Im Zahlungssystem der Notenbanken der Euro-Zone nimmt die Fragmentierung immer mehr zu. Während die Forderungen der Deutschen Bundesbank Rekordwerte erreichen, gilt das Gleiche für die Verbindlichkeiten der Banca d'Italia. Der grosse Knall käme dann, wenn Italien aus der Euro-Zone austreten würde.
Die Ungleichgewichte in der Europäischen Währungsunion sind in den vergangenen Monaten auf Rekordwerte gestiegen. Im Juni erreichten die Forderungen der Deutschen Bundesbank im Zahlungsverkehrssystem der Euro-Zone den Höchststand von 976 Mrd. €. Damit umfassen die Forderungen der Bundesbank im Rahmen dieser sogenannten Target-2-Salden erstmals rund 1 Bio. €. Der grösste Schuldner in diesem System ist die italienische Notenbank. Die Banca d’Italia weist per Ende Mai Verbindlichkeiten in Höhe von 465 Mrd. € auf, ebenfalls ein Rekordwert. Danach folgen die spanische Notenbank (394 Mrd. €), die EZB selbst (247 Mrd. €) und die Banque de France (83 Mrd. €). Bei der Bedeutung der Target-2-Salden scheiden sich die Geister. Sicher ist jedoch, dass die Ungleichgewichte im Zahlungssystem der Euro-Zone eine hohe Sprengkraft für den Fall bergen, dass ein Land oder gar mehrere Länder aus der Währungsunion austreten.
Als Grund für den Sprung in den Target-Salden im Mai und Juni machten einige Beobachter die Bildung der neuen Regierung in Italien aus, deren Protagonisten sich vergleichsweise kritisch gegenüber der EU und dem Euro gezeigt hatten. Der Ökonom Frank Westermann von der Universität Osnabrück, der bereits länger zu den Target-Salden forscht, sieht das allerdings nicht so eindeutig. Der Sprung im Mai sei zwar aussergewöhnlich gewesen, aber noch kein Trendbruch.
Von Anfang bis Mitte 2017 hätten sich im Rahmen der italienischen Bankenkrise deutlich grössere Bewegungen in den Salden ergeben. Allerdings ist Westermann schon der Meinung, dass der starke Anstieg der Bundesbank-Forderungen in den vergangenen Jahren die Furcht vor einem Austritt Italiens aus der Währungsunion zeige. Das Auseinanderlaufen der Salden spiegele nämlich die Ängste von Marktteilnehmern, Geld zu verlieren, wenn dieses in Italien gehalten wird. Westermann ist inzwischen über die schiere Grösse der Forderungen der Deutschen Bundesbank besorgt. Mit 1 Bio. € könnte man beinahe alle 30 DAX-Werte kaufen oder 1250 neue Elbphilharmonien bauen.
Während der europäischen Staatsschuldenkrise 2011/12 spiegelten die Target-2-Salden eine Kapitalflucht aus südeuropäischen in nordeuropäische Länder. Nach der Beruhigung der Krise sanken die Forderungen und Verbindlichkeiten der entsprechenden Notenbanken untereinander deutlich (vgl. Grafik). Doch seit dem Jahr 2015 laufen die Salden wieder auseinander. Laut der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Deutschen Bundesbank sind die Wertpapier-Kaufprogramme (APP) der EZB dafür die mit Abstand wichtigste Ursache, da durch das APP sehr viel Überschussliquidität in der Währungsunion entstanden ist.
Die EZB hat im Rahmen ihrer verschiedenen Kaufprogramme überwiegend Staatsanleihen über gut 2,5 Bio. € erworben. Das Programm soll Ende 2018 allerdings auslaufen. Als Überschussliquidität bezeichnet man Zentralbankgeld, das Banken über ihre Mindestreservepflicht hinaus halten. Nach Berechnungen von Zentralbanken erhöht der Kauf von Wertpapieren im Rahmen des APP stetig die Target-Salden. Je gekauftem Euro würden die Target-Gesamtforderungen um etwa 30 Cent steigen, wovon 20 Cent auf die Forderungen der Bundesbank entfielen. Dieser Zusammenhang sei seit dem Jahr 2015 relativ stabil.
Kritiker sehen die Entwicklung der Target-2-Salden als ein Zeichen von Ungleichgewichten im Euro-Raum. Die grossen Forderungen der Zentralbanken von Deutschland, Luxemburg (202 Mrd. €) und den Niederlanden (116 Mrd. €) sowie die zugleich grossen Verbindlichkeiten der Notenbanken von Italien, Spanien und neuerdings auch Frankreich spiegelten zwar keine Kapitalflucht in Sicherheit mehr, wie während der Staatsschuldenkrise 2012.
Doch das Auseinanderdriften der Salden sei ein Zeichen dafür, dass Anleger ihr Geld lieber in sicheren Häfen liessen, als es nach Italien oder Spanien zu transferieren. Statt «Flucht in Sicherheit» könnte man den Vorgang nun «Bleibe in Sicherheit» nennen. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam bereits die niederländische Zentralbank im Juni 2016 im Rahmen einer Studie. Demnach spiegeln die Ungleichgewichte eine beständige Fragmentierung des europäischen Marktes. In einer gut funktionierenden Währungsunion sollten sich die Zentralbankgelder im Bankensystem jedoch gleichmässig verteilen, urteilten die niederländischen Ökonomen.
Wie auch immer, sollte allerdings ein Land mit hohen Verbindlichkeiten im Target-2-System aus der Währungsunion austreten, bestünde die Gefahr, dass die EZB Verluste erleidet. Schiede nämlich ein Land aus der Währungsunion aus, könnten die Verbindlichkeiten der betreffenden nationalen Zentralbank gegenüber der EZB zu Verlusten bei der EZB führen. Zwar bliebe der Schuldner, also die nationale Zentralbank, auch nach dem Austritt rechtlich bestehen, doch möglicherweise könnten Forderungen dann nur schwer eingetrieben werden. Dies gilt umso mehr, als die neue lokale Währung eines Landes mit hohen Target-Verbindlichkeiten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegenüber dem Euro stark an Wert verlieren würde.
Gegebenenfalls müssten aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten der nationalen Zentralbank bei der EZB Abschreibungen vorgenommen werden, die zu direkten Verlusten bei der EZB führen könnten. Dies wiederum würde indirekte Verluste bei der Bundesbank verursachen, da rechtlich eine Verlustteilung unter den nationalen Zentralbanken vorgesehen ist. Etwaige Verluste der EZB würden entsprechend dem Kapitalanteil der einzelnen nationalen Notenbanken am Kapital der EZB verteilt. Die Bundesbank müsste dann schlimmstenfalls für gut 25% der EZB-Verluste geradestehen.
Bei einem Vortrag in Frankfurt in diesem Sommer hatte der Italiener Lorenzo Bini Smaghi, bis 2011 Mitglied im Direktorium der EZB, gesagt, dass beim Austritt Italiens aus der Währungsunion die Verbindlichkeiten im Target-2-System nicht zurückgezahlt würden. Zwar bewegt sich Bini Smaghi, der seit Anfang 2015 als Chairman der französischen Grossbank Société Générale amtiert, seit längerem nicht mehr im direkten Umfeld der EZB und der Banca d’Italia. Doch seine Äusserungen dürften zeigen, wie man zumindest in Italien über die Erfüllung der Verbindlichkeiten im Extremfall denkt.
ra. Frankfurt · Target 2 steht als englisches Kürzel für Trans-European Automated Real-time Gross settlement Express Transfer system. Es ist das Zahlungsverkehrssystem für nicht bare Individualzahlungen in Echtzeit im System der Notenbanken der Euro-Zone. Es dient der Integration der Geld- und Finanzmärkte, wurde geschaffen, damit der geldpolitische Transmissionsmechanismus im Euro-Raum funktioniert, und wickelt laut Bundesbank im Durchschnitt 340 000 Zahlungen im Wert von mehr als 1,7 Bio. € pro Tag ab.
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