Polen, Ungarn und Tschechien gehören zu den schärfsten Gegnern einer europäischen Flüchtlingspolitik und erleben gleichzeitig einen Migrationsboom. Das ist kein grundsätzlicher Widerspruch – aber der Graben zwischen Selbstbild und Realpolitik wird tiefer.
Polen, Ungarn und Tschechien hatten wenig Freude am Gutachten der Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Darin hält Eleanor Sharpston fest, die ostmitteleuropäischen Länder hätten ihre Pflichten als EU-Mitgliedstaaten verletzt und sich unsolidarisch gezeigt, indem sie sich weigern, die ihnen zugeteilte Quote von umgesiedelten Flüchtlingen aufzunehmen. Das Gutachten ist nicht bindend, doch folgen die Richter am EuGH oft den Empfehlungen der Generalanwälte. Tun sie dies, drohen den drei Ländern Strafzahlungen.
Der Konflikt um die Verteilung lähmt die Flüchtlingspolitik der EU bis heute. Dem umstrittenen Quoten-Beschluss des Europäischen Rats im Jahr 2015 folgte eine Klage Ungarns und der Slowakei vor dem EuGH, die zwei Jahre später abgelehnt wurde, praktisch zeitgleich mit dem Auslaufen des Quotensystems. Während die Slowakei den Richterspruch akzeptierte, zeigten sich die anderen drei Visegrad-Staaten uneinsichtig, was ihnen eine Klage der EU-Kommission einbrachte. Vor allem die rechtsnationalistischen Regierungen in Warschau und Budapest sträuben sich aus Prinzip gegen jede Europäisierung der Migrationsfrage und pochen auf ihre volle Souveränität.
Jaroslaw Kaczynski und Viktor Orban haben die Asylbewerber aus dem Nahen Osten zu einem Feindbild emporstilisiert, das für sie zur politischen Erfolgsgarantie geworden ist. Kaczynski meinte einst warnend, dass diese Parasiten und hochansteckende Krankheiten nach Europa bringen könnten, Ungarns Regierung lancierte eine millionenteure Kampagne, um vor Terror und bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu warnen. Die Betonung von Nation, Tradition und Christentum kommt bei der konservativen Wählerschaft an.
Entsprechend hart ist die asylpolitische Linie: Ungarn, das 2015 die Durchreise von fast 400 000 Migranten erlebte, hat 2018 noch 670 Asylanträge entgegengenommen. Um die Zahlen zu senken, hat Budapest nicht nur einen Grenzzaun gebaut, sondern schreckt auch nicht davor zurück, Asylbewerber mit Nahrungsentzug in Internierungslagern gefügig zu machen. In Polen und Tschechien ist die Zahl der Anträge nur minimal höher. Prag gewährte 2018 gerade einmal 47 Personen Asyl.
Dass sie etwas gegen ihr demografisches Problem machen müssen, verstehen aber auch die Rechtsnationalisten: Die Auswanderungswellen seit 1989 haben die Bevölkerungen dezimiert. Ungarn und Polen versuchen, mit teuren Förderprogrammen ihre Bürgerinnen und Bürger zum Kinderkriegen zu animieren, mit überschaubarem Erfolg. Gleichzeitig sucht die Wirtschaft händeringend nach Personal. In Ungarn etwa ist die Zahl der offenen Stellen innerhalb nur eines Jahres von 48 000 auf 80 000 gestiegen. Um sie zu füllen, braucht es auch Zuwanderung.
Dennoch überrascht, dass Polen 2018 das Land war, das innerhalb der EU die meisten neuen Aufenthaltsbewilligungen an Angehörige von Drittstaaten vergeben hat, nämlich 635 335. Das sind fast 100 000 mehr als Deutschland – bei einer Bevölkerung, die halb so gross ist. Auch Ungarn hat fast dreimal mehr Aufenthaltstitel vergeben als noch 2015, nämlich knapp 56 000. Tschechien, mit 10 Millionen Einwohnern etwa gleich gross wie Ungarn, holte 71 000 Menschen neu ins Land.
Der grösste Teil der Immigranten sind Ukrainer. In Polen macht die vor dem Krieg und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit geflohene Diaspora inzwischen fast eine Million aus, und auch in Ungarn stellten sie 2018 mit fast 17 000 neu Zugezogenen die grösste Ausländergruppe. Die Regierung in Warschau führt diese Migranten gern ins Feld, wenn sie behauptet, sie tue in der Flüchtlingsfrage bereits genug. Doch bei den allermeisten handelt es sich nicht um Verfolgte im Sinne der Genfer Konvention, sondern um Arbeitsmigranten. Sie sind inzwischen aus Polens Wirtschaft nicht mehr wegzudenken, vor allem in schlecht bezahlten Tätigkeiten im Dienstleistungssektor oder in der Landwirtschaft. Die Regierungspartei PiS hat letztes Jahr ein Gesetz verabschiedet, das Anreize für Migranten in den verschiedensten Sektoren setzen soll.
Ungarns und Tschechiens Migrationspolitik ist ähnlich stark wirtschaftlich getrieben – genauso wie jene der meisten anderen europäischen Länder, wo die moralisch begründete Aufnahme von Flüchtlingen jedoch höhere Priorität geniesst. Dazu kommt, dass sowohl Warschau als auch Budapest die Einwanderung von Menschen mit familiären Wurzeln im Land fördern. Im einst teilweise zu Polen gehörenden Vielvölkerland Ukraine sind das viele, und Orban hat in den letzten zehn Jahren die Vergabe von Pässen an eine Million ethnischer Ungarn vor allem aus Rumänien forciert.
Ein Grossteil bleibt jedoch nicht in den neuen «Heimatländern», sondern nutzt den EU-Pass zur Weiterreise nach Westen. Dazu kommt, dass dieses Modell an seine Grenzen stösst, denn das Arbeitskräftereservoir in den Nachbarländern ist fast erschöpft. Deshalb machen sich die Ostmitteleuropäer nun weiter im Osten auf die Suche – und vermehrt auch ausserhalb des europäischen Kontinents.
So vergab Polen 2018 mehr als 40 000 Arbeitsbewilligungen an Nepalesen, Bengalen und Inder. Tschechien verhandelt mit den Philippinen über ein bilaterales Arbeitsabkommen, und auch Ungarn setzt auf die Südostasiaten. In beiden Ländern gibt es zudem eine wachsende vietnamesische Gemeinschaft, die teilweise noch auf den Sozialismus zurückgeht und oft unter sehr schlechten Bedingungen arbeitet. Mit Stipendien lockt Ungarn inzwischen sogar Menschen aus dem arabischen Raum an.
Betrachtet man aber die demografischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, war dies nur der Anfang. Darauf vorbereitet wird die Bevölkerung nicht, was zu einem wachsenden Graben zwischen nationalistischem Selbstbild und realpolitischem Handeln führt. Die Behauptung, man hole nur christliche Einwanderer ins Land, wird jedenfalls schon arg strapaziert, und die ausländerfeindliche Rhetorik verträgt sich schlecht mit dem Image eines Einwanderungslands. Früher oder später werden sich Orban und seine Gesinnungsgenossen entscheiden müssen.