Der Fall des Wiener Frauenmörders Voigt beschäftigte den Schriftsteller Robert Musil (1880–1942) lange. Er hatte den Strafprozess genau verfolgt. Die Fotografie zeigt Musil an seinem Schreibtisch, vor dem 8. November 1935. (Bild: Hans Casparius / Alamy)

Der Fall des Wiener Frauenmörders Voigt beschäftigte den Schriftsteller Robert Musil (1880–1942) lange. Er hatte den Strafprozess genau verfolgt. Die Fotografie zeigt Musil an seinem Schreibtisch, vor dem 8. November 1935. (Bild: Hans Casparius / Alamy)

Wie Robert Musil einem Frauenmörder zu einer literarischen Karriere verhalf

Im Jahr 1910 brachte ein bereits zuvor wegen Mordes verurteilter Täter in Wien eine Frau auf fürchterliche Weise ums Leben. Der Mörder ging in die Kriminalgeschichte ein und ebenso in die Literaturgeschichte. Eine historische Spurensuche.

Karl Corino
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In den Jahren 1910 und 1911 machte in Wien ein Sexualmord Furore. Der aus Oberfranken stammende Zimmermann Christian Voigt (geboren 1878) hatte in der Nacht vom 13. auf den 14. August 1910 eine angeblich aufdringliche Gelegenheitsprostituierte erstochen und förmlich zerfleischt. In einer Art Blutrausch hatte der Täter dem Körper der Frau Dutzende von Messerstichen versetzt, die Brüste liessen sich fast abheben, ein tiefer Schnitt führte vom Bauch zwischen den Beinen hindurch bis in die Nierengegend.

Die Wiener Zeitungen troffen sozusagen von Blut, keines der Blätter liess sich den sensationellen Fall entgehen. Im Lauf der Untersuchungen stellte sich heraus, dass Voigt schon lange zuvor in Deutschland gemordet und deswegen mehrere Jahre in der Irrenanstalt Bayreuth verbracht hatte. Allerdings hatte er sich dort so gut geführt und sich so geschickt gegen seine Entmündigung verteidigt, dass man ihn 1909 als geheilt entliess.

Als Arbeiter bei der Donauregulierung war Voigt zunächst unauffällig, hatte eine anscheinend normale Liebesbeziehung zu einer Wiener Köchin, aber in diesem herkulischen Männerkörper schlummerte ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte. So in jener verhängnisvollen Augustnacht 1910.

Gesund oder irrsinnig?

Aufgrund der langen kriminellen Vorgeschichte Voigts und der schwierigen Sachlage dauerte das Ermittlungsverfahren rund eineinviertel Jahre. Wegen des eklatanten Widerspruchs zwischen Voigts natürlicher Intelligenz und den jähen Anfällen von Kontrollverlust zeigten sich die Gutachter überfordert, und man bat um eine Einschätzung durch die medizinische Fakultät der Universität Wien. Sie attestierte Voigt die volle Schuldfähigkeit. Nun konnte der Prozess beginnen. Die Schöffen folgten der Sentenz der Gelehrten, so war das Todesurteil unvermeidlich.

Voigt zeigte sich damit zufrieden, aber nachdem er immer auf seiner seelischen Gesundheit bestanden hatte, schrieb er in seinem Schlusswort den Richtern ins Stammbuch, sie hätten einen Irrsinnigen verurteilt.

Es blieben also letzte Zweifel am Gang der Gerechtigkeit, und Kaiser Franz Joseph fällte eine seiner nicht übertrieben zahlreichen weisen Entscheidungen. Er begnadigte Voigt am 22. Februar 1912 zu lebenslangem verschärftem Kerker. Voigt zeigte sich undankbar: Er hätte angeblich die Hinrichtung durch den Strang vorgezogen.

In überraschender philanthropischer Wendung formulierte etwa die «Illustrierte Kronen-Zeitung» die Hoffnung, die Leitung der Strafanstalt, in der Voigt seine Strafe verbüssen werde, möge es verstehen, das Potenzial des Häftlings zu nutzen, und sie solle die Strafe nicht dadurch verschärfen, dass er lebenslänglich Tüten kleben müsse.

Nach der Begnadigung wurde Voigt in die Provinzialstrafanstalt Garsten gebracht, ein ehemaliges Benediktinerkloster. Sie ist von Musils Kindheitsstadt Steyr nur wenige Kilometer entfernt. Vielleicht stand diese räumliche Nähe für jene seelische Nähe, die den Autor rund zwanzig Jahre mit seiner Figur verband. Denn es ist unbestreitbar: Der Sexualmörder Moosbrugger im «Mann ohne Eigenschaften» ist nach dem Vorbild Christian Voigts modelliert.

Musil, seit Anfang 1911 in Wien, hatte die Berichterstattung über den Prozess genau verfolgt und sechs Konvolute mit Zeitungsartikeln archiviert, aus denen er zum Teil wörtlich zitiert. Durch Kapitel wie «Moosbrugger tanzt» und «Moosbrugger denkt nach» ist Christian Voigt zu einer Figur der Weltliteratur geworden. Die Psychopathologie solchen Seelenlebens ist wohl in keinem zweiten Roman des 20. Jahrhunderts mit ähnlicher Genauigkeit geschildert worden.

Mörder und Dichter

Es gab eine eigenartige Parallelaktion. So, wie sich in Musil nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Vorstufen zum «Mann ohne Eigenschaften» bildeten – «Der Spion», «Der Erlöser», «Die Zwillingsschwester» –, so wurde auch Christian Voigt in seiner Garstener Einzelzelle zum Schriftsteller. Er hatte sich im Selbststudium nicht nur die Anfänge des Französischen, des Englischen, des Italienischen und des Lateinischen beigebracht, hatte nicht nur Philosophen wie Nietzsche und Schopenhauer gelesen, nein, er begann auch selbst zu dichten.

Der Journalist Hans Margulies brachte von einem Besuch in Voigts Garstener Einzelzelle folgende Verse mit nach Wien:

Die Galeere

Wir tragen die Ketten «legaler Ordnung»,
Die auch «sozial» und die «sittliche» heisst,
Wo der eine hungert und friert und jammert,
Der andere frohlockt und königlich speist.
Der eine mit Lumpen den Körper verhüllend,
Der andere «fashionable» à la mode sich kleidet,
In Kellern und Böden die einen wohnen,
In Cottages und Villen die anderen thronen.

Doch die schwankende Galeere,
Mit der ich fuhr hinaus
Auf hohe See, die schwere,
Zerbrach im Sturmgebraus.

Natürlich sind die Verse des Autodidakten unvollkommen. Niemand hat ihm klargemacht, dass ein bestimmtes Reimschema – Kreuzreime, Paarreime – durchgehalten werden sollte, dass Waisen, reimlose Verse, nicht überhandnehmen sollten.

Aber, wenn das Wortspiel erlaubt ist, mit Waisen hatte Voigt viel drastischere Probleme als nur poetische. Das zeigt sein Gnadengesuch vom 9. April 1922 an die Oberstaatsanwaltschaft in Wien:

«Mitteleuropa liegt in der Agonie und bittet seine ‹Sieger› um Mitleid, um Hilfe, um das Leben wieder erträglich zu machen. Es wird wohl noch über die Ursache und die ‹Urheber› dieses sozialen Todeskampfes diskutiert, aber der Wille sich wieder aufzurichten ist doch allgemein. Die Gesellschaft ist die grosse Familie und wäre ohne die kleinen Familien nicht denkbar, sie ist die höhere Form. Geht es der kleinen Familie schlecht, dann auch der grossen, in keiner Zeit der Geschichte ist das Schicksal des Einzelnen so vollständig das Schicksal des Ganzen gewesen wie in der gegenwärtigen.

Nach bald 20 Jahren Abwesenheit von Heimat, von Familie, durch unsagbare Leiden hindurchgegangen, hatte ich vor einigen Monaten das aufregende Erlebnis, dass ich noch eine Familie habe. Diese glaubte mich tot, denn ich hatte die letzten 12 Jahre geschwiegen, ich wollte vergessen sein. Im Oktober 1921 erkundigte ich mich nach meinem Sohn bei einem Pfarramt im Thüringer Wald, meine Ahnung, der Krieg könne auch ihn verschlungen haben, war leider richtig.

Er ist, nicht ganz zwanzigjährig, 1918 in Frankreich gefallen. Durch jene Anfrage erfuhr nun meine Familie, dass ich noch lebe, und die Frau ruft: lieber Mann, und die beiden grösseren Töchter: lieber Vater! Meine Frau war in der langen Zwischenzeit auch ohne mich fruchtbar, es sind noch zwei kleinere Töchter da, deren Väter aber tot sind, und auch diese rufen: lieber Vater! Wir sind ohne Vater, komme bald! Ich liebe meine Frau mit ihren Kindern, welche auch die meinigen sind, und alle haben mich lieb und verlangen mich. Meine Frau macht seit 19 Jahren Glasperlen am Blasbalg, sie ist also Heimarbeiterin, wird immer mehr krumm und bucklig und verkümmert. 19 Jahre bei offener Petroleumflamme!

«Was bin ich doch für ein kleiner Übeltäter im Vergleich des ungeheuren Verbrechens, was ein ganzes Volk erduldet hat und noch erduldet.»

Ich bin seit 12 Jahren in Oesterreich gefangen, könnte hilfreich sein und gehe auch langsam zu Grunde, denn der Strafvollzug ist seit 1915 eine Tortur, ein schmerzlicher Leidensweg nach dem Grabe. Meine Frau wohnt in ihrer Heimat, in Fehrenbach, Kreis Hildburghausen, sie hat von ihrem Vater einen Acker geerbt und hat eine Ziege. Ich bin demnach theoretischer ‹Grundbesitzer› und in keiner Zeit meines Lebens wäre meine wirtschaftliche Sicherheit so gut fundiert wie am Ende meines Lebens in zukünftiger ‹Freiheit›. Wie liebevoll wollte ich den Acker bebauen!

Die dortige Gemeindevertretung will ein Gnadengesuch für mich machen, der Schultheiss ist Maurermeister, und ich könnte ohne Übertreibung der Zimmermeister sein, denn die Gemeinde hat keinen Zimmermann. Auch beruflich bietet sich hier eine Gelegenheit wie nie zuvor. Hätte ich keine armen Eltern gehabt, welche ehrliche und harte Arbeit geleistet haben, so wäre ich bestimmt kein Säckekleber für das ‹Salus publica› im Kerker. Mein Leben kann nur soziologisch begriffen werden. Charlatane und ‹Seelenforscher› sind untüchtig dazu. – Ich bin von Natur ein kerngesunder Mann, das muss doch nach 10 Jahren freiwilliger Einzelhaft jeder vorurteilslos kritisch Urteilende erkennen.

Vorausgesetzt, dass diese Art zu erkennen noch einen Wert hat, mache ich die für Recht und Gerechtigkeit arbeitende Oberstaatsanwaltschaft auf die Zähe und Energie aufmerksam, mit denen ich mein von zarter Jugend an durch harte Arbeit in der Entwicklung im Rückstand gebliebenes Gehirnplasma zum marschieren brachte. Ich bin von einem vegetierenden, instinktiv nur auf Druck und Stoss reagierenden Lebewesen ein wissenschaftlich gebildeter, erkennender Arbeiter geworden. Ich weiss, was Wille ist, ich weiss, wie leicht es für den erkennenden Menschen ist vernunftgemäss zu leben, sich sozial zu betätigen. Das ganze Problem der Willensfreiheit beim Menschen ist ein Problem des richtigen Erkennens.

Freilich, von der Jurisprudenz verstehe ich heute noch nichts, aber ich hoffe, dass diese aus den zwangsläufig abrollenden Verhältnissen so viel weiss, dass das gesunde Individuum, der ‹Bürger›, nicht geboren wird, um im Elend unterzugehen. Was ich heute geistig und intellektuell bin, bin ich in Garsten geworden, was mir Schule und soziale Fürsorge verweigert, hat mir die ‹honette Gesellschaft› doch noch im Kerker gegeben. Diese Tatsache ist gewiss für die hohe Gerechtigkeits-Obrigkeit keine Schande und ich bin bescheiden genug mit meinem Flämmlein nicht zu prahlen, sondern im Stillen ein geordnetes Leben damit zu verschönern. Ich bin ein Mensch mit starkem Willen, der Beweis ist erbracht. Ich bin ein Mensch. ‹Aufwärts aus eigener Kraft!›

Mein Vorleben tut mir leid, ich wollte lieber nicht geboren sein, als diese Leiden über mich ergehen lassen zu müssen. Aber was bin ich doch für ein kleiner Übeltäter im Vergleich des ungeheuren Verbrechens, was ein ganzes Volk erduldet hat und noch erduldet. Millionen Unschuldiger schreien nach Sühne, und kein öffentlicher Ankläger findet einen Gerichtshof und einen Paragraphen. [. . .] Ich war stets ganz Arbeiter und kann arbeiten und will arbeiten für eine arme Frau, die ebenso viel gelitten hat wie ich, für meine Kinder. Muss es denn ewig und in jedem Fall wahr sein. ‹Es erben sich Gesetz und Recht wie eine ewig Krankheit fort?› [. . .]

Auf der schiefen Ebene dem Grabe zu, im 45. Lebensjahre, aber noch arbeitsfähig, bitte ich die mir immer freundlich gesinnte Oberstaatsanwaltschaft der Republik Österreich mich meiner armen Familie zurückzugeben, um als Freudenbringer selbst noch ein wenig Freude in einem armseligen Leben zu haben.
Ehrerbietigst, gehorsamst
Christian Voigt
Strafanstalt Garsten, Einzelhaft II./5,
am 9. April 1922»

Erfolglose Gnadengesuche

Dieses Gnadengesuch, im Original etwa doppelt so lang, gehört als soziales Dokument in die Lesebücher der Oberstufe. Natürlich verfehlte es seine Wirkung. Besonders der Vergleich des büssenden Einzeltäters mit den straffreien Massenmördern des Weltkriegs dürfte den Staatsanwälten kaum geschmeckt haben. Voigts Frau Emma im thüringischen Fehrenbach, die ebenfalls ein erschütterndes Gnadengesuch einreichte, überlebte dessen Ablehnung wie die der folgenden nicht lange. Sie starb am 2. April 1924.

«Bei unserem Eintritt erhebt er seine schwere, fast massige Gestalt. Dunkle, kurzgeschnittene Haare überdachen ein scharfgeschnittenes, glattrasiertes, intelligentes Gesicht.»

Als die Petitionen der Strafanstaltsdirektion und des Anstaltsseelsorgers vom November 1922 ebenfalls ohne Erfolg blieben, entschied sich Voigt für eine andere Strategie. Er beschloss offenbar, die Presse einzuschalten. Zumal er jeden illegalen Weg aus dem Zuchthaus, etwa eine Flucht wie seinerzeit aus dem Irrenhaus Bayreuth, nun ausschloss. Wohl im November 1922 scheint sich Voigt an den sozial engagierten Journalisten Hans Margulies vom Wiener «Tag» gewandt und ihn zu einem Lokaltermin eingeladen zu haben. Am 28. Dezember 1922 erschien der Bericht «Wozu dienen unsere Gefängnisse?», ein längerer Zweispalter, mit dem der Häftling Christian Voigt für die österreichische Öffentlichkeit wieder zu existieren begann.

«Eine Einzelzelle in der Strafanstalt Garsten. Der Ausblick auf die Enns und die waldigen Hügel wird nur durch die schwere Eisenvergitterung der Fenster störend unterbrochen. An einem mit Büchern, Zeitschriften und Schreibrequisiten bedeckten Tisch sitzt ein den Fünfzigern nahekommender Mann. Bei unserem Eintritt erhebt er seine schwere, fast massige Gestalt. Dunkle, kurzgeschnittene Haare überdachen ein scharfgeschnittenes, glattrasiertes, intelligentes Gesicht. Man sieht ihm kaum mehr an, dass er durch Jahrzehnte als Zimmerergehilfe schwere körperliche Arbeit geleistet hat.

Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Philosophie und vor allem mit Biologie und ist jetzt schon ein bekannter und gern gesehener Mitarbeiter einer grossen Anzahl ausländischer, vornehmlich deutscher Revuen, in denen er populärwissenschaftliche Abhandlungen veröffentlichte, die auf ein ungemein tiefes Wissen und ein scharfes und richtiges Denken hinweisen. [. . .] Sein Fall wirft alle Fragen des Strafrechtes auf, berührt alle Grenzgebiete von Genie und Verbrechen.»

Es stellte sich heraus, dass der Direktor der Strafanstalt Garsten, Regierungsrat Bazalla, ein verständnisvoller Förderer Voigts war. Grund dafür war seine Überzeugung: «Das ist nicht mehr der Mörder, der uns eingeliefert wurde. Das ist ein ganz neuer, anderer Mensch.» Er gestattete daher den umfangreichen Briefwechsel Voigts mit Professoren wie Jakob Bechhold in Frankfurt, dem Herausgeber der Zeitschrift «Die Umschau», und mit dem Zürcher Psychiater Auguste Forel, dem Erfinder der verminderten Zurechnungsfähigkeit.

«Nach dem gewöhnlichen Schema ‹Lustmord› kann mich kein ernsthafter Mensch beurteilen. Zuerst gehöre ich in die Rubrik ‹Sozialmord›, und dann habe ich die Roheit weitergegeben, die ich von Jugend an reichlich empfing.»

Ausserdem erlaubte Bazalla den Kauf von Büchern; obwohl sich Voigt manche Lektüre vom Munde absparte, legte er da mitunter eine atavistische Gewalt gegen Sachen an den Tag. Margulies beobachtete, wie Voigt Bücher, von denen er sprach, in die Hand nahm und sie dröhnend auf den Tisch warf. Margulies zitierte Voigts Aussage: «Wenn man ein soziales Interesse gehabt hat, mich einzusperren, muss man nicht auch ein soziales Interesse haben, mich freizulassen, wenn die Strafe überhaupt Wert haben soll?»

Der interessanteste Gefängnisinsasse

Die Jahre vergingen, Voigts Leben verlief in grosser Eintönigkeit. Er sah den Wechsel der Jahreszeiten vor dem vergitterten Fenster, Abgesandte aus Wien kamen und versprachen von Besuch zu Besuch, man sehe ihn nun zum letzten Mal in Garsten, aber es blieben leere Versprechungen. Grimmig reimte er unter dem Titel «Circulus vitiosus»:

Das Leben hier ist bunt
Das Individuum Schund
Der Lebenslauf geht rund
Ein Glück, wer noch gesund!

Diese Knittelverse fanden sich in der Wiener «Sonn- und Montagszeitung», die im März 1927 zwei Artikel über Voigt, den Philosophen hinter Kerkermauern, brachte. Er stand nun im 50. Lebensjahr und wartete noch immer auf das «Losgehen», die Begnadigung in der Sprache der Häftlinge. Das Blatt nannte ihn «sowohl als persönliche Erscheinung als auch in geistiger Hinsicht wohl den interessantesten Menschen unter allen, die Österreichs Gefängnisse beherbergen». Voigt hatte der Redaktion einen längeren Aufsatz überlassen, der bewies, dass er einer extremen Milieutheorie anhing und den Vorwurf des Lustmords im Prater nach wie vor zurückwies. Er wollte nur aus Ekel und Abscheu vor der zudringlichen Prostituierten gehandelt haben.

Wörtlich schrieb er: «Nach dem gewöhnlichen Schema ‹Lustmord› kann mich kein ernsthafter Mensch beurteilen. [. . .] Zuerst gehöre ich in die Rubrik ‹Sozialmord›, und dann habe ich die Roheit weitergegeben, die ich von Jugend an reichlich empfing. [. . .] Ich stamme von gesunden Eltern legaler Ehe. [. . .] Mein Vater starb 1884, und ich war 6 Jahre alt, wurde Hüterjunge in fremden Häusern, ein Objekt zu willkürlicher Ausnützung. Mein Schulbesuch war unregelmässig, weil ich auf Ansuchen des Zwergbauern befreit wurde. Und selbst während des Schulbesuchs habe ich die Ziegenställe meiner Pädagogen ausgemistet als ein armes Kind, ein Paria, dessen Eltern nur eine Ware: ihre Arbeitskraft besassen.»

Voigt versuchte alles mit seiner Herkunft in Verbindung zu bringen, konnte freilich nicht erklären, weshalb nicht alle Proleten mit schwerer Kindheit zu Frauenmördern wurden. Er lehnte für sich jede erbliche Belastung ab, während Musil in den Moosbrugger-Entwürfen zur missglückten Befreiung seines «riesigen Klienten» Mitte der 1920er Jahre das Wort «Anlage» durchaus nicht mied.

In der vorletzten Textstufe vor der Reinschrift von Band I des «Mannes ohne Eigenschaften», in den sogenannten Kapitelgruppen, hatte Musil den mörderischen Stoff um 1928 noch einmal aufgenommen und bis zur nächsten, der letzten Katastrophe geführt. Diesmal glückte die Befreiung aus der Untersuchungshaft, und Moosbrugger lebte einige Tage mit Rachel, dem von Diotima davongejagten Dienstmädchen, in einem Versteck. Allerdings war er sehr unvorsichtig, ging ins Wirtshaus, trank und schlug Rachel, wenn er sie anders nicht zur Räson, zu seiner Räson bringen konnte.

Es kam, wie es kommen musste. Als Rachel eines Morgens die Zeitung aufschlug, sah sie es sofort: «Eine Frauensperson war nachts von einem Betrunkenen oder Irrsinnigen zerfleischt worden, man hatte den Mörder gefasst und die Feststellung seiner Persönlichkeit stand bevor. Rachel wusste, dass es niemand anderer als Moosbrugger war. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie wusste nicht warum, denn sie fühlte sich froh und erleichtert. Und wenn Clarisse sich wieder einfallen lassen sollte, Moosbrugger zu befrein, so würde Rachel die Polizei auf sie aufmerksam machen. Aber weinen musste sie doch den ganzen Tag. Als ob nun ein Stück von ihr selbst an den Galgen kommen sollte.»

«Ich bin Mensch»

Wäre Voigt tatsächlich aus der Haft geflohen und hätte noch einmal gemordet, so wäre er dem Strick des Scharfrichters Josef Lang gewiss nicht mehr entgangen. So aber hielt er eiserne Disziplin und beging – «feierte» wäre gewiss der falsche Ausdruck – am 22. Januar 1928 seinen 50. Geburtstag, noch immer hinter Gittern. Immerhin hatte er die kleine Genugtuung, dass das Flaggschiff der österreichischen Publizistik, die «Neue Freie Presse», Kurs nahm auf ihn und sein Schicksal. Am 5. Februar 1928 veröffentlichte die Zeitung einen langen Artikel und zitierte Voigts Brief in Sachen Begnadigung an dessen Anwalt Dr. Schönborn:

«Ich befrage mich oft, welche Bedingungen ich noch zu erfüllen habe, und würde dankbar sein, wenn mir jemand Aufschluss darüber gäbe. Ich bin Mensch, ein echter Mensch, mit Verstand und Gefühl und niemand kann Nachteiliges während meiner langen Strafhaft über mich aussagen. Aber freilich, ich bin Mensch auf anderer Grundlage, ohne Metaphysik. Das mag nicht vorteilhaft für mich sein, aber ich halte es für die grösste Pein, wenn sich ein Mensch selbst belügt und sich anders gibt, als wie er denkt und fühlt. Ich bin kein Verbrecher, auch juristisch nicht. Ich würde es sagen. Wenn mein Gewissen auch nur leise anklopfte.»

Der Artikel schloss nicht aus, «dass der widernatürliche Furor, der in ihm brennt, vielleicht zum Verlöschen gekommen ist». Aber was, wenn es nicht so war? «Dieser Mann, körperlich ein Riese, müsste in eine Detentionsanstalt gebracht werden, eine Zwischenanstalt, die wir in Österreich nicht besitzen.» Es hiesse Sicherungsverwahrung also mit einem wesentlich milderen Regime als die Strafhaft, gleichzeitig jedoch so sicher, dass die Öffentlichkeit beschützt blieb.

Hätte der Artikel mit diesem Tenor (wie es in den folgenden Tagen geschah) nur im «Salzburger Volksblatt» oder in der «Linzer Tages-Post» gestanden, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Musil ihn gelesen hat, nahe null. Bei einer Publikation im Hauptblatt Wiens ist es immerhin nicht ausgeschlossen, auch wenn sich in seinem Nachlass keine Notiz findet.

Es scheint, als hätte Musil mit dem Ende des ersten Bandes und mit Voigts Strafnachlass das Interesse an dieser Figur weitgehend verloren.

Unter dem letzten Dutzend Kapiteln, die Musil 1930 für den ersten Band des «Mannes ohne Eigenschaften» zu schreiben hatte, war auch das 110. mit dem programmatischen Titel «Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung». Es endete mit den Sätzen: «Und niemals, wenn sie jetzt auch zuweilen geradezu unangenehm war, verliess ihn eine gewisse wichtige Gehobenheit, die ihm durch die Kerkermauern aus der ganzen Welt zuströmte. So sass er als die wilde, eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab.»

Am 26. November 1930 wurde der erste Band des Romans ausgeliefert. Am 19. Dezember wurde Christian Voigt, nachdem er 18 Jahre, 9 Monate und 27 Tage seiner lebenslangen Haft verbüsst hatte, vom österreichischen Bundespräsidenten Miklas begnadigt und auf Bewährung entlassen. Die Bewährungsfrist betrug fünf Jahre.

Der Wiener «Morgen» brachte am 12. Januar 1931 einen langen Artikel, in dem er die Geschichte Voigts rekapitulierte und berichtete, er sei im Rahmen der periodischen Begnadigungen bedingt aus Garsten entlassen, über die Grenze geschafft und in einem deutschen Altersheim untergebracht worden. Musil war damals in Wien – ob er von der dramatischen Wende im Leben Voigts erfahren hat? Er arbeitete nun am zweiten Band des «Mannes ohne Eigenschaften», und die erzählerische Logik verlangte, dass die Geschicke der Figuren weitererzählt würden. Natürlich galt das auch für Moosbrugger, aber es scheint, als hätte Musil mit dem Ende des ersten Bandes und mit Voigts Strafnachlass das Interesse an dieser Figur weitgehend verloren. Es brauchte fast zwanzig Kapitel, bis von Clarisse die Parole «Vorwärts zu Moosbrugger» ausgegeben wurde.

Von Ulrich heisst es, er habe sich darüber gewundert, «dass er so lange nicht an Moosbrugger gedacht habe und immer erst durch Clarisse wieder an ihn erinnert werden müsse, obwohl dieser Mensch früher doch fast beständig in seinen Gedanken wiedergekehrt wäre. Selbst in dem Dunkel, durch das Ulrich von der Endstelle der Strassenbahn dem Haus seiner Freunde [Walter und Clarisse] zuschritt, war jetzt kein Platz für solchen Spuk; eine Leere, worin er vorgekommen, hatte sich geschlossen, Ulrich nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis und mit jener leisen Ungewissheit über sich selbst, die eine Folge von Veränderungen ist, deren Grösse deutlicher ist als ihre Ursachen.»

Die Leser, die 1932/33 den fragmentarischen zweiten Band mit 38 Kapiteln erwarben, tappten im Dunkeln, wie es mit dem (doch eigentlich unentbehrlichen) Mörder weiterging.

Das mörderische Jahrhundert

Voigt war nach seiner Abschiebung aus Österreich zunächst für drei Monate im evangelischen Missionshaus Weiher bei Hersbruck untergekommen, dann für zwei Jahre in der Bodelschwinghschen Anstalt in Lobetal bei Berlin. Der dortige Betreuer notierte am 2. Mai 1931: «Grosser, teilweise kahlköpfiger Mensch – spricht gebildet, scheint weit herumgekommen zu sein, macht guten Eindruck – öfter mit ihm gesprochen – ist Strafentlassener, sehr lange Strafen – arbeitet sehr langsam.»

Im Mai 1933 bekam Voigt Arbeit als Zimmermann in Nürnberg und fand eine Wohnung in der Mittleren Kanalstrasse 33/II. Am 20. März 1934 heiratete er – wie zur Bestätigung seiner Rehabilitation – Marie Smatera aus der Tschechoslowakei. Gegen die endgültige Nachsicht des Strafrestes Ende 1935 wurden keine Bedenken erhoben. Am 18. Mai 1938 starb er, 60 Jahre alt.

Hitler war gerade in Österreich einmarschiert.

Musil, dem der weitere Lebenslauf seines genesenen Mörders entgangen sein muss, hinterliess in seinen späten Notizen ein winziges Epitaph: «Moosbrugger und das mörderische Jahrhundert».