Lange war der Gänsegeier ein seltener Gast in der Schweiz. In den letzten Jahren haben Sichtungen des imposanten Greifvogels aber sprunghaft zugenommen. Wer den Geier jetzt noch beobachten will, muss sich jedoch beeilen.
Einen Geier bei der Nahrungssuche zu beobachten, gehört zu den spezielleren Naturerlebnissen. Hoch am Himmel, die riesigen Schwingen weit ausgebreitet, ziehen die Vögel auf der Suche nach Kadavern und anderen Resten verendeter Tiere am Himmel ihre Kreise. Was viele nur aus Natur-Dokus über die Savannen- und Steppengebiete Afrikas und Asiens kennen, ist auch immer häufiger in der Schweiz zu beobachten.
Denn zur Sichtung eines Bartgeiers oder Steinadlers hat sich mittlerweile noch ein anderer Höhepunkt auf Wanderungen hinzugesellt: die Beobachtung von Gänsegeiern. Die Tiere, deren eigentliches Verbreitungsgebiet in Südeuropa, Asien und vereinzelt in Afrika liegt, besuchen im Sommer immer öfter die Schweiz. Dabei waren Sichtungen bis vor wenigen Jahren äusserst selten. Denn die Schweiz liegt am Rand des Verbreitungsgebiets der wärmeliebenden Art.
Dass Sichtungen von Gänsegeiern in den letzten Jahren stark zugenommen haben, zeigen die Zahlen der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. So gab es in den Jahren von 1900 bis 1980 hierzulande lediglich zwölf Nachweise der Art. Danach stieg die Zahl der Beobachtungen sprunghaft an. Bereits Mitte Neunziger wurden jedes Jahr Gänsegeier gesichtet. Mittlerweile sind sogar Trupps von über 50 Individuen keine Seltenheit mehr.
Die starke Zunahme ist laut der Schweizerischen Vogelwarte Sempach wahrscheinlich auf ein Wiederansiedlungsprojekt in Frankreich zurückzuführen. Wegen des Projekts ist der dortige Brutbestand mittlerweile auf rund 2000 Paare angewachsen – doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Im Sommer streifen die Tiere dann weit umher und gelangen so auch in die Schweiz.
Die Chancen auf eine baldige Brut sind hierzulande aber trotz vermehrter Sichtungen gering. Die wärmeliebende Art tritt in der Schweiz klimabedingt nämlich erst im April auf – zu spät, um noch erfolgreich zu brüten. Ihr einziges Ei legen die Weibchen nämlich bereits im Januar oder Februar.
Vorerst dürfte der Gänsegeier in der Schweiz also lediglich Sommergast bleiben. Als solcher fallen die Vögel auch unkundigen Beobachtern auf: Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,6 Metern sind Gänsegeier nämlich grösser als Steinadler und nur wenig kleiner als Bartgeier. Ausgewachsene Tiere bringen bis zu elf Kilogramm auf die Waage. Trotz ihrer Grösse sind die die Vögel keine Jäger. Sie ernähren sich ausschliesslich von Aas.
Für Menschen sind die Tiere deshalb absolut ungefährlich. Im Ökosystem übernehmen die Geier gar eine wichtige Rolle als Gesundheitspolizisten. Indem sie herumliegendes Aas innert kürzester Zeit beseitigen, verhindern sie den Ausbruch übertragbarer Krankheiten.
Die besten Chancen, die imposanten Tiere zu beobachten, haben Wanderer in der Region Kaiseregg in der Nähe des Schwarzsees in den Freiburger Alpen. Das Gebiet hat sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Hotspot für Gänsegeier gemausert. Am 14. Juli konnten dort 116 Individuen beobachtet werden, wie Michael Schaad, Biologe bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, sagt. «Die Höchstzahl in diesem Sommer», so Schaad. Bereits im Vorjahr seien dort an einem einzigen Tag 131 Tiere gezählt worden.
Nebst den Westschweizer Alpen sind Beobachtungen grundsätzlich aber im ganzen Land möglich, «auch in felsigen Gebieten des Juras und im Mittelland», verrät Schaad. Wer bei Wanderungen in den Bergen mehrere grosse Vögel am Himmel kreisen sieht, sollte aufmerksam werden. Denn im Gegensatz zu den Einzelgängern Steinadler und Bartgeier sind die sozialen Gänsegeier oft in Gruppen unterwegs und suchen gemeinsam nach Nahrung. Schaad rät Wanderern, vor allem bei schönem Wetter den Himmel im Auge zu behalten: «Dann profitieren die Geier von thermischen Aufwinden und lassen sich besonders gut beobachten.»
Wer einen Gänsegeier noch dieses Jahr in der Schweiz sehen will, sollte sich aber beeilen. Bereits im Herbst nimmt die Zahl der Sichtungen spürbar ab. Seit letztem Jahr sei jedoch feststellbar, dass die Gänsegeier nicht nur immer häufiger, sondern auch immer länger in der Schweiz verweilen, sagt Schaad. Die Chancen, einen Gänsegeier am Himmel zu sichten, dürften deshalb noch bis in den Oktober hinein intakt sein.