Die EU wolle gegenüber Grossbritannien ein Exempel statuieren und treibe die Kosten des Austritts in die Höhe, sagt Ökonom Gabriel Felbermayr: Grossbritanniens Premierministerin Theresa May am G-20-Gipfel in Hamburg, Juli 2017. (Bild: Wolfgang Rattay / Reuters)

Die EU wolle gegenüber Grossbritannien ein Exempel statuieren und treibe die Kosten des Austritts in die Höhe, sagt Ökonom Gabriel Felbermayr: Grossbritanniens Premierministerin Theresa May am G-20-Gipfel in Hamburg, Juli 2017. (Bild: Wolfgang Rattay / Reuters)

Interview

«Um die EU muss man sich gewaltige Sorgen machen»: Der Ökonom Gabriel Felbermayr fürchtet nach dem Brexit einen gewaltigen Machtzuwachs in Brüssel

Der neue Chef des renommierten Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, plädiert für zwei Klubs in Europa: für einen inneren, der sich auch politisch integriert, und einen äusseren, der vor allem am wirtschaftlichen Teil interessiert ist. Letzterer wäre auch etwas für die Schweiz oder Grossbritannien.

Christoph Eisenring, Berlin
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Herr Felbermayr, ist Europa dank der EU ein wohlhabender Kontinent?

Das ist definitiv so. Es gibt viele Studien, die versuchen, die Wirkungen des Binnenmarktes, der Zollunion, der Währungsunion oder des Schengen-Abkommens abzuschätzen. Der Befund ist eindeutig: Das Pro-Kopf-Einkommen wäre deutlich geringer, wenn es diese Institutionen nicht gäbe.

Und welcher Integrationsschritt ist dabei der wichtigste?

Das ist eindeutig der Binnenmarkt, weil er sich auch auf Dienstleistungen erstreckt und weil er nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigt hat.

Wenn wir an die vier Grundfreiheiten denken, also freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Personenfreizügigkeit: Gehören diese untrennbar zusammen?

Nein, das ist vor dem Hintergrund der Handelstheorie und der Empirie nicht nachvollziehbar. Wer das behauptet, argumentiert dogmatisch. Die Grundfreiheiten sind zum Teil austauschbar.

Wie meinen Sie das?

Ich kann auf Arbeitsleistungen der Ausländer zugreifen, indem ich Waren importiere, die im Ausland produziert wurden, oder ich kann die Arbeitskräfte ins Land holen, und die Waren werden hier produziert. Es ist allerdings schon so, dass dort, wo mehr Migration stattfindet, auch der Handel stärker ist.

«Auch ohne Personenfreizügigkeit erreicht man laut unseren Schätzungen mit dem freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr 80 bis 85% der Wohlfahrtsgewinne.»

Wenn ich somit den Handel von Waren und Dienstleistungen gänzlich liberalisiere, bringen die Personenfreizügigkeit und der freie Kapitalverkehr gar nicht mehr so viel?

Bei der Kapitalmobilität darf man nicht vergessen, dass damit oft ein Technologietransfer verbunden ist, der zentral ist. Aber die ökonomische Theorie hat einen wahren Kern: Je stärker man die Gütermärkte integriert, umso niedriger sind die zusätzlichen Vorteile, die man erzielt, wenn die Produktionsfaktoren mobil sind. Man hat zwar höhere Integrationsgewinne, wenn man alle vier Freiheiten realisiert. Aber zu sagen, es gibt nur vier Freiheiten oder gar keine, ist Unsinn. Denn auch ohne Personenfreizügigkeit erreicht man laut unseren Schätzungen 80 bis 85% der Wohlfahrtsgewinne. Dass man den Briten androht, sie müssten auf die anderen drei Freiheiten verzichten, wenn sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht akzeptieren, ist falsch.

Was folgt aus dieser Erkenntnis?

Wenn man sagt, die EU-Bürger sollen dort arbeiten können, wo sie wollen, ist das etwas anderes, als wenn man gleichzeitig den vollen Zugang ins jeweilige Sozialsystem fordert. Die Kritik entzündet sich in Grossbritannien oder auch in der Schweiz vor allem an Letzterem. Wenn Migration durch die Grosszügigkeit des Sozialsystems ausgelöst wird, schafft dies keinen Mehrwert.

Die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie würde in der Schweiz dazu führen, dass EU-Ausländer leichteren Zugang zur Sozialhilfe hätten als mit dem derzeitigen Freizügigkeitsabkommen. Die EU möchte gegenüber der Schweiz ihre Linie durchsetzen. Ist das klug?

Eine wichtige Frage lautet, wo das politische Europa endet. Und: Kann das wirtschaftliche Europa über das politische Europa hinausgehen? Wenn die Schweiz und Grossbritannien möglichst stark ökonomisch integriert sein wollen, sollte man eben zwei Klubs bilden. Einen Klub, in dem politische und wirtschaftliche Integration miteinander einhergehen, und einen äusseren, in dem es nur um wirtschaftliche Integration geht.

Was wäre der Unterschied zwischen den beiden Klubs?

Der äussere Klub müsste gewisse Abstriche machen, etwa wenn es um die Anerkennung von Ausbildungswegen geht oder um Wettbewerbs- und Regulierungsfragen, die auch politische Entscheide benötigen. Der äussere Klub könnte damit nicht alle ökonomischen Vorteile der politischen Integration mitnehmen, behielte aber auch mehr Souveränität.

«Der Nutzen uniformer Regeln im Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalbereich ist sehr hoch. Dies stimmt aber nicht für das Sozial-, Arbeits- und Steuerrecht.»

Aber zurück zum Sozialbereich: Sollte die EU hier auf einheitliche Regeln auch für den «äusseren Klub» beharren?

Die EU sollte dies nicht tun. Aber letztlich ist das Verhandlungssache. Und natürlich hat Brüssel Anreize, die eigene Macht und den eigenen Einfluss möglichst auszudehnen.

Aber was raten Sie als Ökonom?

Da würde ich sagen, dass der Nutzen uniformer Regeln im Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalbereich sehr hoch ist. Dies stimmt indes nicht für das Sozial-, Arbeits- und Steuerrecht, auch innerhalb der EU. Warum sollen die Länder nicht selber entscheiden, wie lange eine Arbeitswoche maximal dauern darf oder wie viele Ruhezeiten es gibt? Politisch will die EU die Harmonisierung im Arbeits- und Sozialbereich möglichst ausdehnen, um den Wettbewerb zwischen den Staaten zu disziplinieren. Das ist traditionell ein französisches Anliegen.

Der 43-jährige Gabriel Felbermayr leitet seit März das renommierte Kieler Institut für Weltwirtschaft. (Bild: Michael Stefan)

Der 43-jährige Gabriel Felbermayr leitet seit März das renommierte Kieler Institut für Weltwirtschaft. (Bild: Michael Stefan)

In welche Richtung wird sich die EU entwickeln, wenn die Briten austreten?

Da muss man sich gewaltige Sorgen machen. Die Europäer und insbesondere die Deutschen sind sich überhaupt nicht bewusst, was da passiert. Wenn sich die zweitgrösste Volkswirtschaft der EU verabschiedet, die noch am ehesten ein Garant für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ist . . .

. . . wonach eine Aufgabe möglichst nah beim Bürger anzusiedeln ist . . .

. . . verschieben sich die Machtverhältnisse gehörig. Das neue Europa wird zentralistischer sein, mit einer grösseren Gestaltungsmacht Brüssels.

Weshalb ist das der Fall?

Die EU will gegenüber Grossbritannien ein Exempel statuieren und treibt die Kosten des Austritts in die Höhe. Grossbritannien hat durch die ganze Unsicherheit über einen harten Brexit seit 2016 schätzungsweise 2,5% der Wirtschaftsleistung verloren. Wenn ein Austritt für die zweitgrösste Volkswirtschaft schon so kostspielig ist, wie viel teurer wäre er dann für kleinere Staaten wie Dänemark, Tschechien oder Österreich? Eine harte Brexit-Strategie macht das Einfordern von nationalen Spielräumen teurer. Das hat niemand auf dem Radar, und das macht mir Sorgen.

Was müsste sich in der EU ändern?

Wenn man das EU-Budget ansieht, gehen 40% in die Landwirtschaft. Es gibt keinen einzigen guten Grund, dass das auf der zentralen Ebene angesiedelt werden muss. Es widerspricht dem Subsidiaritätsprinzip.

Erfordert der Binnenmarkt nicht eine europäische Landwirtschaftspolitik?

Der Binnenmarkt erfordert gewisse gemeinsame Regeln, etwa in der Hygiene und Produktsicherheit. Wie hoch die Direktzahlungen an Bergbauern in Bayern oder Tirol sind, sollte dagegen den Regionen überlassen bleiben.

Sehen Sie auch zusätzliche Aufgaben für die EU?

Alles, was mit dem Euro zu tun hat, müssen wir überdenken. Es gibt zwar eine gemeinsame Währung, aber keine passende institutionelle Absicherung dazu. Das ist instabil. Rein auf Marktdisziplin zu setzen, erfordert die No-Bail-out-Klausel. . .

. . . dass ein Staat nicht durch die anderen gerettet werden darf . . .

. . . die aber in der Vergangenheit nicht durchhaltbar war. Eine wichtige Massnahme wäre, dass Banken in ihren Bilanzen auch Staatsschulden je nach Bonität mit Eigenkapital unterlegen müssen. Die Banken würden dann vorsichtiger, Staatsanleihen auf ihre Bücher zu nehmen, und die Gefahr einer gegenseitigen Ansteckung von Banken und Staaten nähme ab.

«Eine europäische Arbeitslosenversicherung würde die Reformbemühungen derjenigen, die schlechte Institutionen haben, erlahmen lassen.»

Aber alleine mit dem Hinterlegen von Staatsanleihen mit Eigenkapital wird die Euro-Zone doch noch nicht stabil.

Deshalb braucht es so etwas wie einen Währungsfonds für die Euro-Zone. Ganz ohne Versicherung wird es nicht gehen. Der Selbstbehalt sollte jedoch hoch genug sein, so dass die Motivation für Reformen nicht erlischt. Es gäbe Finanzhilfen nur unter strengen Auflagen.

Und abgesehen vom Euro?

Die EU-Staaten sollten ihre Aussengrenzen gemeinsam schützen. Es würde helfen, wenn Flamen, Bayern oder Tschechen am Abend in den Nachrichten sähen, dass ihre Landsleute die Grenzen der EU in Rumänien oder Bulgarien bewachen. Ein wichtiges Projekt wären zudem die transnationalen Netze. Deutschland ist zum Beispiel hoffnungslos in Verzug mit dem Ausbau von Zubringerstrecken bei den Bahnen, nicht nur gegenüber der Schweiz, sondern auch gegenüber Italien und Österreich mit dem Brenner-Basistunnel. Auch europäische Korridore im Strom- oder Energiebereich sind ungenügend ausgebaut.

Das tönt ziemlich technokratisch, eine «europäische Identität» stiftet das nicht?

Man könnte auch über europäische Universitäten nachdenken. Ich habe am europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert. Das ist eine Institution, wo sich ganz Europa trifft.

Das wäre aber ein ausgesprochenes Eliteprojekt.

Das stimmt, aber wenn es allen offensteht, die sich aufgrund ihrer Leistungen dafür qualifizieren, kann man diesem Gefühl entgegenwirken. Wenn wir Geld in die Hand nehmen und Spitzeninstitute schaffen, kann dadurch ein Mehrwert für die Bürger entstehen. Der Schweizer Bundesstaat hat ja auch die ETH und die EPFL gegründet, die weltweit spitze sind und auf die das Land stolz ist.

Wie steht es mit Transfers innerhalb der Währungsunion? In den USA puffert etwa eine einheitliche Arbeitslosenversicherung Schocks in einzelnen Gliedstaaten ab.

In den EU-Ländern ist die Qualität der Institutionen sehr unterschiedlich. Das erklärt, warum die Wirtschaftsleistung in manchen Ländern hoch, in anderen niedriger ist. Wir können nicht so tun, als hätten Griechenland und Italien immer Pech, die Niederlande und Deutschland immer Glück. Versicherungen sind gut bei zufälligen Schocks. Die sind aber nicht das Problem. Eine europäische Arbeitslosenversicherung würde die Reformbemühungen derjenigen, die schlechte Institutionen haben, erlahmen lassen.

Sehen Sie den Euro als Erfolgsgeschichte oder als Spaltpilz?

Handelsökonomen haben sich gefreut, dass man dank dessen Einführung eine höhere Preistransparenz bekommt und die Transaktionskosten sinken.

Aber offensichtlich sind die Länder nicht bereit, so viel Souveränität abzugeben, dass der Währungsraum auch funktioniert.

Es gibt in der EU grosse philosophische Unterschiede. Staatsfinanzierung via Notenpresse ist undenkbar in den nördlichen Euro-Staaten, aber für Länder im Süden und auch für Frankreich tönt das nicht ganz so verboten. Wie man mit dieser Spannung umgeht, ist das Kernthema der Euro-Krise überhaupt – und eine Lösung ist nicht in Sicht.

Der Globalisierungsgewinner

cei. · Gabriel Felbermayr empfängt zum Gespräch im Foyer eines Low-Budget-Hotels vis-à-vis des Berliner Hauptbahnhofes. Eine Stunde später hat er einen Termin mit dem Wirtschaftsberater von Kanzlerin Merkel. Der 43-Jährige ist ein gefragter Experte, erst recht, seit er im März seine Stelle als Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) angetreten hat. Er kam aus München, wo er am Ifo-Institut das Zentrum für Aussenwirtschaft geleitet hatte. Seine Familie zieht in diesen Sommerferien von der Stadt an der Isar nach Hamburg, wo die Kinder eine französische Schule besuchen werden. Seine Frau ist Französin, er selbst wurde in Österreich geboren und hat in Linz Volkswirtschaft studiert. Schon in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit dem Zusammenhang zwischen Wachstum und internationalem Handel. Soeben hat sein Institut eine Studie vorgelegt, die den wirtschaftlichen Nutzen der europäischen Integration für die EU-Staaten auf jährlich 940 Mrd. € schätzt. Felbermayr ist jedoch mitnichten ein unkritischer Bewunderer der EU, wie im Gespräch immer wieder deutlich wird. Das IfW will er zur ersten Adresse für Fragen der Globalisierung machen.

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