Es ist die grosse lastende Frage: Ein europäisches Volk, was wäre das?

Massenimmigration, Terrorismus, Ungleichheit: Der europäische Kontinent steht unter ungeheurem äusserem und innerem Druck, die Union steckt in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Überleben kann sie nur, wenn sie zu einem geopolitischen Grossraum wird. Inspiration bieten ein paar Philosophen, unter ihnen, ja, auch Carl Schmitt.

Roberto Esposito
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Derzeit existiert kein europäisches Volk, so wie es kein einheitliches Volk innerhalb der einzelnen Staaten gibt. In jedem Land stehen sich zwei Völker gegenüber, die durch den ungleichen Zugang zu Chancen gekennzeichnet sind. (Bild: Etienne Laurent / EPA)

Derzeit existiert kein europäisches Volk, so wie es kein einheitliches Volk innerhalb der einzelnen Staaten gibt. In jedem Land stehen sich zwei Völker gegenüber, die durch den ungleichen Zugang zu Chancen gekennzeichnet sind. (Bild: Etienne Laurent / EPA)

Der andauernde Eindruck, Europa stehe vor einer letzten, entscheidenden Prüfung, war noch nie so stark wie in letzter Zeit. Es stellt sich wirklich die Frage, ob Europa bereits der Vergangenheit angehört oder sein Ende noch bevorsteht; ob es noch möglich ist, das Ende abzuwenden, oder das Schicksal der Europäischen Union bereits besiegelt ist.

Wie konnte es so weit kommen? Die Ursachen für die heutige Situation sind vielfältig, und ihre Wurzeln reichen bis in die Zeit zurück, als der Integrationsprozess begann. Zu den weit zurückliegenden Ursachen kommen jedoch weitere und viel aktuellere hinzu, die der Krise eine völlig neue Dimension verleihen und unseren Kontinent an den Rand der Auflösung gebracht haben.

Was sich in jüngerer Vergangenheit ereignet hat, ist die Verschränkung von drei äusserst schweren Krisen, oder besser: die dramatische Verschärfung des bestehenden krisenhaften Geschehens in Stadien zunehmender Ernsthaftigkeit. Ihnen allen liegt dasselbe biopolitische Profil zugrunde. Die Wirtschaftskrise, von der Europa in den letzten Jahren erschüttert wurde, hat die europäischen Völker bis ins Mark getroffen und einige von ihnen in einen unerträglichen Zustand versetzt. Ich denke nicht nur an die Ereignisse in Griechenland, sondern auch an die vielen «griechischen Syndrome», die die europäischen Länder ausnahmslos zerrüttet und Europa in zwei «Völker» gespalten haben, deren Ungleichheit in Bezug auf Chancen und Ressourcen stets zunimmt.

Drei Krisen

Zur Wirtschaftskrise ist eine zweite Krise hinzugekommen, die – ausgelöst durch die unkontrollierte Zunahme der Migrationsströme – mit der ersten gleichsam verschmolzen ist. Auch in diesem Fall haben wir es mit einem zutiefst biopolitischen Umbruch tu tun, und dies nicht nur insofern, als es für Hunderttausende Menschen auf der Flucht vor grausamen Zuständen um Leben und Tod geht. Der Umbruch ist auch deshalb biopolitisch, weil er eine bis vor wenigen Jahren unvorstellbare ethnische Veränderung der europäischen Bevölkerung eingeleitet hat.

Die dritte Krise – ausgelöst durch den islamischen Terrorismus – hat den Tod in viele europäische Städte gebracht und unsere Identität überall tief verwundet zurückgelassen. In diesem Fall sollte jedoch nicht von einer biopolitischen, sondern von einer thanatopolitischen Krise die Rede sein – nicht von einer Politik des Lebens, sondern von einer Politik des Todes. Eines Todes, der von Menschen zugefügt wird, die sich selbst dem Tod hingeben und deren einziges Ziel darin besteht, so viele Menschenleben wie möglich zu vernichten.

Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte der Sieg, der nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 in Reichweite schien, in solch eine vernichtende Abwärtsspirale umschlagen? Diese Entwicklung resultiert meiner Meinung nach aus der Entscheidung zu Beginn des Integrationsprozesses, die wirtschaftliche Sphäre zu Lasten der politischen Dimension zu bevorzugen. Unter den Gründungsstaaten ist dies vor allem auf die Bestrebungen Frankreichs zurückzuführen – eines Landes, das sich als unfähig erwiesen hat, auf den eigenen Status einer Kolonialmacht zugunsten des weitgreifenden Projekts eines föderalen Europas zu verzichten.

Frankreich war sich unter De Gaulle der Notwendigkeit bewusst, die nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und dem verlorenen Krieg rasch wiederhergestellte Wirtschaftsmacht Deutschland durch eine Reihe von gemeinsam beschlossenen Regeln und diplomatischen Vereinbarungen im Zaum zu halten. Dennoch war das Land nicht bereit, das eigene militärische und auch das Atompotenzial in den Dienst eines föderativen Projekts zu stellen. Die andere europäische Atommacht – Grossbritannien – war an diesem Projekt ohnehin nicht beteiligt und zu dieser Zeit bereits bemüht, die transatlantische Verbindung mit den Vereinigten Staaten zu stärken.

Der Platz der Politik bleibt leer

Alle Schritte, die ab diesem Zeitpunkt unternommen wurden (einschliesslich der versäumten Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee), sind Konsequenzen jener ersten Entscheidung. Man war der Überzeugung, die politisch-institutionelle Einheit würde sich letztlich aus der wirtschaftlichen Integration und deren Vollendung durch die Einführung der Einheitswährung ergeben. Es kam anders, und es hätte auch nicht anders kommen können, dies aus zwei Gründen.

Erstens: Mit der Ablösung vom nationalen Rahmen, in dem sie sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts abgespielt hatte, nahm die wirtschaftliche Entwicklung – wie dies für den kapitalistischen Markt charakteristisch ist – eine globale und nicht mehr nur kontinentale Dimension an. Zweitens: Trotz oder vielleicht gerade wegen der Währungsunion neigt die Wirtschaft bei fehlender politischer Regulierung dazu, zu einem trennenden statt zu einem einenden Element zu werden. Dies ist auch in Europa der Fall gewesen, wie es die Trennung zwischen starken und schwachen Ländern am deutlichsten zeigt.

Allein beharrliche Anstrengungen zugunsten der politischen Integration hätten es ermöglicht, Europas Wirtschaftswachstum gleichsam einzudämmen und dadurch einen Schutz zu errichten gegen die von der asynchron verlaufenden Globalisierung ausgelösten Verarmungsprozesse. Man hat sich stattdessen der Illusion hingegeben, das europäische Recht könne diese Funktion übernehmen – ein Recht, das als Übergang und Bindeglied zwischen dem wirtschaftlichen und dem politischen Einigungsprozess Europas verstanden wurde. Diese Annahme erklärt auch den Aufbau des komplexen institutionellen Gefüges, das im Laufe der Zeit um oft gegeneinander konkurrierende Machtzentren entstanden ist.

Selbst dieser Entwurf war jedoch zum Scheitern verurteilt. Gewiss, die juridische Dimension ist unentbehrlich, um individuelle und kollektive Rechte zu gewähren. Sie eignet sich jedoch nicht dazu, den leeren Platz der Politik zu besetzen. Dies führte letztlich dazu, dass die Europäische Union sehr bald begann, unter der Last eines ausufernden Regelwerks zu leiden, das nicht selten im Konflikt mit der Gesetzgebung der einzelnen Mitgliedsstaaten stand und aus dem sich schliesslich eine Art Dyarchie entwickelte, die sowohl das vereinte Europa als auch seine Nationalstaaten schwächte. Geschwächten Nationen steht heute ein noch schwächerer Föderalismus gegenüber.

Institutionelles Chaos

Was in Hinblick auf gemeinsame Regeln zwischen Brüssel und Strassburg beschlossen wird, wird immer öfter von Abmachungen zwischen Berlin und Paris zunichtegemacht. Daraus ergibt sich ein institutionelles Chaos, dessen fragilstes Element das Europäische Parlament ist – das de facto einzige direkt gewählte, demokratische Organ der Union, aber auch eine Institution, an deren Wahl sich immer weniger europäische Bürger beteiligen. Wie soll eine solche Konstruktion dem Druck von wirtschaftlichen Machtzentren standhalten, die sich weder dem allgemeinen noch dem partikularen Interesse der einzelnen Länder verpflichtet fühlen, sondern einzig und alleine im Dienste der globalen Finanzwirtschaft stehen, deren Hauptanliegen wiederum darin liegt, die Union in einem Zustand immerwährender Schwäche und Unordnung zu halten?

Das bereits unregierbare, von der langanhaltenden Wirtschaftskrise zusätzlich geschwächte Gebilde ist von zwei weiteren, sich überkreuzenden Krisen – Migration und Terrorismus – überlagert worden, was schliesslich zu einer Implosion geführt hat. Das Ergebnis, das heute vor aller Augen liegt, ist die Tatsache, dass Europa – von Handlungsfähigkeit ganz zu schweigen – nicht einmal in der Lage ist, mit einer einzigen Stimme zu sprechen.

Der Rahmen, in dem sich die Debatte unter Politikern, Juristen und Intellektuellen entfaltet hat, ist alles andere als hilfreich, wenn es darum geht, einen Ausgang aus der Krise zu finden. Denn die Debatte selbst neigt gewissermassen dazu, den Engpass zu reproduzieren, in den konkurrierende Modelle des Verhältnisses von Globalität und Lokalität geraten sind. Im Mittelpunkt der Diskussion steht der Konflikt zwischen der Hypothese eines Bundesstaats beziehungsweise eines Staatenbundes, sprich zwischen den Verfechtern einer weitreichenden Souveränitätsabgabe seitens der einzelnen Staaten und deren Kritikern, die eine so umfassende Abtretung von Souveränität für unmöglich oder gar schädlich halten.

Die Idee der Souveränität

Betrachtet man diese Alternative unter dem Gesichtspunkt der philosophischen Genealogien, so wird bald ersichtlich, dass es sich keineswegs um eine neuere Auseinandersetzung handelt. Die Positionen, die sich heute gegenüberstehen, finden nämlich ihre massgeblichen Vordenker in Kant und Hegel. Während Kant mit seinem kosmopolitischen Projekt eines ewigen Friedens die föderale Perspektive in gewisser Weise vorwegnahm, dient Hegel, für den das Leben des Geistes in der staatlichen Ordnung kulminiert, heute noch als Legitimationsquelle für die Verteidigung der nationalen Souveränität.

Indem wir diese über zweihundert Jahre alte philosophisch-politische Auseinandersetzung rekonstruieren, dürfen wir den historischen Rahmen der Problemstellung nicht aus den Augen verlieren und dadurch Gefahr laufen, der damaligen Problematik unsere aktuelle Sicht aufzudrängen. Im Vergleich zu Kants kosmopolitischem Projekt stand Hegels Perspektive stärker im Einklang mit einer Epoche, die von der Geburt und der unaufhaltsamen Entwicklung der Idee der Nation geprägt war. Ohne diese Idee wäre der Staat nichts anderes als ein leerer, rein formaler Behälter gewesen, bar jener historischen Substanz, die unterschiedliche Völker in einem gemeinsamen politischen Projekt zu vereinen vermag.

Die politische Ordnung, die zu Hegels Zeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, zeigte bereits wenige Jahrzehnte später ihre ersten Risse, die schliesslich im post-hegelianischen Denken ausgehend von Marx und Nietzsche ihren Niederschlag fanden. Die entscheidende Wende kam mit dem Übergang von der Idee der Nation, deren Verbreitung auf die Französische Revolution zurückging, zu den Begriffen von Nationalismus zuerst und Imperialismus später, die Europa in den Sog von Totalitarismus und Krieg stürzen würden. Es ist bemerkenswert, dass der Zeitpunkt der äussersten territorialen Expansion der europäischen Mächte mit der ersten grossen Krise Europas zusammenfällt – eines Europas, das bald, wie Tocqueville frühzeitig erkannte, von den wachsenden Mächten Russland und Amerika überholt werden würde.

Darf Europas Einflussverlust als Souveränitätsverlust begriffen werden? Diese Frage, die heute im Mittelpunkt einer breiten Debatte unter Historikern, Philosophen und Juristen steht, verlangt eine ausgewogene Antwort. Aus einem historischen Gesichtspunkt kam der Idee der Souveränität in der modernen, nicht nur europäischen Geschichte zweifellos grosse Bedeutung zu. Ohne souveräne Staaten hätte die westliche Welt den zersetzenden Kräften nicht widerstehen können, die sie im Laufe der Jahrhunderte bedrohten.

Politik und Leben

Den souveränen Staaten gelang es, innerhalb der eigenen festen Grenzen Konflikten sozialer, ethnischer und religiöser Natur Einhalt zu gebieten, die andernfalls die europäische Zivilisation vernichtet hätten. Der souveräne Staat stellt übrigens heute noch, innerhalb und ausserhalb Europas, das weitaus verbreitetste politische Organ dar. Dennoch war er ab einem bestimmten Zeitpunkt, der sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingrenzen lässt, unfähig, die sozialen und kulturellen Dynamiken zu lenken, die den Planeten radikal verändert hatten.

Einerseits sind diese Dynamiken auf das Phänomen der Globalisierung zurückzuführen, deren gewaltige Auswirkungen an die Folgen der anthropologischen Mutation erinnern, die die grossen geografischen Entdeckungen der frühen Moderne hervorbrachten; andererseits sind sie mit dem anfangs angedeuteten Prozess verbunden, der sich – zumindest seit Michel Foucaults Studien – unter dem Paradigma der «Biopolitik» subsumieren lässt.

Damit ist die zunehmend enge Beziehung gemeint, die sich seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts zwischen der Politik und dem biologischen Leben von Individuen und Bevölkerungen etabliert hat. An dieser Stelle könnte man natürlich einwenden, Politik habe seit jeher mit dem biologischen Leben zu tun und seit ebenso langer Zeit bilde das Leben den Sinnhorizont der Politik. Tatsache ist aber, dass die jahrhunderte- wenn nicht jahrtausendlang währende Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem unmittelbaren Implikationsverhältnis wurde.

Diese Entwicklung führte dazu, dass das Leben zum vorrangigen Ziel der Macht und die Macht zum entscheidenden Bereich wurde, in dem das Leben zugleich geschützt und unterworfen wird. Während die Menschen, so Foucaults These, bis zu im 18. Jahrhundert Lebewesen waren, die unter anderem Politik machten, begannen sie ab einem bestimmten Moment, aus dem Leben selbst den zentralen Gegenstand ihrer Politik zu machen.

Ein Weltstaat?

Die Überschneidung beider Dynamiken – Globalisierung und Biopolitik – hat zu einer tiefen Veränderung der sozio-politischen Beziehungen geführt. Eine solche Transformation ist innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen nicht mehr steuerbar, weil sie ebendiese Grenzen in jeder Hinsicht überschreitet. Die Finanzwirtschaft und die Informationstechnologie sind per se sämtlichen territorialen Grenzen entzogen, und ebenso sind es die wichtigen ökologischen und Umweltfragen unserer Zeit.

Es ist offenkundig, dass sich keines dieser Phänomene innerhalb von staatlichen, räumlich beschränkten Entitäten eingrenzen lässt. Wird etwa ein Atomkraftwerk in der Schweiz oder in Frankreich gebaut, bleibt Italien, das selbst keine Kernkraft erzeugt, von den möglichen Folgen nicht gefeit. Auf ähnliche Weise kann sich kein Land von den informationstechnischen Verknüpfungen loslösen, die es mit allen anderen Ländern verbinden.

Dies bedeutet keineswegs, dass sich die ganze Welt in einer einzigen politischen Entität vereinigen solle – in einem Weltstaat also, wie er Ernst Jünger oder Alexandre Kojève vorschwebte. Es bleibt dennoch die Tatsache bestehen, dass die Nationalstaaten zwar noch funktionierende Grosskörper sind, sich aber als ungeeignet erwiesen haben, mit dieser Komplexität umzugehen. Es ist kein Zufall, dass die Mächte, die die Welt in politischer, militärischer und finanzieller Hinsicht dominieren, zwar Staaten sind, aber eben solche, die – wie die USA, China oder Russland – flächenmässig mit Kontinenten vergleichbar sind.

Bereits in «Der Nomos der Erde» aus 1950 hatte Carl Schmitt von «Grossraum» gesprochen und darin die Drehscheibe der zukünftigen Weltpolitik erkannt. Ein ähnlicher Ausdruck («Lebensraum») war von den Nationalsozialisten verwendet worden, um den eigenen Anspruch auf Annexion der deutschsprachigen Gebiete ausserhalb Deutschlands zu begründen. Die instrumentale, aggressive Verwendung des Begriffs seitens der Nationalsozialisten mindert keineswegs die Relevanz des Konzepts vom Grossraum, das in der Tat wieder in den Mittelpunkt der zeitgenössischen Geopolitik gerückt.

Entscheidung über Leben und Tod

Vor dem Horizont solcher «Grossräume» von kontinentaler Ausdehnung und angesichts seiner ausserordentlichen Geschichte und einzigartigen politischen, sozialen und kulturellen Ressourcen hätte Europa die Möglichkeit gehabt, seine Stimme kräftig zu erheben (eine Möglichkeit, die an sich immer noch besteht). Die Gründe, warum dies bisher nicht geschehen ist, wurden bereits erörtert. Ein Grossraum gewinnt nur dann an Bedeutung, wenn er sich nicht darauf beschränkt, ein grosser Markt zu sein, sondern die Züge eines politischen Organismus annimmt. Einzig und allein auf diese Weise kann es ihm gelingen, in den Kreis der Mächte zu treten, die das Schicksal der Welt bestimmen.

Gerade darin liegt jedoch auch die grösste Schwierigkeit. Wie bereits erwähnt, hat es Europa von Anfang an vorgezogen, einen nichtpolitischen Weg einzuschlagen. Hinzu kommt eine noch ernstere, damit verbundene Schwierigkeit, nämlich das Fehlen eines europäischen Volkes, das sich als solches bezeichnen könnte. Denjenigen, die sich in den letzten Jahren – allen voran Jürgen Habermas – für die Einführung einer europäischen Verfassung ausgesprochen haben, ist zu Recht entgegnet worden, dass eine Verfassung zwingend Ausdruck eines souveränen Volkes und dessen freien Willens sein muss.

Es stimmt zwar, dass ein Volk – wie Habermas seinen Kritikern erwiderte – nicht per definitionem gegeben sein muss. Ein Volk kann nämlich auch allmählich durch die Herausbildung einer bewussten Öffentlichkeit gleichsam erschaffen werden. Diese setzt jedoch wiederum, und darin liegt das Problem, transnationale, europäische Medien, aber vor allem eine gemeinsame Sprache voraus. Beide Voraussetzungen sind derzeit nicht gegeben. In Europa gibt es weder eine einflussreiche Tageszeitung mit transnationaler Reichweite noch einen Fernsehsender mit breitem europäischem Publikum. Dies erschwert die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit und, noch davor, eines Gemeinschaftsgefühls unter Völkern, die nicht in der Lage sind, sich sprachlich als einheitliches Volk zu artikulieren.

In diesem Stillstand, der beinahe den Austritt eines symbolisch wichtigen Landes wie Griechenland gekostet hätte und den freiwilligen Austritt eines in jeder Hinsicht entscheidenden Landes wie Grossbritannien bewirkt hat, wird die bereits ernste Lage durch den Druck, der von Immigration und Terrorismus ausgeht, drastisch verschärft. Dies zwingt die europäischen Regierungen zu Entscheidungen, bei denen es einerseits wörtlich um Leben und Tod geht und andererseits das Fortbestehen dessen, was der Name Europa bisher bezeichnet hat, auf dem Spiel steht.

Offenheit verlangt sichere Grenzen

Grenzschliessungen und ein Aussetzen des Schengen-Abkommens – ein Kniefall vor den rückschrittlichen Impulsen mancher Mitgliedstaaten – würden den Kontinent um Jahrzehnte zurückwerfen, ohne die dringenden Probleme zu lösen. Das Hinausschieben des gegenwärtigen Chaos stellt jedoch keine Alternative dar, die zu besseren Ergebnissen führen könnte. In gleicher und womöglich dramatischerer Weise droht der Terrorismus, einen noch verheerenderen politischen, sozialen und kulturellen Verfall herbeizuführen.

Keines der zwei Phänomene – Massenimmigration und fundamentalistischer Terror – lässt sich mit den immer schwächeren Mitteln der Nationalstaaten, sprich ohne Informationsaustausch und ohne eine effiziente Koordination der Erstaufnahmeeinrichtungen, bewältigen. Erst die Verstärkung der Kontrollen an den Aussengrenzen bietet eine realistische Möglichkeit, die internen Grenzen offen zu halten. Gleichermassen ist die einheitliche Verwaltung der Flüchtlingsströme aus den von Krieg und Not betroffenen Gebieten unerlässliche Bedingung für eine gerechte Lastenverteilung unter den europäischen Ländern und für eine Erleichterung der bereits untragbaren Lage in den südlichen Grenzregionen.

Dasselbe gilt für den Terrorismus: Der lückenlose Informationsaustausch unter den Mitgliedstaaten und eine gemeinsame Aussenpolitik sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass Terrorangriffe vereitelt und terroristische Strategien wirksam bekämpft werden können. Die jüngeren Ereignisse aus Belgien und Frankreich veranschaulichen am besten, welch unheilvolle Folgen der organisatorische und politische Zerfallsprozess innerhalb eines einzigen Landes zeitigen kann. Ähnliche oder noch gravierendere Konsequenzen für ganz Europa sind von der fehlenden Koordinierung unter den Ländern der Union zu erwarten.

Die entscheidende Frage, auf die sich heute schwer eine eindeutige Antwort finden lässt, lautet aber: Ist es vorstellbar, dass das, was im Laufe vieler Jahrzehnte nicht aufgebaut worden ist, unter dem Druck der Ereignisse innerhalb von wenigen Monaten entstehen könnte? Die Ungewissheit verleitet viele dazu, die Integrationsfront gleichsam zu verlassen, um dem antipolitischen Populismus und den nationalistischen Tendenzen zu frönen, die ganz Europa erfasst haben. Die in der Union sehr verbreiteten antieuropäischen Gefühle nehmen ihrerseits den verbliebenen Parteien den Mut, eine klare proeuropäische Stellung zu beziehen. Die Grenzübergänge zu schliessen und sich dabei der Illusion hinzugeben, man hätte einen Damm gegen die steigende Flut errichtet, ist verlockender, als sich neue, bisher unerschlossene Wege vorzustellen.

Doch gerade die Intensität der Krise könnte die aktuelle, allem Anschein nach festgefahrene Situation lösen. Dies ist schliesslich in allen kritischen und tragischen Phasen, die Europa in seiner tausendjährigen Geschichte erlebt hat, bereits der Fall gewesen. Europas Krisen haben, sofern diese als Anlass für radikale Veränderungen verstanden wurden, jenseits ihrer unmittelbaren negativen Auswirkungen auch einen produktiven Effekt gehabt. Waren es nicht die Religionskriege, die im 17. Jahrhundert zur Herausbildung eines ius publicum europaeum führten?

Ist der erste Entwurf einer europäischen Föderation nicht auf der Insel Ventotene entstanden, als anderswo noch der Krieg tobte? Unter dem Druck der Not ist man manchmal gezwungen, Entwicklungen zu antizipieren, die zu besseren Zeiten als noch vermeidbar oder zumindest aufschiebbar erscheinen. Wenn dies zutrifft, dann könnte die von der Verschränkung von Massenimmigration und Terrorismus ausgelöste, biopolitische Krise genau das einleiten, was die Wirtschaftskrise nicht bewirken konnte: eine grundlegende Neuaufstellung der Länder der Union durch eine europäische Fiskalpolitik, die den schwächeren Mitgliedstaaten effektiv zu helfen vermöchte.

Ein Horizont für alle

Vereinheitlichung der Migrationspolitik, Integration der nationalen Justizbehörden im Bereich der terroristischen Straftaten und Schaffung einer europäischen Polizeibehörde zur Überwachung der Aussengrenzen: Dies sind mögliche und notwendige Massnahmen, um Probleme zu lösen, die kein europäischer Staat im Alleingang bewältigen kann. Dabei handelt es sich natürlich um Notmassnahmen, die sich als völlig unzureichend erweisen, solange sie von einer gemeinsamen Politik und vor allem von einem gemeinsamen Horizont abgekoppelt sind. Ein solcher Horizont allein kann Europa eine neue Entwicklungsperspektive bieten und zur Verringerung der unhaltbaren Kluft zwischen reicheren und ärmeren Ländern, aber auch innerhalb der einzelnen Länder beitragen.

Um sich diesem Ziel anzunähern, ist eine Strategie erforderlich, die sich auf einer doppelten, verschränkten – politischen und wirtschaftlichen – Ebene entfaltet. Konkret bedeutet dies, dass die wirtschaftlichen Massnahmen (Gründung einer erneuerten Währungspolitik, Transfer von Ressourcen und Investitionsfähigkeit hin zu den schwächeren Ländern, gemeinsame Budgetpolitik im Dienste einer harmonisierten Entwicklung) einen präzisen politischen Charakter aufweisen müssen. Europa muss nicht sparen, sondern den Keynesianismus neu entdecken – schuldenfinanziertes Investieren, nicht Austerität lautet aus dieser – meiner – Sicht das Credo der Stunde (und des kommenden Jahrzehnts).

Ein solches Projekt der wirtschaftlichen Umstrukturierung ist nur dann ausführbar, wenn es gelingt, eine politische Kraft zu schaffen, die sich als Alternative zur konservativen Allianz zwischen Christ- und Sozialdemokraten positioniert und zugleich in der Lage ist, radikalere politische Gruppierungen und Bewegungen einzubeziehen. Allein ein derart ambitioniertes Programm, das eine Verbindung quer durch die europäischen Länder herzustellen vermöchte, könnte den ermüdenden Kontrast zwischen Verfechtern des Globalismus und Befürwortern der nationalen Souveränität überwinden, der heute sowohl die Union als auch ihre Mitgliedstaaten erheblich schwächt.

Der Anspruch, die Interessen des Volkes zu vertreten, darf nicht populistischen, antidemokratischen und rassistischen Parteien überlassen werden. Es geht letztlich darum, die falsche Alternative zwischen nationalen Demokratien und europäischer Demokratie zu brechen, indem man aus ersteren einen Katalysator für die zweite macht, und umgekehrt. Die spezifische Mission des europäischen «Grossraums» innerhalb des grösseren, globalen Raums könnte – und sollte – darin bestehen, eine Alternative zur gegenwärtigen Globalisierung aufzuzeigen.

Sich selbst verwandeln

Sich selbst verwandeln, um die Welt zu verwandeln. Im Laufe seiner gesamten Geschichte hat Europa im Grunde nichts anderes repräsentiert als einen spezifischen Gesichtspunkt auf sich selbst und die eigene Rolle in der Welt. Auch dann, wenn diese Perspektive von Egoismen und einem wie auch immer gearteten Willen zur Macht getrübt wurde, hat sich Europa nie von einer Reihe von Prinzipien losgesagt, die zwar oft verraten wurden, aber stets als unantastbar gegolten haben.

Vom italienischen Humanismus über die Französische Revolution bis zum deutschen Idealismus hat das europäische Denken stets ein emanzipatorisches Element enthalten, das auf den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und Völker verwies. Warum sollten wir diese Berufung gerade zu einer Zeit aufgeben, in der alle Menschen und alle Völker in einem Schicksal vereint sind, und zwar sowohl durch Instrumente der Massenvernichtung als auch durch solche, aus denen neue Möglichkeiten für die ganze Menschheit entspringen können?

Somit kehren wir zur anfangs gestellten Frage zurück, was das europäische Volk sei, aber vor allem, wie ein solches Volk entstehen könnte. Derzeit existiert kein europäisches Volk, so wie es kein einheitliches Volk innerhalb der einzelnen Staaten gibt. In jedem Land stehen sich zwei Völker gegenüber, die durch den ungleichen Zugang zu Chancen und Ressourcen gekennzeichnet sind.

Das zukünftige Volk Europas kann nur aus dem Zusammentreffen dieser zwei Völker entstehen, oder besser aus einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen denjenigen, in deren Händen sich ein Grossteil der Reichtümer befindet, und jenen, die sich mit dem kümmerlichen Rest abfinden müssen. Die künftige Aufgabe des europäischen Volkes soll darin bestehen, die Frage nach einem möglichen Ausweg aus dem aktuellen Engpass erneut zu stellen, einen anderen Kontinent zu denken und schliesslich zu versuchen, diese Phantasie zu verwirklichen.

Roberto Esposito gehört zu den wichtigen Philosophen der Gegenwart. Jüngst von ihm auf Deutsch erschienen: «Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens» (Diaphanes, 2018). – Aus dem Italienischen übersetzt von Federica Romanini.

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