In der sächsischen Gemeinde Neisseaue haben bei der Europawahl fast die Hälfte der Bürger die AfD gewählt. Wie kommt es dazu? Eine Reise zu den Abgehängten und Unzufriedenen.
Hier sei mal eine Kneipe gewesen, und da habe es mal einen Laden gegeben. Herr Hoffmann, der Taxifahrer aus Görlitz, deutet immer wieder auf Punkte links und rechts an der Strasse. Er scheint ein sicheres Gespür für die Auflösungserscheinungen sächsischer Dörfer zu haben. Er weiss, welche Höfe leer stehen und welche Restaurantbesitzer die DDR-Toiletten bis heute nicht ausgewechselt haben.
Wir sind auf dem Weg von Görlitz in die Gemeinde Neisseaue, eine Ansammlung versprengter Strassendörfer an der deutsch-polnischen Grenze. Der grösste Ort heisst Zodel und hat etwas mehr als 500 Einwohner, der kleinste ist Emmerichswalde mit 13. Das ganze Gebiet ist mehr Naturreservat als Zivilisation, auf einem Quadratkilometer leben 36 Menschen. Der Ort wirbt damit, die «östlichste Gemeinde Deutschlands» zu sein. Man ist also in einem Raum, der schon fast Polen, aber immer noch Deutschland ist. Bei der Europawahl wählten hier 46,4 Prozent der Menschen die Alternative für Deutschland. Es war ein Rekordwert selbst für Sachsen.
Seit der Wahl ist von einer Spaltung des Landes die Rede. Die Grünen nehmen die westdeutschen Städte ein, die AfD räumt in den ostdeutschen Dörfern ab. In Sachsen und in Brandenburg machte die AfD das beste Ergebnis aller Parteien, in Thüringen das zweitbeste. In allen drei Bundesländern finden im Herbst Wahlen statt, und in Görlitz könnte bereits im Juni der erste AfD-Politiker in Deutschland zum Oberbürgermeister gewählt werden. Der Polizeikommissar Sebastian Wippel liegt nach dem ersten Wahlgang an der Spitze. Seine Plakate hängen in der ganzen Gegend: «Ein Görlitzer. Mit Sicherheit!»
Alleen säumen die Strassen, dahinter liegen weite Felder. Menschen ziehen weg, und die Natur arbeitet langsam, aber beharrlich daran, das Gelände zurückzuerobern. Dorfstrukturen wie in Bayern habe es hier nie gegeben, sagt der Taxifahrer Hoffmann. Die Leute hätten nicht auf dem Dorfplatz getratscht, sondern beim Bäcker und über die Zäune hinweg. Wir sind gerade auf der Suche nach dem östlichsten Punkt Deutschlands zwischen Deschka und Zentendorf, da soll eine Art Denkmal stehen. Aber der Taxifahrer Hoffmann verfährt sich schon zum wiederholten Mal. Er chauffiert hauptsächlich kranke Menschen in der Gegend herum, zu Denkmälern fährt er nur selten. Schliesslich hält er vor einem Haus und bittet einen alten Deschkaer einzusteigen, um den Weg zu zeigen.
«Kneipen gibt es keine mehr, Bus weiss ich nicht, wir sind am Arsch der Welt», so fasst der neue Passagier die allgemeine Lage zusammen. Auch einen Laden gebe es in Deschka schon lange nicht mehr, Anfang der neunziger Jahre habe der «Konsum» geschlossen. Einmal in der Woche kommen nun Verkaufswagen vorbei und bringen Brot, Fleisch und Gemüse. Ein Sparkassenbus versorgt die Leute mit Bargeld. Wie hält der Mann es mit der AfD? «Muss nicht sein.» Er sei aber ohnehin nicht zur Wahl gegangen, denn das Wahllokal sei in Zodel gewesen, drei Kilometer entfernt. Früher sei er manchmal zum östlichsten Punkt Deutschlands spaziert, aber seit der Hund gestorben sei, mache er das nicht mehr. Alles scheint bei dem Mann aufs Aufhören angelegt zu sein.
Nur ans Wegziehen denkt er offenbar nicht. Er sei hier aufgewachsen, habe ein Haus gebaut und 44 Jahre lang als Polizist gearbeitet. Jetzt versuche er, so lange es gehe, hierzubleiben. Auch wenn das nicht immer schön sei. Manchmal funktioniere nicht einmal das Festnetz, sagt der alte Polizist. Dieses Jahr hätten Kriminelle schon zweimal Telefonleitungen abgebaut, Hunderte von Metern, nur wegen des Kupfers.
Viel scheint der Mann nicht mehr zu erwarten. Wenn aber jemand käme und ein paar Dinge in Ordnung brächte, hätte er wohl nichts dagegen. Den AfD-Polizisten, der in Görlitz Oberbürgermeister werden will, findet er zum Beispiel sympathisch. Das heisst, er sei zumindest «kein Hirnverbrannter».
Der östlichste Zipfel Deutschlands ist ein seltsames Arrangement. Dazu gehören ein grosser Stein, ein «Zipfel-Buch», in das sich die Gäste eintragen können, ein Häuschen, das wie der Einstieg zu einem Atombunker aussieht, und eine verblichene Deutschlandfahne. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass die Reisegruppe an diesem Punkt besonders berührt sei. Der Taxifahrer Hoffmann nutzt den Halt für eine Rauchpause. Ein bisschen scheint er sich auch Sorgen zu machen um seinen Wagen, denn die Fahrt zum östlichsten Punkt Deutschlands gleicht einer Safari.
Am Ende der Reise stehen die AfD-Politiker Roberto Kuhnert und Heiko Titze an der Dorfstrasse in Zodel. Kuhnert ist selbständiger Baudienstleister und führt die AfD-Regionalgruppe Weisswasser, zu der auch Neisseaue gehört. Titze ist Polizeibeamter im Ruhestand und kommt aus Hähnichen, ein paar Kilometer weiter nördlich von hier. Männer wie Kuhnert und Titze ziehen nun für die AfD in die deutschen Parlamente ein, beide wurden vor einer Woche in den Görlitzer Kreistag gewählt. Das Gespräch findet in der Landbäckerei in Zodel statt, aber ganz wohl ist es den beiden Herren dabei nicht. Kuhnert redet betont leise, doch es nützt nichts. «Da wird es mir ganz übel, wenn ich das höre!», fährt ihn eine Kundin nach wenigen Minuten an. Kuhnert hat gerade berichtet, wie sehr die CDU in Sachsen versagt habe. Wenig später mischt sich eine weitere Frau ein: «Ministerpräsident Kretschmer hat viel bewirkt in der Region!»
54 Prozent wählen in Neisseaue nicht die AfD, daran haben die beiden Damen noch einmal erinnert. Kuhnert diskutiert mit ihnen, bis der Bäcker einschreitet: «Hier muss bedient werden!» Er hätte auch sagen können: «Hier darf nicht politisiert werden!» Der Bäcker fürchtet offenbar um sein Geschäft. In einem Dorf mit 500 Einwohnern kann er es sich nicht leisten, dass AfD-Politiker im Laden die CDU-Kundschaft vertreiben. Solche Szenen wie eben seien eine Ausnahme, sagt Kuhnert später. «Aber manche verteidigen die CDU heute so, wie früher Unverbesserliche die SED verteidigt haben, als es mit der DDR zu Ende ging.» Es sei Zeit für eine «neue Wende», sagt Kuhnert.
Titze ist ein schweigsamer Mann, meistens hat er die Arme verschränkt und die Mundecken leicht nach unten gezogen. Eigentlich wäre er noch immer gern Polizist, wie er sagt. Aber er habe einen Dienstunfall gehabt und danach sieben Operationen. Manchmal setzt er an und will etwas sagen, aber Kuhnert ist schneller. Der AfD-Mann aus Weisswasser gibt gern den Welterklärer. Vor allem aber ist er begeistert von den jüngsten Wahlerfolgen. «Uns wählt der komplette Querschnitt der Gesellschaft», sagt er. Wie zum Beweis fügt Titze hinzu, «mein Hausarzt hat mich auch gewählt». Kuhnert: «Es gibt keine Alternative zur Alternative!» Aber warum wählen gerade in Neisseaue so viele Leute die AfD? «Die Region fühlt sich abgehängt», sagt Kuhnert. «Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist so. Die Industrie siedelt sich mittlerweile in Polen an.»
Das eigene Unglück scheint sich im Erfolg der Polen noch zu vergrössern. Titze sagt: «Die Wirtschaft fehlt, die Jugend zieht weg. Viele Handwerker wollen junge Leute gar nicht mehr ausbilden, weil diese ohnehin in den Westen auswandern.» Für Kuhnert ist das Konzentrat aller Probleme die geringe Kaufkraft. Titze kann das nur bestätigen: «Die Leute können sich ja ein Bier im Gasthaus kaum noch leisten.» Der pure Patriotismus ende beim Portemonnaie, erklärt Kuhnert. Für den Friseur, Zigaretten und zum Tanken fahren viele Deutsche, die im Grenzgebiet leben, nach Polen.
Eine tragende Rolle für den Erfolg der AfD spiele auch die Flüchtlingskrise, sagt Kuhnert. «Man will hier keine Zustände wie in Berlin.» Aber eigentlich geht es nicht einmal um Berlin, es geht schon um Görlitz und Zwickau. So peripher die Menschen auch leben, viele haben Angst, dass sie ihre Heimat irgendwann nicht mehr erkennen könnten. Titze erzählt, wie er kürzlich durch die Stadt spaziert sei, in der er geboren wurde. In der Einkaufsstrasse von Zwickau sehe es heute aus wie auf einem türkischen Basar. Titze wirkt weniger empört als enttäuscht.
Der Bäcker hört den Neopolitikern mit grimmiger Miene zu. Aber nur wenn keine Kunden im Laden sind. Irgendwann fragt er die AfD-Männer: «Denken Sie tatsächlich, dass die Presse Ihnen hilft?» Er rät ihnen, besser zu schweigen, denn Journalisten würden nur Unsinn verbreiten. «Jetzt haben wir dieselbe Situation wie am 17. Juni 1953», sagt er. «Journalisten kommen zu uns, um Sensationsberichte zu schreiben. Vorher hat sich für den Osten niemand interessiert!» Kuhnert beschwichtigt den Bäcker und macht seine heiser-feine Stimme noch etwas feiner. Der Vergleich der jetzigen politischen Situation mit dem Volksaufstand von 1953 in Berlin scheint niemanden zu wundern. Es sind die Relationen, in denen man hier denkt. Der Kampf gegen die SED wird bald mit dem Kampf gegen die CDU verglichen, der Volksaufstand von 1953 mit der Europawahl von 2019, die politischen Umbrüche der heutigen Zeit mit der Wende von 1989.
Warum aber ist das Land gespalten, warum sieht man die Welt im Osten anders als im Westen? «Hier gibt es ein Gespür dafür, wie wichtig Freiheit und Demokratie sind», sagt Kuhnert. «Wir mussten uns das erst erkämpfen. Die Menschen hier haben eine feine Sensorik, wenn die Freiheit infrage gestellt wird.» In der Landbäckerei in Zodel wirkt es manchmal fast so, als sei die feine Sensorik im Osten dreissig Jahre nach der Wende noch ein bisschen zu fein justiert. Wer stellt die Freiheit infrage?
In Zodel gibt es einen Blumenladen und «Zimmi’s Einkaufsmarkt», hier kann man Esswaren, Stützstrümpfe und die «Bild»-Zeitung kaufen. Die Bank hat vor einigen Jahren geschlossen, die Post gibt man bei «Zimmi’s» auf. Auch einen Allgemeinmediziner gibt es vor Ort, aber dieser ist von der Pensionierung nicht mehr weit entfernt, wie es heisst. Obwohl sich auf der Strasse kaum Menschen bewegen, haben fast alle Häuser Vorhänge oder Rollos. Zäune begrenzen die Grundstücke. Auf Schildern wird vor Hunden gewarnt. Rentner sitzen nicht selten unter einer Pergola und beobachten die ziemlich übersichtliche Lage. Wie ein Krisengebiet sieht Neisseaue nicht aus. Im Gegenteil, wo Häuser bewohnt sind, strahlen sie das kleine Glück auf dem Land aus. Kuhnert hat dafür auch eine Erklärung parat: Das rühre vom guten Charakter der Menschen hier. Es gehört zu den Prinzipien der AfD: Alles Gute kommt aus dem Innern des sächsischen Menschen, alles Böse von den Regierungen in Dresden und in Berlin oder aus dem Ausland.
«Für mich ist die AfD ein unsichtbares Phänomen, die Partei ist hier gar nicht greifbar», sagt Evelin Bergmann, die Bürgermeisterin von Neisseaue. Ihr Büro liegt in Gross-Krauscha, ziemlich in der Mitte der Gemeinde. Es gebe hier keine AfD-Politiker, sagt die Bürgermeisterin, und auch keine Ausländer, abgesehen von ein paar polnischen Mitbürgern und einem Kenyaner, der in Einkaufszentren exotische Früchte verkaufe. Bergmann wirkt nach der Europawahl etwas ratlos. In ihrem Büro zählt sie unermüdlich die Vorzüge ihrer Gemeinde auf: Hausarzt, Grundschule, drei Kindereinrichtungen. Der Wegzug von jungen Leuten sei gestoppt worden, Familien würden nun wieder eher hierbleiben. «Es ist eigentlich alles da, was der Mensch braucht. Die Leute sind eigentlich rundum versorgt», sagt die Bürgermeisterin.
Wenn man als Politiker Unzufriedene ärgern will, sagt man ihnen am besten, dass es ihnen gutgehe. So weit geht Bergmann nicht, aber sie sieht die Probleme vor allem auf der Ebene der Gefühle. Ihre Diagnose lautet: «pauschale Zukunftsangst, Angst vor Altersarmut und sozialem Abstieg». Die Menschen würden sich um ihre Renten sorgen, ausserdem hätten sie Angst, dass ihnen von Fremden etwas weggenommen werden könnte. Es sei richtig, dass es in Neisseaue kaum Arbeit gebe, aber die Menschen fänden Jobs in der Nähe, in Görlitz, Niesky und Kodersdorf.
Die AfD-Wähler seien zum grossen Teil Protestwähler, die mit der Sozial- und der Asylpolitik haderten, ist die Bürgermeisterin überzeugt. Die sächsische Regierung habe in der Vergangenheit aber auch Fehler gemacht, räumt sie ein. In den Städten Chemnitz, Leipzig und Dresden seien Leuchttürme gesetzt worden. Der ländliche Raum sei hingegen lange Zeit sträflich vernachlässigt worden.
Bergmann ist seit 2013 parteilose Bürgermeisterin. Ihre Tochter ist nach Dresden gezogen – und wer einmal weg sei von Neisseaue, der komme nicht wieder zurück. Sie selbst will in der Gemeinde bleiben, weil sie hier ihre Wurzeln habe und sich wohl fühle. Die Mentalität der Menschen habe sich aber grundlegend geändert. Früher hätten die Leute selber noch mehr angepackt. Heute gelte das Prinzip: «Liebe Gemeinde, mach mir das Leben schön!»
Jürgen Bergmann hat etwas für Neisseaue gemacht. Er ist so etwas wie der Vorzeigebürger der Bürgermeisterin (die beiden sind nicht verwandt). Dabei ist er der vielleicht untypischste Mensch in der ganzen Gegend. Bergmann ist ein exzentrischer Waldbruder, der im nördlichsten Zipfel der Gemeinde die sogenannte Kulturinsel aufgebaut hat, einen Freizeitpark über sieben Hektaren inklusive Baumhaus-Hotel. Der Park ist sein Lebenswerk, Bergmann selbst schläft in den Bäumen, und mittlerweile baut er Spielplätze auf der ganzen Welt.
Zum kollektiven Zustand in Neisseaue sagt er: «Die Leute fühlen sich unzufrieden, unmündig und beschissen.» Die AfD biete den Menschen nun ein «Podium zum Meckern – NPD wollten die meisten nicht wählen, wer will schon ein Nazi sein? Aber AfD geht.»
Zu DDR-Zeiten habe es hier «null Kriminalität» gegeben, das habe sich mit der Grenzöffnung zu Polen geändert. Bergmann spricht von Raubzügen, die stattfänden. Ihm selbst seien erst gerade wieder Kabel geklaut worden. Das Problem sei, dass die Polizei nicht durchgreife: «In Bayern werden Diebe erst mal eine Nacht eingesperrt, hier ist man nach zwei Stunden wieder frei.» Das führe dazu, dass die Verbrecher immer frecher würden. Aber auch die Vorurteile über die Polen seien damit in der Region eher noch gewachsen. Früher hätten DDR-Bürger gedacht, dass die Polen faul seien, weil bei denen so viel Müll herumgelegen sei. Was natürlich Unsinn ist, wie Bergmann betont, die Polen seien im Gegenteil sehr fleissig. Als die Grenze geöffnet wurde und die Diebstähle anfingen, hiess es bald: Polen klauen.
Die Deutschen und die Polen seien in dieser Region nicht zusammengewachsen, sagt Bergmann. Er selber versucht mit seinem Park ein wenig Gegensteuer zu geben. Die Hälfte seines Personals kommt aus Polen.
Im Ortsteil Kaltwasser, im Nordwesten von Neisseaue, leben etwa 200 Menschen. Wie in jedem grösseren Dorf in dieser Region gibt es hier eine freiwillige Feuerwehr und ein sogenanntes Ortschaftszentrum, in dem Feste stattfinden können. Es ist die Mehrzweckhalle im Kleinen und ein notdürftiger Restaurant-Ersatz. Das wirkliche Zentrum des Dorfs ist aber der Kinderspielpark von Peter Kuhnt, den alle Kuno nennen. In der Monotonie der Gegend scheint es ein besonderes Bedürfnis nach ein wenig Ablenkung, Vergnügen und Wunderwelten zu geben. Bei Kuhnt gibt es einen alten Helikopter zu sehen, ein paar Zwergziegen, Tretboote und so weiter – kleine Attraktionen. Das Besondere ist aber, dass sich dieser Park in den letzten 26 Jahren wohl fast gar nicht verändert hat. Es wirkt hier so, als sei die Zeit Anfang der neunziger Jahre stillgestanden. Vielleicht sogar noch früher, denn der Park dürfte schon in seinen Anfängen nicht ganz modern gewesen sein.
Viele Leute kämen hierher, die schon als Kinder da gewesen seien, sagt Kuhnt. Gleich am Eingang steht Charlie, ein Clown, der etwas sagt, wenn man eine Münze in den Automaten einwirft. Es scheint sich um ein Kultobjekt zu handeln, denn viele Leute können die Sprüche von Charlie auswendig mitreden. Auch ein Riesengorilla ist im Angebot, der laut Kuhnt einmal 10 000 D-Mark wert war und sich sogar bewegen könne. Aber Kuhnt bewegt ihn nicht, weil die Kinder Angst hätten.
Die letzten zwei, drei Jahre habe er zwar wieder etwas mehr verdient, aber das Geschäft sei doch schwierig. «Schon 3 Euro 50 Eintritt ist vielen zu teuer, manche Kunden können sich das nicht regelmässig leisten», sagt Kuhnt. Zwei Wiener Würstchen mit Toast kosten bei ihm 2 Euro 20, einen Kaffee gibt es für 1 Euro 50 und ein kleines Mineralwasser für 70 Cent.
Politisiert werde auf der Anlage nicht viel, sagt Kuhnt. Aber er hat klare Vorstellungen, warum die AfD hier so gut abschneidet. «Die Rentner kriechen auf dem Zahnfleisch, während manche Flüchtlinge in Markenklamotten rumlaufen und sich als Chef aufführen – das ist nicht in Ordnung», sagt Kuhnt. Hier sei das zwar nicht so, fügt er hinzu, aber in Görlitz schon.
80 Prozent der Leute, die in Neisseaue die AfD wählten, seien Unzufriedene, 20 Prozent wählten die Partei aus Überzeugung, glaubt Kuhnt. Was er selbst gewählt hat, will er nicht sagen. Nur so viel: Er habe auch Bauchschmerzen, wenn er an die AfD denke. Er fürchte, dass die Partei in der Zukunft zu weit nach rechts abdriften könnte.
Obwohl in Neisseaue fast 50 Prozent der Leute die AfD gewählt haben, will sich zu der Partei kaum jemand bekennen. Die Leute scheinen sich ein wenig zu schämen, und auch Misstrauen mag eine Rolle spielen. Wer AfD wählt, der schweigt jedenfalls lieber. Es ist kein lauter und fahnenschwenkender Protest, der hier stattfindet. Es scheint sich eher um eine Art kollektive Resignation zu handeln, angesichts einer Politik, die in der Gegend kaum etwas bewirkt hat. Man ist schon ein bisschen abgelöscht, aber doch noch wütend genug, um wählen zu gehen. Eine «neue Wende» wünschen sich wohl die wenigsten. Nur ein bisschen mehr Geld und weniger Unzufriedenheit.
Der Handyempfang reicht in Kaltwasser gerade, um ein Taxi zu bestellen. Mit dem öffentlichen Verkehr kann man sich in dieser Gegend nicht bewegen. Auf der Rückfahrt nach Görlitz nimmt der Taxifahrer Hoffmann seinen Verfallsbericht vom Vortag wieder auf. Er spricht über die «Langzeit-Asis», die sich in der Görlitzer Altstadt betrinken, und über das Bangen in der Stadt um die grossen Industriewerke von Siemens und Bombardier. Er redet über Rentner, die aus dem Westen zurückkehren, weil in Görlitz das Leben günstig sei. Und über die Jungen, die immer weiter wegziehen von Neisseaue nach Görlitz, nach Cottbus und Berlin.