Neutrinos sind die grossen Unbekannten der Teilchenphysik. Bis heute ist es nicht gelungen, ihre Masse zu bestimmen. Durch Messungen mit dem Katrin-Experiment weiss man nun immerhin, wie schwer diese Teilchen höchstens sein können.
Lange Zeit glaubten Teilchenphysiker, Neutrinos seien masselose Teilchen. Als sich jedoch Ende der 1990er Jahre die Hinweise häuften, dass Neutrinos im Flug ihre Identität wechseln können, musste man von dieser Vorstellung Abschied nehmen. Denn solche Neutrinooszillationen sind nur möglich, wenn die geisterhaften Elementarteilchen eine Masse besitzen. Diese Masse ist klein; so klein, dass sie bis heute nicht gemessen werden konnte. Mit dem Karlsruher Tritium-Neutrinoexperiment Katrin ist es einer internationalen Forschergruppe nun aber immerhin gelungen, eine scharfe Obergrenze für die Neutrinomasse abzuleiten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent müssen diese Teilchen leichter als 1,1 Elektronenvolt sein. Damit ist ihre Masse mindestens um einen Faktor 500 000 kleiner als die Masse des Elektrons.
Neutrinos bestehen aus einer Mischung von drei Komponenten. Je nach Mischungsverhältnis ergeben sich drei verschiedene «Geschmacksrichtungen», die Teilchenphysiker als Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino bezeichnen. Das Besondere ist, dass sich das Mischungsverhältnis während des Fluges verändert. So kann es passieren, dass ein auf der Sonne erzeugtes Elektron-Neutrino als Myon-Neutrino auf der Erde ankommt.
Diese Neutrinooszillationen verraten den Physikern zwar, wie gross die Massenunterschiede zwischen den drei Neutrinokomponenten sind, nicht aber, wie gross ihre absolute Masse ist. Einen Anhaltspunkt liefern kosmologische Beobachtungen. Aus der Art und Weise, wie sich die Materie im frühen Universum zu grösseren Strukturen zusammenballte, haben Kosmologen abgeleitet, dass die drei Komponenten der Neutrinos in der Summe nicht schwerer als 0,2 Elektronenvolt sein können. Damit scheinen kosmologische Beobachtungen die Neutrinomasse stärker einzuschränken als das Katrin-Experiment.
Doch wie das in der Kosmologie oft der Fall ist, fliessen in diese Abschätzungen Modellvorstellungen ein, die nicht unbedingt richtig sein müssen. Für Guido Drexlin vom Karlsruher Institut für Technologie, einen der beiden Sprecher der Katrin-Arbeitsgruppe, ist deshalb klar, dass diese Abschätzung durch eine direkte Messung der Neutrinomasse bestätigt werden muss. Das sähen im Übrigen auch die Kosmologen so.
Das Katrin-Experiment ist auch für die Verhältnisse der Elementarteilchenphysik gross. Es besteht aus einer 70 Meter langen Apparatur, mit der die Forscher den radioaktiven Zerfall von Tritiumatomen untersuchen. Dieses schwere Wasserstoffisotop hat eine Halbwertszeit von 12,32 Jahren und zerfällt unter Aussendungen eines Elektrons und eines Elektron-Antineutrinos in Helium-3. Bei diesem Zerfall wird immer die gleiche Energie freigesetzt, die sich jedoch unterschiedlich auf das Elektron und das Neutrino verteilen kann. In seltenen Fällen geht fast die gesamte Energie auf das Elektron über – bis auf die kleine Restenergie, die das Neutrino aufgrund seiner Ruhemasse besitzt. Im Energiespektrum der Elektronen sollte sich das Neutrino deshalb als kleine Delle bemerkbar machen. Aus der Tatsache, dass diese Delle mit dem Katrin-Experiment nicht beobachtet wurde, lässt sich eine Obergrenze von 1,1 Elektronenvolt für die Neutrinomasse ableiten.
Das jetzige Ergebnis beruhe auf einer relativ kurzen Messdauer von wenigen Wochen, sagt Drexlin. Schon jetzt sei die Messung um einen Faktor 2 genauer als frühere Labormessungen. Im Sommer habe man das Experiment weiter verbessert und werde die Messungen nun fortsetzen. In einigen Jahren sei mit einer Empfindlichkeit von 0,2 Elektronenvolt zu rechnen, einer Verbesserung der Genauigkeit um den Faktor 10 gegenüber heute. Dann werde man sehen, ob sich die direkte Messung der Neutrinomasse mit den kosmologischen Abschätzungen decke.
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