Die Schauspielerin Audrey Hepburn mit ihrer markanten Sonnenbrille bei den Dreharbeiten zu «Breakfast at Tiffany's», 1961. (Bild: Alamy)

Die Schauspielerin Audrey Hepburn mit ihrer markanten Sonnenbrille bei den Dreharbeiten zu «Breakfast at Tiffany's», 1961. (Bild: Alamy)

Die Sonnenbrillen aus der italienischen Provinz: Das Imperium vor unseren Augen

Alle tragen Sonnenbrillen, aber fast niemand kennt den Konzern, dem Ray Ban, Oakley, Armani und Co. gehören. Und niemand den Mann, der als Halbwaise aufwuchs und mit seinem Brillenimperium zum reichsten Italiener aufstieg. Zeit für einen Blick hinter die abgedunkelten Gläser.

Martin Beglinger
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Was tragen Sie gerade auf Ihrer Nase, während Sie diese Zeilen lesen? Eine Lesebrille von Ray Ban? Eine Sonnenbrille von Armani? Oder von Oakley, Dolce & Gabbana, Chanel, Ralph Lauren, Gucci, Prada, Oliver Peoples, Miu Miu, Alain Mikli, Bulgari, Burberry, Valentino, Versace, Michael Kors oder Persol?

Egal, es kommt alles aus der gleichen Fabrik – Luxottica. Und es gehört alles dem gleichen Mann – einem 84-jährigen Italiener namens Leonardo Del Vecchio. Zwei Namen, die kaum jemand kennt, obwohl dieser Mann in den letzten 50 Jahren buchstäblich vor unseren Augen und auf unserer Nase ein Imperium aufgebaut hat.

Der Schauspieler Steve McQueen und seine Frau Neile Adams, 1972. (Bild: Alamy)

Der Schauspieler Steve McQueen und seine Frau Neile Adams, 1972. (Bild: Alamy)

Leonardo Del Vecchio darf sich mit guten Gründen als König der Brillen fühlen, auch wenn jene wenigen, die ihn kennen, vom «Patron», «Presidente» oder am liebsten vom «Cavaliere» reden, seit ihn Staatspräsident Cossiga 1986 zum «Ritter der Arbeit» geschlagen hat. Von Italiens alten Wirtschaftspatriarchen des Nordens – Berlusconi (82), Benetton (83), Armani (84) – ist Leonardo Del Vecchio der unbekannteste, aber mit Abstand der erfolgreichste. Sein Unternehmen hat mittlerweile 82 000 Angestellte, die an 12 Standorten rund um die Welt nicht weniger als 87 Millionen Brillengestelle pro Jahr produzieren und verkaufen (Zahlen für 2018). Jahresumsatz: knapp 9 Milliarden Euro.

Und das ist nur die eine Hälfte dieses Imperiums. Die andere heisst Essilor, ist ihrerseits der weltgrösste Produzent von Brillengläsern und seit 2018 Teil der EssilorLuxottica-Gruppe mit 150 000 Beschäftigten und 16 Milliarden Euro Umsatz. Auch ihr steht Del Vecchio als Executive Chairman vor. Damit dominiert Luxottica den Weltmarkt in ihrem Bereich wie kaum ein anderes Unternehmen in der Luxusgüterindustrie. Aufgestiegen aus dem Nichts, ist Leonardo Del Vecchio heute je nach Börsenstand der reichste oder zweitreichste Italiener und gemäss «Forbes» mit rund 20 Milliarden Dollar dreimal so vermögend wie Silvio Berlusconi.

Leonardo Del Vecchio darf sich als König der Brillen fühlen. Viele seiner Freunde nennen ihn «Cavaliere», seit ihn Staatspräsident Cossiga 1986 zum «Ritter der Arbeit» geschlagen hat. (Bild: Imago)

Leonardo Del Vecchio darf sich als König der Brillen fühlen. Viele seiner Freunde nennen ihn «Cavaliere», seit ihn Staatspräsident Cossiga 1986 zum «Ritter der Arbeit» geschlagen hat. (Bild: Imago)

Wer verstehen will, wie das alles kam, der muss nach Agordo fahren, in die Weltmetropole der (Sonnen-)Brillen; auch ein Ort, den keiner kennt. Der Weg führt ins Veneto, genauer: in die Provinz Belluno, wo sich Agordo hinter 2800 Meter hohen Ausläufern der Dolomiten versteckt. Der Talboden ist knapp zwei Kilometer breit, getrennt durch einen Fluss. Auf der rechten Seite liegt die Gemeinde mit ihren 4200 Einwohnern, auf der linken die 300 Meter lange und vierstöckige Fabrik mit 4500 Angestellten: das «Herz» des Luxottica-Imperiums, wie der Patron es nennt; der Ort, wo alles begann. Beim Eingangstor steht ein fünf Meter hohes Modell des Ray-Ban-Klassikers «Wayfarer», etwas weiter hinten ein etwas verloren wirkendes einstöckiges Privathaus mit verriegelten Fensterläden; es ist das alte Domizil des Patrons, das er aus Nostalgie nicht abreissen liess. Leonardo Del Vecchio wohnt schon lange in Monaco, seine Luxottica Holding zahlt die Steuern in Luxemburg, doch so ziemlich jeder der 4200 Agordiner versichert, wie sehr er an Agordo hänge, nicht zuletzt der Cavaliere selber.

Zuckerberg war hier

Der alte Herr, meistens im eleganten Anzug, selten mit Sonnenbrille, pflegt im Helikopter ins abgelegene Tal zu fliegen, das letzte Mal Mitte Mai. Vorausgeschwirrt war ihm das Gerücht, er werde diesmal Cristiano Ronaldo mitbringen. Doch nicht der Weltfussballer stieg aus dem Heli, sondern Mark Zuckerberg. Der Gründer von Facebook, der altersmässig Del Vecchios Enkel sein könnte, war persönlich hergekommen, um sich zwei Stunden lang die womöglich modernste Brillenfabrik der Welt zeigen zu lassen. Was immer sich hier digitalisieren lässt, wird auch digitalisiert.

Der amerikanische Präsident John F. Kennedy (1917-1963) bei einem Segelausflug 1962. (Bild: Alamy)

Der amerikanische Präsident John F. Kennedy (1917-1963) bei einem Segelausflug 1962. (Bild: Alamy)

Dass Luxottica längst Pläne für die Zeit hegt, wenn Brillen auch Bildschirme sind, hat Del Vecchio bereits 2014 angedeutet, als er eine Partnerschaft mit Google zur Entwicklung von Google Glass unterschrieb.

Ein Fabrikbesuch? «Geht nicht, aus Sicherheitsgründen», heisst es in der Firmenzentrale auf Anfrage der NZZ, «vielleicht irgendwann später.» Selbst die Mitarbeiter sind zugeknöpft, die man vor dem Fabriktor antrifft. «Ich darf nichts sagen ohne Einwilligung der Vorgesetzten», sagt ein junger Mann im blauen Firmen-T-Shirt; «sorry, ich muss gleich auf den Firmenbus», meint eine ältere Frau; nur der gutgelaunte Torwächter versichert, es sei eine tolle Firma, sogar das Essen in der Kantine sei grossartig.

Mit dem Cavaliere zu reden, ist ohnehin «unmöglich», so die Zentrale. Leonardo Del Vecchio scheut die Öffentlichkeit, und die Medien meidet er erst recht. Er hat zwar dreimal geheiratet (wovon zweimal die gleiche Frau), er hat sechs Kinder und eine Jacht, die gewiss nicht kleiner ist als jene von Berlusconi, und trotzdem schafft es der Cavaliere irgendwie, sich aus den Millionen italienischer Klatschhefte herauszuhalten. Ein Blender ist dieser Brillenkönig nicht.

Die Karriere einer Halbwaise

Ihren Anfang nahm diese italienische Halbwaisenkarriere im Jahr 1935. Leonardos Vater, der aus dem tiefsten Süden stammte, schlug sich in Mailand als Gemüseverkäufer durch und starb, noch bevor sein vierter und jüngster Sohn auf die Welt kam. Die Verhältnisse in den Kriegsjahren waren so prekär, dass ihn seine Mutter in ein Waisenhaus geben musste. Es war Leonardos Glück, dass er dort mit 14 Jahren einen Beruf erlernen konnte: Graveur. Der talentierte Del Vecchio gravierte zehn Jahre lang Medaillen und Pokale und machte sich schon früh selbständig. Nach Agordo kam er, als das Dorf im Koma lag. Die meisten Minen in den Belluneser Dolomiten hatten geschlossen, die arbeitslosen Jungen mussten auswandern, manche als Gelatieri nach Deutschland, viele als Industriearbeiter in die Schweiz. Die Gemeinde lockte derweil neue Firmen an, indem sie ihnen gratis Bauland gab. Einer, der zugriff, war Leonardo Del Vecchio, damals 23. Mit einem kleinen Lastwagen und seiner Familie zog er hierher, 1961 gründete er Luxottica mit 14 Arbeitern und begann als Zulieferer für andere Betriebe in der Region. Viele dieser Firmen stellten Brillen her, ein Metier, das sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Provinz Belluno etabliert hatte.

Doch für den Rest seines Lebens nur Teilchen von Brillenbügeln für andere zu produzieren, das passte nicht zu den Ambitionen dieses Mannes, der seine Arbeit morgens um drei begann und keinen Sonntag kannte. Man sollte sich nicht täuschen lassen vom sanftmütigen Blick des Cavaliere, der Mann kann unerbittlich sein. «Bei uns gab es keine Küsse und nie Umarmungen. Ganz ehrlich, wir hatten Angst vor ihm», liess sich seine älteste Tochter Marisa in einer Biografie über ihren Vater vernehmen, die 1991 zum 30-Jahre-Firmenjubiläum erschien. (Die Broschüre ist vergriffen, hier wird sie aus dem «Guardian» zitiert.)

1971 präsentierte Del Vecchio erstmals seine eigene Brillenkollektion an der führenden Mailänder Messe Mido und kam damit endlich weg von der verhassten Rolle des kleinen Zulieferers, der von den Launen der grossen Produzenten und Händler abhing.

Aber das war erst der Anfang. Der Graveur und Autodidakt mit minimaler Schulbildung sollte im Laufe der nächsten Jahrzehnte ein globales Unternehmen formen, das heute als Lehrbeispiel für «vertikale Integration» gilt. Das heisst, Luxottica entwirft, produziert und verkauft ihre Brillen selber, schaltet dadurch den Zwischenhandel aus und behält so die Kontrolle über jeden Schritt bis hin zum einzelnen Kunden. Heute gehören Luxottica weltweit 9100 Läden in 150 Ländern, worin sie ihre eigenen Marken pushen und jene der Konkurrenz aussperren kann, ganz nach Belieben.

Meg Ryan und Val Kilmer im Film «The Doors» des Regisseurs Oliver Stone aus dem Jahr 1991. (Bild: Alamy)

Meg Ryan und Val Kilmer im Film «The Doors» des Regisseurs Oliver Stone aus dem Jahr 1991. (Bild: Alamy)

Die eigene Kollektion war durchaus erfolgreich, doch wirklich gefunkelt hat der Name Luxottica nie. Deshalb brauchte Del Vecchio bessere, nein, die besten Brands, und der erste war gleich Armani. Es war eine frühe Fusion von Technik mit Lifestyle, als der weitsichtige Cavaliere sich 1988 mit dem Mailänder Modeschöpfer darauf einigte, Sonnenbrillen unter dem Label Armani zu produzieren. Es wurde ein riesiger Erfolg (und Giorgio Armani überdies Aktionär bei Luxottica mit einem Anteil von 5 Prozent). Auf Armani folgte ein Modebrand nach dem andern. Alle wollten nun coole Brillen bei Del Vecchio produzieren lassen. Unterdessen sind es 30 Labels, die Del Vecchio sich für Hunderte von Millionen Euro gesichert hat.

Dieses rasante Wachstum wäre nie möglich gewesen, hätte Del Vecchio sich nicht gleichzeitig eigene Verkaufskanäle gesichert. Bereits 1974 kaufte er seine erste italienische Grosshandelskette, und vor allem schlug er in Amerika zu, das er früh als bedeutendsten Markt für Luxottica erkannte. (Heute setzt man 58 Prozent der gesamten Produktion in Nordamerika ab, hingegen nur 21 Prozent in Europa.) Zehn Jahre bevor er Luxottica in Mailand an die Börse brachte, tat er dies 1990 bereits in New York; ein «ziemlich verrückter Schritt» für ein italienisches Mittelstandsunternehmen, was es damals noch war, wie der «Guardian» einen Manager von Luxottica zitierte. Für insgesamt 1,8 Milliarden Dollar kaufte Del Vecchio die beiden dominanten Retailer im amerikanischen Brillenmarkt, zunächst LensCrafters, dann Sunglass Hut, die zusammen fast 3000 Filialen in den USA und Kanada betreiben.

Ray Ban, made in Agordo

1999 dann der nächste clevere Zug des Cavaliere: der Kauf von Ray Ban. Die amerikanischen Besitzer hatten den weltberühmten Brand für Sonnenbrillen gründlich heruntergewirtschaftet, indem sie zum Beispiel ihre legendäre Pilotenbrille «Aviator», mit der sich reihenweise Präsidenten, Generale und Filmstars geschmückt hatten, für 19 Dollar an Tankstellen verramschten. Die Qualität der Brillen war lausig, als Del Vecchio 1999 die kriselnde Traditionsmarke für 645 Millionen Dollar übernahm – und Ray Ban gleich einmal aus 13 000 amerikanischen Verkaufsstellen zurückzog. Nach einem guten Jahr war Ray Ban wieder da – aber nicht mehr «made in U.S.A.», sondern made in Agordo bzw. «made in Italy». Wenn dies draufstehe, dann sei es auch ganz und nicht nur zum Teil dort gemacht worden, versichert Luxottica. 43 Prozent aller Brillen werden ausschliesslich in Italien produziert, der Rest in den USA, Brasilien, China, Japan und Indien.

Die Qualität von Ray Ban ist wieder deutlich gestiegen, aber noch viel deutlicher der Preis. Eine «Aviator» kostet nicht mehr 19 Dollar, sondern im Durchschnitt 150 Dollar, und trotzdem kaufen die Kunden Millionen davon. Seit dem Jahr 2000 hat Luxottica den Umsatz mit Ray Ban mehr als verzehnfacht, unter anderem deshalb, weil sie ihre wichtigste und rentabelste Marke heute auch als Lese- und nicht mehr nur als Sonnenbrille anbietet. Die Marge dürfte formidabel sein, wie ein Schweizer Brancheninsider meint, der die Herstellungskosten einer «Aviator» auf 10 Prozent des Verkaufspreises schätzt, also rund 15 Dollar.

2007 riss sich der Cavaliere auch noch Oakley unter den Nagel, Amerikas führenden Hersteller von Sport-Sonnenbrillen. Seine Besitzer hatten sich zunächst verzweifelt gegen eine Übernahme gestemmt, bis Luxottica kurzerhand alle Oakley-Brillen aus allen Sunglass-Hut-Filialen verbannte, worauf Oakley an der Börse abstürzte und reif für die unfreundliche Übernahme wurde, die auch so noch 2,1 Milliarden Dollar kostete.

Ein Monopolist?

Luxottica ist längstens eine Walze, so gross und mächtig, dass manche ihrer Konkurrenten unterdessen über ein faktisches Monopol klagen, wodurch man Preise und Lieferbedingungen diktieren könne. «Viele unabhängige Schweizer Geschäfte machen die Faust im Sack und bestellen dann trotzdem bei Luxottica, weil sie nicht um diese Marken herumkommen», sagt der Schweizer Brancheninsider.

Das Unternehmen weist diese Kritik weit von sich mit dem Hinweis, dass ihm gerade einmal 30 von rund 1400 Marken gehörten und man weltweit nicht mehr als 10 Prozent aller Brillen produziere. Der grosse Rest ist ein Meer von Billigprodukten, Fakes und Kleinstmarken. Selbst in Agordo kann man beim Chinesen in der hintersten Ecke des Einkaufszentrums eine namenlose Sonnenbrille «made in China» für 4 Euro kaufen. Bei den mittel- und hochpreisigen Marken hingegen ist Luxotticas Macht erdrückend. In den USA dominiert die Firma mit ihren Tausenden eigener Optikfilialen ohnehin. Aber auch in der Schweiz, so die Schätzung eines unabhängigen Branchenexperten, hält Luxottica einen Anteil in diesem Sektor von mindestens 50 Prozent, obwohl sie hierzulande nicht über ein eigenes Filialnetz verfügt wie in den USA, China, Japan, Italien usw. Noch nicht.

Wer eine andere Brille als eine von Luxottica haben will, der kann in Agordo auch zu Roberto gehen, einem der beiden Optiker vor Ort, der im weissen Kittel in seinem kleinen Laden steht und vehement die Vorzüge der kleinen Brillenproduzenten preist. Dabei klingt er wie ein Slow-Food-Koch, der über Nestlé redet. Roberto ist seit fünfzig Jahren stolzer Optiker und hat erlebt, wie Hunderte kleiner Betriebe in der Region eingegangen sind, oft geschluckt von Luxottica. Er selber habe treue Kundschaft bis nach Mailand, die keine Nullachtfünfzehn-Ware wolle, früher habe auch der Cavaliere seine Lesebrillen bei ihm gekauft. Aber heute, da er bald alle Marken aufgekauft habe, habe man sich «ein bisschen entfremdet». Die letzten Kleinen werben in den Optikerläden von Belluno mit den Sätzen: «Es sind nicht die Zahlen, die einen Betrieb gross machen. Es sind die Menschen und ihre Werte.» Das findet selbstverständlich auch Roberto. Anderseits, so räumt er ein, «wird der Cavaliere menschlich sehr respektiert, auch von mir».

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Flugshow im Sommer 2017 in der Nähe von Moskau. (Bild: Alexey Nikolsky / Keystone)

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Flugshow im Sommer 2017 in der Nähe von Moskau. (Bild: Alexey Nikolsky / Keystone)

Wer viel Glück hat, sieht ihn unter dem Jahr mit einem seiner Söhne oder Enkel in der Dorfbar Kaffee trinken. Sicher aber zeigt sich der Cavaliere jeweils im Dezember kurz und fast scheu auf der Bühne der von ihm finanzierten Gemeinschaftshalle am Dorfrand, wo er seiner Belegschaft frohe Weihnachten und ein gutes Jahr wünscht. Daraufhin sorgen Stars wie Robbie Williams für Stimmung, die er fürs jährliche Firmenfest einfliegen lässt.

Die Insel der Glückseligen

Es gibt ja auch einiges zu feiern. Agordo ist eine Insel der Glückseligen in diesem Land, das nicht aus der Krise kommt. In Italien liegt die Arbeitslosigkeit bei 10,6 und jene der Jungen bei rund 30 Prozent; in der Region Belluno ist sie bei 4,4 Prozent und in Agordo noch tiefer. Hier findet jeder Arbeit, der will. Es gibt reihenweise Familien, in denen Eltern wie Kinder für Luxottica arbeiten.

Seinen 11 000 italienischen Festangestellten – nicht nur in Agordo, sondern an allen fünf Produktionsstandorten in Belluno und in Piemont – bietet der Cavaliere seit 2009 ein «welfare aziendale», ein Wohlfahrtsprogramm, von dem der Rest des serbelnden Landes nur träumen kann. Doch es ist tatsächlich wahr, was die Firma verspricht, wie Claudia versichert, eine langjährige Luxottica-Angestellte, die wir nach Feierabend zum Gespräch in einer Bar treffen. Überdurchschnittlicher Lohn, jährliche Gewinnbeteiligung (2018 rund 3000 Euro), Kosten für Arzt- und Zahnarztbesuche übernimmt die Firma, das Geld für die Schulbücher der Kinder ebenfalls; das gute Essen in der Kantine ist gratis, der Fitnessklub genauso wie das Ferienlager für die Kinder der Angestellten, und zu Weihnachten erhalten alle einen Lebensmittelgutschein für 110 Euro; wer einen Kredit braucht, bekommt ihn von der Firma zu Vorzugszinsen, und nicht zuletzt darf jeder Mitarbeiter pro Jahr zwei Modelle aus eigener Fabrikation zum halben Preis bei Valentino kaufen, dem Luxottica-Optiker in Agordo.

Auch die Gewerkschaften können ihr Glück mit diesem Patron kaum fassen. Eben erst hat er einen verbesserten Gesamtarbeitsvertrag für die Belegschaft akzeptiert und 1150 temporär Beschäftigte bessergestellt. In einer seiner seltenen öffentlichen Stellungnahmen liess sich Del Vecchio so dazu zitieren: «Ich bin mit dieser neuen Vereinbarung zufrieden, da sie auf ein einfaches Konzept abzielt: Je aufrichtiger und voller der Respekt für den Arbeitnehmer, desto höher sind die Qualität seines Beitrags und seine Erfahrung im Unternehmen. Die Würde der Arbeit, ihre Stabilität, die ständige Aufmerksamkeit für die Familien, die Bedürfnisse und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben unserer Mitarbeiter sind alles Aspekte, in die wir weiterhin investieren werden, um das emotionale Engagement und den Sinn für die Arbeit zu fördern.»

Der neue Bürgermeister von Agordo kann ebenfalls nur das Beste über den Cavaliere berichten, obwohl er erst seit vierzehn Tagen im Amt ist und «leider noch nicht die Ehre hatte, ihn persönlich kennenzulernen». Anfang der achtziger Jahre, erinnern sich ältere Agordiner, habe Leonardo Del Vecchio selber hier Bürgermeister werden wollen – und sei prompt nicht gewählt worden. Seither ist der Cavaliere geheilt von allen politischen Ambitionen, vielleicht zum Pech des Landes, sicher zum Glück von Agordo, das seit Jahrzehnten von Parteiunabhängigen regiert wird und den Cavaliere in der Zwischenzeit zum Ehrenbürger ernannt hat. Von den etablierten Parteien hält sich Del Vecchio fern und ganz besonders vom anderen Cavaliere, Berlusconi. Nach den Wahlen von 2014 sagte er einmal spitz: «Grillo als Ministerpräsident? Warum nicht? Ich glaube nicht, dass er dümmer als die Bisherigen wäre.» Leonardo Del Vecchio, skandalfrei seit 50 Jahren und nie im Geruch der Korruption, wirkt geradezu wie ein Anti-Berlusconi. «Ich bin der Beweis dafür, dass man in Italien Geld verdienen und ehrlich zugleich sein kann», soll der Patron einmal gesagt haben.

Die rosa Brille von Elton John

Der treuste Gefährte, der seit einem halben Jahrhundert an seiner Seite steht, ist Luigi Francavilla, Vizepräsident von Luxottica. Ihn hatte Del Vecchio 1968 von der Maschinenfabrik Bühler in Uzwil abgeworben und als Werkstattchef nach Agordo geholt, wo Francavilla, 82, noch heute mit seiner Schweizer Frau lebt. Für ein Gespräch ist auch er, so zugeknöpft wie sein Chef, nicht zu haben. Immerhin führt seine freundliche Tochter Caterina Francavilla durch das vom Patron gestiftete Museum der Optik in Agordo. Die Tour führt von Exemplaren aus dem 17. Jahrhundert bis zu einem Original von Elton John mit rosa Gläsern.

Brillen, das wird rasch offensichtlich, waren schon früh weit mehr als ein sperriges Vehikel gegen Sehschwäche. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Mode für Sonnenbrillen so richtig grosses Kino. Kennedy, Audrey Hepburn, Onassis, Lagerfeld, Sophia Loren, die Blues Brothers, sie und Hunderte mehr machten ihre Sonnenbrillen zu Kultobjekten.

Elton John bei einem Auftritt am Montreux Jazz Festival am 29. Juni 2019. (Bild: Denis Balibouse / Reuters)

Elton John bei einem Auftritt am Montreux Jazz Festival am 29. Juni 2019. (Bild: Denis Balibouse / Reuters)

Luxottica hat bisher mehr als 4500 Modelle für alle ihre Labels hergestellt. In zehn «Designer Labs» zwischen Los Angeles, Agordo und Hongkong werden laufend neue Modelle kreiert, von leicht modifizierten Klassikern bis zu handbemalten Kleinsteditionen für Dolce & Gabbana, die 4000 Euro pro Stück kosten und trotzdem sofort ausverkauft waren. Man richtet sich stets auf die regionalen Märkte aus, denn die Geschmäcke sind nicht überall die gleichen und auch nicht die Nasen, auf die ein Modell passen soll. (Japaner haben andere Nasen als Schweizer.)

Das Comeback des Cavaliere

Die Aussichten sind für den Brillengiganten glänzend, denn die Statistik zeigt, dass die Menschheit immer kurzsichtiger wird, wohl auch deshalb, weil wir immer älter werden, immer länger auf Bildschirme schauen und uns immer häufiger drinnen, also im Kunstlicht aufhalten. Sind sie draussen, leisten sich immer mehr Leute lieber echte und nicht gefälschte Ray Bans oder Oakleys (was Luxottica bei jedem Exemplar mittels eines eingebauten Codes überprüfen kann).

Dennoch fragen sich viele Agordiner, was mit ihrer Fabrik passieren wird, wenn der Cavaliere einmal nicht mehr ist. Bereits 2004, im Alter von 69 Jahren, hat er sich ein erstes Mal von der operativen Führung auf das Präsidium von Luxottica zurückgezogen. Weil er die Nachfolge offenbar keinem seiner sechs Kinder zutraut, stellte er einen CEO nach dem andern ein, doch fast jeder war rasch wieder draussen. So übernahm der alte Patriarch 2014 – mit fast 80 Jahren – zur allgemeinen Verblüffung erneut das Steuer, weil er fand, nur er könne den letzten, ultimativen Schritt zur vertikalen Integration vollziehen und damit den Schlusspunkt in seinem Lebenswerk setzen, das ihn selber überdauern soll: die Fusion mit der französischen Essilor.

Die Verhandlungen mit dem führenden Brillenglasproduzenten zogen sich drei Jahre hin, weil nie wirklich klar war, wer das Sagen haben würde, der Cavaliere oder die Franzosen. Erst 2017 klappte der Megadeal der beiden Nummern 1 – mit Del Vecchio als Chef. Trotzdem kam es zu einem «Brillenkrieg» mit den Franzosen, wie die italienischen Medien schrieben. Und der Cavaliere, einzigartig in seinem langen Unternehmerleben, gab im März 2019 einer Zeitung (dem «Figaro») ein gepfeffertes Interview, worin er den CEO von Essilor scharf attackierte, weil dieser die Vereinbarungen nicht einhalte. Er gelangte sogar mit einer Beschwerde an die Internationale Handelskammer in Paris. Die zog er zwei Monate später zurück, doch die definitive Nachfolge Leonardo Del Vecchios scheint noch immer nicht geregelt.

«Ach», sagt derweil die alte Zeitungsverkäuferin in Agordo, die schwört, sie habe ihn erst vor ein paar Tagen auf der Piazza gesehen, «es ist einfach die grosse Liebe zwischen ihm und Agordo. Ich bete weiterhin jeden Tag für ein langes Leben des Cavaliere.»

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