kritikwürdige – kapitalistische – Realität unweigerlich an der grossartigen – irgendwie sozialistisch-utopischen – Idee blamiert. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall.

Nord- und Südkorea, DDR und Bundesrepublik Deutschland, Chile und Venezuela: Die Befunde sind schlagend. Ähnliches gilt für die sehr unterschiedliche Entwicklung asiatischer und afrikanischer Staaten. Muster: Je kapitalistischer, desto dynamischer, je sozialistischer, desto rückständiger. Man muss diese Bewertung nicht teilen. Aber es braucht sehr gute Argumente, Daten und Fakten, um sie anzugreifen.

Klischees und Plattitüden

Leider reicht den meisten Kritikern ihr antikapitalistisches Bauchgefühl. Wer genauer nachfragt, hört meist Klischees und Plattitüden. Eine kritisch-historische Auseinandersetzung scheint überflüssig, erst recht die Frage nach einer – sozialistischen? – Alternative. Erstens, so die notorische Rede seit 1968, ergebe die sich «im Laufe der Entwicklung» – die «konkrete Utopie» lasse sich eben nicht am Reissbrett entwerfen; und zweitens spiele es auch keine entscheidende Rolle: Erst einmal müsse der Kapitalismus bekämpft werden. Denn «so» gehe es keinesfalls weiter.

Ein idealtypischer Repräsentant dieser endlos rezyklierbaren moralischen Daueranklage ist Jean Ziegler. Noch 2017 prophezeite er in einem Interview mit der «Frankfurter Rundschau», es stehe «eine Endschlacht bevor, Gut gegen Böse. Armageddon. Der planetarische Klassenkampf ist in der Endphase».

Ob Sarah Wagenknecht, Jakob Augstein, Noam Chomsky, Michael Hardt, Toni Negri, Alain Badiou oder Didier Eribon – die bigotten Prediger der Apokalypse sind allgegenwärtig.

Der Schweizer Weltmann, der gute Kontakte zu Libyens Gewaltherrscher Muammar al-Ghadhafi pflegte, betrachtet Ché Guevara auch heute noch als Vorbild und rechtfertigt die kubanische Unterdrückung freier Wahlen: «Ich bin total solidarisch mit allem, was in Kuba passiert ist. Brecht sagt, ein Wahlzettel macht einen Hungrigen nicht satt. Es geht erst einmal darum, den Hunger zu beseitigen (…) und die rassistische und ungleiche Gesellschaft zu beseitigen und in eine gerechtere, glücklichere und menschliche Gesellschaft zu verwandeln.»

Erstaunliche Ansichten über eine Diktatur ohne Presse- und Meinungsfreiheit, in der dieses Ziel seit bald sechzig Jahren grandios verfehlt wird. Doch Jean Ziegler, der nie im Leben mit allem «solidarisch» sein wollte, was in der demokratischen Schweiz vor sich ging, spricht nur aus, was viele europäische Intellektuelle denken. Es ist nicht nur die «Gauche Kaviar» in den Pariser Lofts, die sich den bequemen Ressentiments des guten Gewissens hingibt, es sind Intellektuelle aller Fakultäten, die in den Talkshows noch immer den jeweils kürzesten Weg von der jüngsten Diesel-Affäre oder dem letzten Terroranschlag zum «Raubtierkapitalismus» des Westens finden. Ob Sarah Wagenknecht, Jakob Augstein, Noam Chomsky, Michael Hardt, Toni Negri, Alain Badiou oder Didier Eribon – die bigotten Prediger der Apokalypse sind allgegenwärtig.

Warum aber hängen selbst jene Intellektuellen an ihrem eingefleischten Antikapitalismus, die tagtäglich alle Vorzüge des bekämpften «Systems» geniessen? Ein tief sitzendes Schuldgefühl der Privilegierten mag hier eine Rolle spielen, das «Schluchzen des weissen Mannes» (Pascal Bruckner): Wer sich derart für die Unterdrückten einsetzt, darf auch in der Zürcher Kronenhalle speisen – vice versa. Nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen.

«Verblendungszusammenhang»

Zitelmann weist auf einen unterschätzten sozialpsychologischen Aspekt hin – Überlegenheits- wie Minderwertigkeitsgefühle, Neid und Arroganz: «Der Intellektuelle vermag nicht zu verstehen, warum der ihm ‹geistig unterlegene› Unternehmer, der nur einen Bruchteil der Bücher gelesen hat und vielleicht noch nicht einmal über ein abgeschlossenes Studium verfügt, am Ende wesentlich mehr Geld verdient.» Man kann es akademischer formulieren: Intellektuelle halten ihr in jahrzehntelangem Studium erworbenes explizites Wissen für bedeutender als das implizite Erfahrungswissen von Leuten, die mit Schrauben, selber zusammengebauten Möbeln, unzähligen Joghurtsorten und bedruckten T-Shirts Milliardenumsätze machen.

Dazu kommt die rituelle Verdammung des «Profitdenkens» und der «Ökonomisierung aller Lebensbereiche». Sie entspringt einer quasireligiösen Verachtung des Gelderwerbs, des wirtschaftlichen Denkens überhaupt, in dem man nur Oberflächlichkeit, Materialismus, Vulgarität und potenzielle Barbarei erkennen kann. Letztlich geht es um die Lufthoheit der Metaphysik, den weltumspannenden Entwurf – wie bei Marx, der die Bewegungsgesetze des Kapitals entdeckt zu haben glaubte. Unweigerlich drängt es die Intellektuellen in die Rolle einer Avantgarde, die dem Volk, vom «Verblendungszusammenhang» (Adorno) über seine «wahren Bedürfnisse» getäuscht, den Weg weist.

Fünfzig Jahre nach «68» gibt es da jedoch ein Problem: Es hat keine Avantgarde mehr. Sie sitzt jetzt bei Sandra Maischberger und Markus Lanz und ist Teil des Verblendungszusammenhangs. Der Phantomschmerz wird mit Grosspackungen moralgetränkter Besserwisserei gelindert.

Reinhard Mohr ist deutscher Publizist und schrieb u. a. für «taz», «FAZ», «Stern» und «Spiegel».