Ein Schiff mit Kindern und Jugendlichen aus Österreich und Deutschland bei der Ankunft im Hafen von Harwich im Dezember 1938. (Bild: Fred Morley / Fox Photos / Getty)

Ein Schiff mit Kindern und Jugendlichen aus Österreich und Deutschland bei der Ankunft im Hafen von Harwich im Dezember 1938. (Bild: Fred Morley / Fox Photos / Getty)

Wie Grossbritannien kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Tausende von jüdischen Kindern aus dem Nazireich rettete

Vor achtzig Jahren wurden zehntausend unbegleitete jüdische Jugendliche aus Deutschland und Österreich in Grossbritannien aufgenommen. Für Überlebende des Kindertransports sind die Erinnerungen oft schmerzhaft.

Markus M. Haefliger, London
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Freddy Kosten begriff erst viel später, wie viel Glück ihm im März 1939 beigestanden und das Leben gerettet hatte. Der damals Zehnjährige traf am 16. des Monats aus Wien kommend in England ein. Die Pogromnacht des 9. November, der Auftakt der Judenpogrome im Nazireich, lag vier Monate zurück, ein halbes Jahr später würde der Zweite Weltkrieg ausbrechen und einen geregelten Fluchtweg verbauen. Die Trennung von den Eltern im Wiener Westbahnhof hatte der Bub, anders als andere Kinder, eher als Abenteuer denn als Tragödie wahrgenommen. «Ich winkte vom Zug aus», sagt der heute 90-jährige Kosten. Seine um vier Jahre ältere Schwester begleitete ihn: Zug nach Hoek van Holland, Fähre nach Harwich, Eisenbahn nach London, Ankunft an der Liverpool Street Station der britischen Hauptstadt.

Freddy Kosten zeigt eine Foto aus der Zeit der Wiener Kindheit. (Bild: Bea Lewkowicz / Association of Jewish Refugees.)

Freddy Kosten zeigt eine Foto aus der Zeit der Wiener Kindheit. (Bild: Bea Lewkowicz / Association of Jewish Refugees.)

Kosten erinnert sich nur schwach an die Reise, aber der Empfang durch die Gastfamilie im wohlhabenden Londoner Stadtteil Chelsea hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Benn Levy, ein erfolgreicher Bühnenautor, lebte mit seiner amerikanischen Frau, einem Filmstar, in einer Bauhausvilla. Das grosszügige Ehepaar hinterlegte in den folgenden Wochen auch für Freddys Eltern die 50 Pfund pro Person, nach heutigem Wert über 3000 Pfund, welche die britische Regierung als Bürgschaft verlangte, damit die Flüchtlinge dem Gemeinwesen nicht zur Last fallen würden. Die Evakuation gelang; im Sommer war die Familie Kosten in London wiedervereinigt.

Freddy Kosten auf dem Balkon seiner Zieheltern im Londoner Stadtteil Chelsea. (Bild: Privates Archiv von Freddy Kosten)

Freddy Kosten auf dem Balkon seiner Zieheltern im Londoner Stadtteil Chelsea. (Bild: Privates Archiv von Freddy Kosten)

Einzigartige Hilfsaktion

Es hätte auch anders kommen können, angefangen damit, dass Freddys Vater, ein Kaufmann, sich nur zufälligerweise an jemanden in England erinnerte, der jemanden kannte, der die Levys kannte. Andere Flüchtlingskinder sahen die Eltern nie wieder, oder sie landeten in unglücklichen Verhältnissen. Eve Willman war fünfjährig. Es sei unerträglich heiss gewesen im Zug, erinnert sie sich. «Ich hielt während der ganzen Reise die Hand meiner Freundin. Sie hiess Gerti und war sechs Jahre älter als ich.» An der niederländischen Grenze sei Limonade verteilt worden, bei der Ankunft in London holte sie ein Onkel ab. Alfred Willmann, ein Rabbi, war einige Jahre früher aus der Tschechoslowakei ausgewandert und liess sich in Nordengland zum Lehrer ausbilden. Er war mittellos und durfte die Nichte nicht in der eigenen Familie aufnehmen.

Eve Willmans Vater überlebte Verfolgung und Krieg, aber ein Zusammentreffen nach Kriegsende in England war für beide traumatisch. (Bild: Bea Lewkowicz/Association of Jewish Refugees)

Eve Willmans Vater überlebte Verfolgung und Krieg, aber ein Zusammentreffen nach Kriegsende in England war für beide traumatisch. (Bild: Bea Lewkowicz/Association of Jewish Refugees)

Eve kam über die Kriegsjahre bei vier verschiedenen Zieheltern unter. Dem ersten Pflegevater, einem freireligiösen Pastor, entzogen die Behörden das Erziehungsrecht, als er den Kriegsdienst verweigerte. Die zweite Gastfamilie besann sich anders. In der dritten wurde Eve zur Küchenarbeit gezwungen, die Schule kam zu kurz. In der vierten hatte es zu viele Geschwister. Jedes Mal kam ihr das Jewish Refugees Committee (JRC) zu Hilfe. Die Organisation war Teil des britischen Movement for the Care of Children from Germany (MCC), einer Sammelbewegung, die in Grossbritannien Geld auftrieb und die Flucht jüdischer Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei organisierte. Am Sitz der Bewegung im Bloomsbury House in der Londoner Innenstadt wurde über die Flucht und fürsorgliche Unterbringung der Kinder entschieden. In Eves Fall bekam der Onkel nach Kriegsende eine Lehrerstelle und durfte das Mädchen unter seine Obhut nehmen. «Ich war zum ersten Mal glücklich», sagt Eve Willman. Sie machte Karriere als Biologin, später bildete sie Apothekerinnen aus. Als 85-Jährige blickt sie auf ein erfülltes Leben zurück. Aber sie denkt an Gerti. Der vor ein paar Jahren verstorbenen Freundin waren die Zufälle weniger günstig gewogen. Das JRC platzierte die Tochter eines erfolgreichen Künstlers, der später im KZ ermordet wurde, in einer Arbeiterfamilie. «Da war kein Geld, meine Freundin musste im Alter von 14 in die Fabrik gehen. Sie arbeitete in einer Strumpffabrik.» Eve Willman sagt, die Fluchthelfer hätten Tausenden von Kindern das Leben gerettet, aber oft zum Preis einer unglücklichen Kindheit.

Eve Willman (auf dem Schoss sitzend) als zweijähriges Mädchen bei ihrem Onkel Alfred Willmann und dessen Familie in der Tschechoslowakei. Alfred, ein Rabbi, flüchtete nach England. Er empfing Eve, als diese mit einem Kindertransport aus Wien in London eintraf. Aber es dauerte bis nach dem Krieg, dass er sie in der eigenen Familie aufnehmen konnte. (Bild: Privates Archiv von Eve Willman)

Eve Willman (auf dem Schoss sitzend) als zweijähriges Mädchen bei ihrem Onkel Alfred Willmann und dessen Familie in der Tschechoslowakei. Alfred, ein Rabbi, flüchtete nach England. Er empfing Eve, als diese mit einem Kindertransport aus Wien in London eintraf. Aber es dauerte bis nach dem Krieg, dass er sie in der eigenen Familie aufnehmen konnte. (Bild: Privates Archiv von Eve Willman)

Das in England mit der deutschen Bezeichnung «Kindertransport» bekannte Unternehmen – Überlebende bezeichnen sich entsprechend als «Kinder» – brachte vor achtzig Jahren über einen Zeitraum von neun Monaten fast zehntausend jüdische Kinder nach Grossbritannien. Englische jüdische und christliche Organisationen hatten nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 bei Premierminister Neville Chamberlain vorgesprochen.

Die Regierung erliess in aller Eile ein Gesetz, das für unbegleitete jüdische Kinder aus dem Nazireich die Visapflicht aufhob. Die Aktion wurde von einer breiten Sympathiewelle getragen, über das BBC-Radio wurden Pflegeeltern gesucht. Das Aufenthaltsrecht galt für Flüchtlinge bis zum 17. Altersjahr, sah jedoch nach Möglichkeit Familienzusammenführungen vor. Die Bewegung (das MCC) war für Unterbringung und Schulbildung der Kinder verantwortlich. Einige kamen auf Bauernhöfen, in Internaten oder vorübergehend in Ferienlagern unter.

Die Organisationen arbeiteten mit jüdischen Verbänden in Deutschland, der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien und mit Gruppen wie den Quäkern zusammen. Für die Flucht vorgesehene Kinder mussten von den reichsdeutschen Behörden ein Ausreisevisum erlangen. Die Helfer in Deutschland und Österreich bemühten sich um Kinder, deren Eltern in Konzentrationslager gezwungen worden oder wegen der Judenverfolgung verarmt waren. Mit dem ersten Transport kamen am 2. Dezember 1938 zweihundert Waisen in Harwich an, Opfer der Zerstörung eines jüdischen Waisenhauses in Berlin während der Pogromnacht. Der letzte Transport legte am 1. September 1939 von der norddeutschen Küste ab.

Spielball des Schicksals

Der Kindertransport trat erst in den letzten Jahren in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Seit dem Jahr 2006 steht vor dem Bahnhof Liverpool Street in der Londoner City das Bronze-Ensemble einer Gruppe von fünf Kindern. Sie gleichen Fotos von den Ankünften vor achtzig Jahren. Eltern oder Verwandte hatten die Kinder beim Abschied in die besten Kleider gesteckt, als Gruss und Empfehlung an die unbekannten englischen Pflegeeltern.

Die Figur zeigt hoffnungsvolle Gesichter, die Kinder tragen ihren Schulranzen oder ein Köfferchen mit Habseligkeiten. Ein Gleisabschnitt, auf dem die Skulptur fusst, symbolisiert die Zugreise, die hinter ihnen liegt – und erinnert an diejenige der Zurückgebliebenen ins KZ. Der Kindertransport berühre uns, weil er im Horror der Shoah zwischen Verzweiflung und Hoffnung stehe, sagt Paul Weindling.

Der britische Historiker, der die Geschichte der rund 2200 aus Wien stammenden «Kinder» erforscht, hat die Korrespondenz zwischen der dortigen Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) und der zuständigen Abteilung im Bloomsbury House erforscht. Der Schriftenwechsel wird in Jerusalem im Central Archive for the History of the Jewish People aufbewahrt. Weindling, dessen Mutter selber mit einem Kindertransport nach England kam, führt das erwachte Interesse darauf zurück, dass die Rettungsaktion bald aus der lebendigen Erinnerung verschwindet.

Eva Willman hat die Dokumente aufbewahrt, die sie vor achtzig Jahren zur Aufnahme in Grossbritannien berechtigten: ein von den Nazibehörden ausgestellter Reisepass und das britische Dokument, das die Kinder des Kindertransports von der Visapflicht befreite. (Bild: Privates Archiv von Eve Willman)

Eva Willman hat die Dokumente aufbewahrt, die sie vor achtzig Jahren zur Aufnahme in Grossbritannien berechtigten: ein von den Nazibehörden ausgestellter Reisepass und das britische Dokument, das die Kinder des Kindertransports von der Visapflicht befreite. (Bild: Privates Archiv von Eve Willman)

Freddy Kosten lebt mit Helen, seiner Frau, in einem bescheidenen Einfamilienhaus mit Garten im Nordlondoner Stadtteil Finchley. Im Büchergestell stehen Reisebücher, neben einem Plattenspieler liegt die Hülle einer Mahler-Symphonie. Kosten nutzte sein Glück. Die Levys schickten ihn in eine gute Schule, er sang im Schülerchor mit und lernte rasch Englisch und Cricketspielen.

«Alle wussten, dass ich Jude war, aber ich wurde nie gehänselt», sagt er. «Ich lebte mich ein, die ganze Episode hinterliess keine Narben.» Mit 16 Jahren schrieb er sich am Londoner Imperial College für ein Geologiestudium ein. 1949 wurde er britischer Staatsbürger und trat dem Kolonialdienst bei; er lebte und arbeitete mehr als zwanzig Jahre in Nigeria und Ghana, später in Ostafrika.

Die Kinder waren ein Spielball des Schicksals. Die Helfer im Bloomsbury House verteilten sie über das ganze Land, je nachdem, wo sie auf der Suche nach Gastfamilien fündig wurden. Eve lebte während ihrer Odyssee nacheinander in Leicestershire im Zentrum Englands, bei Cambridge, in Birkenhead bei Liverpool, schliesslich beim Onkel in Hartlepool im Norden. Wer Glück hatte, wurde von mittelständischen Juden aufgenommen.

Sie hatten sich vorzugsweise in Hampstead niedergelassen, einer schmucken Gegend im Nordwesten der Hauptstadt. Wohlhabende und religiös liberale Juden hätten sich von früheren Einwanderern unterscheiden wollen, sagt Rachel Kolsky, die in Hampstead Führungen durch das London der jüdischen Einwanderer organisiert. Laut Kolsky lebten bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mehr als 20 000 Flüchtlinge – selber bezeichneten sie sich als «Emigrés» – in Hampstead, rund ein Drittel der Quartiereinwohner.

Es entstanden Kulturvereine, Geschäfte und Cafés, welche die Bedürfnisse der Zugezogenen befriedigten. In ein ehemaliges Pfarrhaus am Belsize Square zog eine liberale Synagoge ein. Ab 1941 kümmerte sich in der Nähe an der Eton Avenue die Association of Jewish Refugees (AJR) um die Ankömmlinge, heute ist in dem Gebäude eine Schauspielschule untergebracht. Flüchtlinge sollten Englisch lernen und vermeiden, Deutsch zu sprechen, hiess es in einer praktischen Anleitung.

Auch, dass man Engländer nicht kritisieren solle und dass es besser sei, sich wie diese moderat zu äussern, empfahl die AJR. Zu vermeiden war Angstmacherei von der Art, dass der Antisemitismus bald auch die britische Insel erreichen werde. Der Kindertransport war nur eine, besonders aufwendig koordinierte Fluchtbewegung. Insgesamt kamen in den Jahren vor Kriegsausbruch fast 60 000 Juden aus dem Dritten Reich nach Grossbritannien, meist hatten sie ein Arbeitsvisum in der Tasche. Intellektuelle arbeiteten im Handwerk oder in der Fabrik, wohlhabende Frauen als Bedienstete.

Soziale Herkunft und individuelle Bekanntschaften waren wichtig, um an die nötigen Bewilligungen heranzukommen. Die Aufnahme in Grossbritannien war nicht so unumstritten, wie es im Rückblick gerne dargestellt wird. In Hampstead sammelten rechtsgerichtete Kreise kurz nach Kriegsende Unterschriften für die Forderung, die Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Liberale Kreise im Quartier organisierten daraufhin eine Bewegung «gegen Vorurteile». «Die Fremdenfeinde verstummten», sagt Kolsky. Ebenfalls in Hampstead wurde der Primrose Club gegründet, eine Hilfsaktion für über 700 jüdische Waisen, die bei Kriegsende von den Alliierten aus deutschen Konzentrationslagern befreit worden waren.

Nach der Verdrängung die Erinnerung

Viele «Kinder» stürzten sich ins Berufsleben. Oft habe der Verdrängungsmechanismus funktioniert, aber im Alter hole die Erinnerung viele Betroffene ein, sagt Bea Lewkowicz. Die Historikerin leitet in London das Oral-History-Projekt «Refugee Voices» der AJR. Ende April hatte sie 235 Zeugnisse jüdischer Flüchtlinge aufgezeichnet, mit jeder Woche werden es mehr.

«Das Projekt spricht sich herum, auch Betroffene, die ihre Geschichte zunächst nicht preisgeben wollten, melden sich nun und machen mit», sagt Lewkowicz. Die Aufnahmen sollen den Nachkommen und zukünftigen Forschern zur Verfügung stehen. Die festgehaltenen Lebensgeschichten stammen von jüdischen Flüchtlingen allgemein, etwa zu einem Viertel von «Kindern». Die Zahl der Überlebenden des Kindertransports wird auf mehrere hundert geschätzt.

Kinder auf der ersten Etappe eines Kindertransports, der Zugreise von einem unbekannten Herkunftsort in die Niederlande. Dort werden sie an Bord einer Fähre nach Harwich gehen. (Bild: The Wiener Library)

Kinder auf der ersten Etappe eines Kindertransports, der Zugreise von einem unbekannten Herkunftsort in die Niederlande. Dort werden sie an Bord einer Fähre nach Harwich gehen. (Bild: The Wiener Library)

Laut Lewkowicz ist die Erinnerung an die Eltern für viele traumatisch. In etwa der Hälfte der Fälle seien beide Teile in den KZ ermordet worden. Aber auch wenn eine Mutter oder ein Vater überlebte, waren die Umstände oft schwer zu ertragen. Eve Willman erfuhr nach dem Krieg, dass ihre Mutter, eine zum Judentum konvertierte Deutsche, bei einem Bombenangriff umgekommen war. Der jüdische Vater Fritz, ein Arzt, war von den Schwiegereltern vor der SS versteckt worden und überlebte.

1948 besuchte er die Tochter in England, aber Eve hatte keine Erinnerungen an ihn. Die Familie des Onkels war die ihrige geworden. Als Fritz Willmann sie bat, mit ihm nach Wien zurückzukehren, weigerte sie sich. Er hatte Erinnerungsstücke mitgebracht, unter anderem Eves Teddybär, den sie seither sorgfältig aufbewahrt hat. «Mein Vater war mir ein Fremder», sagt sie, «er dagegen sah in mir meine Mutter. Er verlangte mehr, als ich geben konnte.» Fritz Willmann nahm schliesslich den Zug zurück nach Wien; kurz darauf starb er an einer Herzschwäche.

Viele Kinder mussten Freunde in der Heimat zurücklassen. Zu Beginn der Hilfsaktion sprach die Wiener IKG von geschätzten 10 000 Kindern, die nach England evakuiert werden sollten, also rund vier Mal mehr, als schliesslich von Wien aus auf die Reise geschickt werden konnten. Auf britischer Seite war die Hilfsaktion von Lola Hahn-Warburg angestossen worden, einer Bankierstochter.

Sie bat die Partnerorganisationen in Deutschland und Österreich, nur intelligente und gesunde Kinder zu evakuieren. Sie sollten moralisch erzogen sein, mitunter empfahl die Chefin im Bloomsbury House, die Kinder sollten «nicht jüdisch aussehen». Hahn-Warburg habe das Modell der zionistischen Migration nach Palästina vorgeschwebt, sagt Weindling. «Sie sagte sich: Wenn wir diese Kinder aufnehmen, sollen sie sich einleben und später arbeiten können. Am besten, sie sind athletisch und intelligent.»

Die Folge war eine Auslese, bei der manche Helfer gezwungen waren, Gott zu spielen. Zu den von London verlangten Papieren gehörten ein ärztliches Gesundheitsattest, Schulzeugnisse, Passfotos, gültige Papiere (staatenlose Juden wurden abgewiesen) und das Einverständnis der Eltern, dass die Kinder möglicherweise von nichtjüdischen Gastfamilien aufgenommen würden. Weindling hat in den Archiven Schicksale ausgegraben wie dasjenige von Hilde Goliath, einem siebenjährigen Mädchen. Im November 1938 ist der Vater ins KZ Dachau verschleppt worden.

Die Mutter verarmt und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass die Wiener IKG den Fall als dringend einstuft, Mutter und Kind würden von Kälte und Hunger geplagt, heisst es. Im April 1939 begeht die Mutter Selbstmord. Nun befallen das Bloomsbury House Zweifel, ob das Kind seelisch stabil sei. Man ist geneigt, die Einreise zu verweigern.

Der Fall wird ein Rennen gegen die Zeit. Die englischen Bürgen, zugleich willige Zieheltern, schalten das britische Konsulat in Wien ein, gleichzeitig bemüht sich die Leiterin der Fürsorgeabteilung der IKG, Rosa Schwarz, um einen Schulbericht, der nachweist, dass das Kind «völlig normal» ist. Das Mädchen kann schliesslich ausreisen und findet in England Unterschlupf.

Dienstweg war entscheidend

Eine andere Wende nimmt der Fall von Gerda Kral. Ende August 1939, also zum letzten möglichen Zeitpunkt vor Kriegsausbruch, bezieht sich das Bloomsbury House in aller Ruhe auf das Empfehlungsschreiben aus Wien. Das Mädchen sei offenbar «nicht ganz vollwertig», heisst es in dem Bescheid, mit dem der Antrag zurückgeschickt wird. Die Ablehnung wird mit den Worten begründet, dass «wir nur 100-prozentig geistig normale Kinder durch das Movement [nach England] hereinbringen können». Gerda Kral wird zweieinhalb Jahre später nach Riga deportiert und getötet.

Kinder eines Kindertransports während der Reise, vermutlich auf Zwischenstation in Hoek van Holland. (Bild: The Wiener Library)

Kinder eines Kindertransports während der Reise, vermutlich auf Zwischenstation in Hoek van Holland. (Bild: The Wiener Library)

Während im Dezember 1938 noch 400 Kinder auf den ersten Transport aus Wien kommen, nehmen die Zahlen in der Folge auf rund 200 pro Monat ab. Rosa Schwarz ist hin- und hergerissen von den Anforderungen aus London und der Not der Juden und der zunehmenden Dringlichkeit einer Flucht. Familien trennen sich in der Hoffnung, so das Glück zu zwingen.

Schwarz setzt sich etwa für die Ausreise des fünfjährigen Heinrich Steinberger und von dessen Mutter ein. Der Vater ist nach England vorausgegangen, um die Suche nach Kautionen zu beschleunigen. Es ist August. «Zu dem Zeitpunkt gibt es eigentlich keine Hoffnung mehr, wie wir im Nachhinein wissen», sagt Weindling. Laut der zentralen Datenbank der Shoah-Opfer in Jerusalem wird Heinrich Steinberger drei Jahre später, im Juni 1942, ins Vernichtungslager Sobibor in Polen deportiert und getötet.

Einige Kinder setzen sich selber für ihr Schicksal und die Eltern ein. Liselotte Fuchs, eine 14-jährige Jüdin, schreibt in gebundener Handschrift direkt nach London, dass sie wegen «der hiesigen Verhältnisse» weder die Schule beenden noch einen Beruf erlernen könne. Der Vater sei «ausgewiesen» worden, schreibt das Mädchen und meint die Deportation ins KZ. «Meine Eltern besitzen gar keine Mittel, mir zu meiner Ausreise zu verhelfen.» Daran fügt sich die Bitte, «dass Sie mir in Anbetracht der angeführten Gründe Aufnahme erlauben werden».

Auch dieser Brief ist vom August datiert – es ist zu spät. Liselotte wird später deportiert. Bemerkenswert ist, dass der abgestempelte Brief im Archiv der Wiener IKG landete. Das Schreiben war in London angekommen und vom Bloomsbury House zurück nach Wien an die Partner geschickt worden, damit sie der Sache nachgehen würden. «In Wien wachsen Not und Verzweiflung», sagt Weindling, «aber sie werden auf britischer Seite nicht nachvollzogen.» London beharrt auf der Einhaltung des Dienstwegs.

Das gleiche Los erfährt ein Schreiben, das ein 14-jähriges Mädchen, Eva Seinfeld, auf Englisch verfasst und an (die gleichaltrige) Prinzessin Elizabeth adressiert hat. Der Postdienst des Königshauses leitet den im März 1939 abgestempelten Brief ans Bloomsbury House weiter – das ihn retour nach Wien schickt. Die Bitte verhallt ungehört. Eva Seinfeld wird 1942 in Sobibor ermordet. Der Kindertransport, eine an Ausmass und Organisationsgrad einzigartige Rettungsaktion, ist ein Lichtblick, aber er lässt die Umgebung umso dunkler erscheinen.

Es gab auch einen Kindertransport in die Schweiz

mhf. Die Schweizer Politik gegenüber Flüchtlingen aus dem Nazireich und im Zweiten Weltkrieg ist wenig ruhmreich. Der Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, Heinrich Rothmund, sah seine Aufgabe darin, eine «Überfremdung» der Schweiz zu verhindern. Laut dem Bericht der Bergier-Kommission von 1999 wurde er dabei auch von antisemitischen Motiven geleitet. Trotzdem gab es zwischen der Reichspogromnacht im November 1938 und dem Kriegsausbruch zehn Monate später auch in die Schweiz einen – wenn auch zahlenmässig im Vergleich mit Grossbritannien weniger bedeutsamen – Kindertransport. Er ist als «300-Kinder-Aktion» bekannt.

Die definitive und verbindliche Aufnahme von dreihundert Buben und Mädchen im Alter von bis zu 14 Jahren sei der damaligen offiziellen Flüchtlingspolitik zuwidergelaufen und eine Ausnahme, sagt die Basler Historikerin Antonia Schmidlin, die Verfasserin einer Dissertation zu dem Thema («Eine andere Schweiz: Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933 bis 1942, Chronos-Verlag 1999). Ausgelöst hatte die Rettungsaktion Georgine Gerhard, Lehrerin und Kämpferin für das Frauenstimmrecht, die in den 1930er Jahren die Basler Sektion des Schweizer Hilfswerks für Emigrantenkinder (SHEK) leitete. Unmittelbar nach der Pogromnacht bat sie in einem Schreiben an Rothmund um die dringende Erlaubnis, «in Anbetracht der heutigen Notlage» bis zu 300 Kinder in die Schweiz bringen und bei Gastfamilien unterbringen zu dürfen.

Rothmund liess sich erweichen. Entscheidend sei gewesen, dass die Behörden Kinder als «unschuldige» Opfer und ihre Rettung daher als harmlose, unpolitische Handlung angesehen hätten, sagt Schmidlin. «Die offizielle Flüchtlingspolitik wurde nicht geändert.» Wie im Fall des britischen Kindertransports stammten die ersten geretteten Kinder aus einem jüdischen Waisenhaus, das in der Pogromnacht zerstört worden war. Die hundert Vollwaisen aus Frankfurt kamen Anfang Januar 1939 in Basel an. Die Suche nach Pflegeeltern war erfolgreich, es meldeten sich mehr Gastfamilien, als Kinder einreisten, ein Zeichen, dass das November-Pogrom die Schweizer Öffentlichkeit erschütterte.

Im Unterschied zu Grossbritannien setzte die Schweizer Fremdenpolizei die Alterslimite für die Kinder von den erwünschten 17 auf 14 Jahre herunter. Georgine Gerhard empörte sich darüber. In einem Brief an die nationale Leitung des SHEK vom März 1939 schrieb sie: «Ich glaube, dagegen sollten wir uns energisch wehren. Gerade die 15- bis 16-jährigen Knaben sind die gefährdetsten. Sie werden in Lager gesteckt, und niemand weiss, ob sie wieder lebend herauskommen.» Aber das Hilfswerk konnte sich nicht durchsetzen. Gerhards Befürchtung sei prophetisch, sagt die Historikerin Schmidlin, und entlarve spätere Schutzbehauptungen, man habe zu dem Zeitpunkt die Shoah nicht voraussehen können. Das SHEK musste sich auf Druck der Schweizer Behörden um die Weiterwanderung seiner Schützlinge kümmern, dennoch blieben mehr als die Hälfte der 300 Kinder in der Schweiz. Etliche wanderten nach dem Krieg nach Palästina aus.

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