Autofahren will gelernt sein. Junge saudische Frauen gehen in Jeddah zu einer Veranstaltung zum Thema Autofahren. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Autofahren will gelernt sein. Junge saudische Frauen gehen in Jeddah zu einer Veranstaltung zum Thema Autofahren. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Auch wenn sie nun Auto fahren dürfen – wirklich frei sind saudische Frauen nur im Ausland

Seit einem Jahr dürfen Frauen in Saudiarabien Auto fahren. Frei sind sie deshalb noch lange nicht. Oft bleibt nur die Flucht: Gerade haben sich zwei junge Schwestern in die Türkei abgesetzt.

Christian Weisflog, Beirut
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Die Freude war gross in Saudiarabien vor einem Jahr. Nicht nur bei den Frauen, auch bei den westlichen Autoherstellern. Sie warben mit Werbevideos um die geschätzten drei Millionen neuen Kundinnen. Und auch jetzt zum Jahrestag gratuliert die Firma Ford in einem Videoclip den weiblichen Untertanen des Königreichs zu ihrem Glück. Eine Frau sagt darin: «In Saudiarabien lenke ich mein Auto und meine Träume.»

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Geplatzte Träume

Grosse Träume hatte auch Manal al-Sharif. Sie gehörte 2011 zu den Mitbegründerinnen der Bewegung «Women2Drive». Gemeinsam mit einer Freundin setzte sie sich ans Steuer und veröffentlichte das Video danach im Internet. Kurz darauf landete sie im Gefängnis, verlor ihre Arbeitsstelle, wanderte mit ihrem brasilianischen Ehemann nach Australien aus und schrieb ein Buch über ihre Geschichte. Vor einem Jahr aber wollte die 39-jährige Mutter zurückkehren, um mit ihrem älteren Sohn von der saudischen Ostküste bis zur Westküste zu fahren. Doch diesen Traum musste sie begraben, nachdem in Saudiarabien im Mai 2018 elf Aktivistinnen verhaftet worden waren – darunter viele, die sich für die Abschaffung des Fahrverbots und des Systems der männlichen Vormundschaft eingesetzt hatten.

Während die saudischen Frauen sich auf den Strassen nun viel freier bewegen können, wurde das Internet für sie zu einer rigoros überwachten Sperrzone: «Dieselben Instrumente, die wir nutzten, um den sozialen Wandel voranzutreiben, werden nun dafür gebraucht, uns zu schwächen und uns zu bedrohen», schrieb Sharif kürzlich in der Zeitschrift «Time». Anstatt durch ihr Heimatland zu fahren, unternahm die Aktivistin deshalb im April einen Road-Trip von San Francisco nach Washington. Auf elf Stationen machte sie in Vorträgen auf die schwierige Menschenrechtslage in ihrer Heimat und den problematischen Einfluss saudischer Gelder in der amerikanischen Politik und Wirtschaft aufmerksam. «Der Einzug Donald Trumps ins Weisse Haus war ein Signal für die saudische Regierung, dass ihre Menschenrechtsverletzungen ohne Konsequenzen bleiben.»

Der Prozess gegen die elf Aktivistinnen ist für Sharif ein Zeichen, dass das Königshaus keine echten Reformen will. Sie spricht sogar von einem «Krieg gegen die Frauen». So weit geht Lina al-Hathloul nicht. Sie ist die Schwester von Loujain al-Hathloul, einer der verhafteten Aktivistinnen. Loujain wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo sie lebte, aus ihrem Auto gezerrt und in einem Privatjet nach Saudiarabien gebracht. «Trotz allem müssen wir den bisherigen Reformen applaudieren und an weitere Fortschritte glauben», sagt Lina in einem Telefongespräch.

Königshaus fürchtet Kontrollverlust

Die Aufhebung des Fahrverbotes mag nur ein kleiner Schritt gewesen sein, aber er scheint Teil einer grösseren Bewegung zu sein. Bereits seit 2009 steigt der Anteil der erwerbstätigen Frauen in Saudiarabien von damals 17 auf heute 23 Prozent. Seit wenigen Jahren dürfen Frauen ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormundes ein Geschäft eröffnen. Immer mehr erhalten sie auch Zugang zu Berufen, die früher kaum denkbar waren. Als Kellnerinnen in Cafés, als Verkäuferinnen in Kleiderläden oder Kassiererinnen in Supermärkten. Der Führerschein erweitert die Möglichkeiten zusätzlich, etwa wenn es um Stellen im Aussendienst geht. Und da die Frauen nicht mehr einen grossen Teil ihres Lohnes für einen Chauffeur ausgeben müssen, lohnt sich Arbeit viel mehr.

Zu den Reformen gehörte 2016 auch eine Entmachtung der Sittenpolizei. Die Religionswächter dürfen seither keine Personen mehr verhaften, ihre Personalien aufnehmen oder ihnen nachjagen. Sie müssen «höflich und freundlich» sein. Dies führte im öffentlichen Raum zu einer Aufweichung der Geschlechtertrennung und der Bekleidungsvorschriften. Bis vor kurzem war es tabu, sich mit einem Mann in einem Café zu treffen, der kein Verwandter war. Nun geht dies auch selbst in der konservativen Hauptstadt Riad. Die unweigerliche Folge ist ein Kontrollverlust der Familie über das Liebesleben der jungen Generation.

Offensichtlich fürchtet das saudische Königshaus, dass es die Kontrolle über die gesellschaftliche Öffnung und folglich auch seine Macht verlieren könnte. So jedenfalls erklärt sich Lina al-Hathloul die Verhaftung ihrer Schwester Loujain und der übrigen Aktivistinnen. «Sie wollen keinen Wandel, der von unten kommt. Sie wollen nicht, dass irgendjemand Reformen fordert», erklärt Hathloul. Doch genau dies wiederum gefährde eine weitergehende Modernisierung: «Es kann keine echten Reformen ohne Reformer geben.»

Repressionen gegen Reformer

Die jüngsten Verhaftungswellen betreffen derweil nicht nur Frauenrechtlerinnen. Bereits seit September 2017 wartet eine ganze Reihe von Islamgelehrten im Gefängnis auf ihren Prozess. Dazu gehört auch Salman al-Oudah, der auf Twitter rund 14 Millionen Follower hat. In den neunziger Jahren protestierte er im Zuge des Golfkrieges gegen die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudiarabien. Nach einer Gefängnisstrafe zeigte er sich indes gemässigt, verurteilte den Jihadismus und wurde zum Fürsprecher einer konstitutionellen Monarchie in Saudiarabien. Im vergangenen September forderte die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe für ihn. Grund dafür soll ein Tweet sein, indem Oudah zur Versöhnung mit dem Nachbarland Katar aufrief, dem Riad Terrorfinanzierung vorwirft.

Spätestens seit der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi vor acht Monaten in Istanbul wagen es selbst gemässigte Stimmen kaum mehr, sich gegenüber ausländischen Medien zu heiklen Themen zu äussern. Lina al-Hathloul aber spricht: «Seit ich erfahren habe, dass meine Schwester im Gefängnis gefoltert wurde, schweige ich nicht mehr», sagt sie. Nach eigenen Angaben wurde Loujain unter anderem geschlagen, mit Elektroschocks traktiert, und ihr wurde mit Vergewaltigung und mit dem Tod gedroht.

Weil sie Kontakte zu ausländischen Organisationen pflegten, wird den Aktivistinnen Spionage und die Unterminierung der nationalen Sicherheit vorgeworfen. Im April wurde eigentlich ein Urteil erwartet, nach der temporären Freilassung von drei Aktivistinnen bestand Hoffnung auf ein gutes Ende, doch dann geschah nichts mehr. «Die Freilassungen dienen nur dazu, dass die Leute wegschauen, und danach wird es noch schlimmer», meint Hathloul. Nachdem etwa Aziza al-Yousef freigekommen sei, sei dafür ihr Sohn verhaftet worden. Rund ein Dutzend weitere Sympathisanten der inhaftierten Frauen wurde bereits Anfang April festgenommen.

Jedes Wort kann gefährlich sein

Lina al-Hathloul lebt bereits seit sieben Jahren in Brüssel. Das macht es für die 24-jährige Juristin leichter, offen zu sprechen. Trotzdem ist es für sie eine heikle Gratwanderung. Ihre Eltern leben immer noch in Saudiarabien und dürfen das Land nicht verlassen. «Ich habe Angst um meine Familie. Ich muss sehr genau abwägen. Jedes Wort, das ich sage, könnte gegen sie verwendet werden.»

Wie sehr das Königshaus auf die gesellschaftspolitische Reformbremse steht, zeigen auch die zunehmenden Versuche von Frauen, ins Ausland zu flüchten. Anstatt die Frauen vor ihren Familien zu schützen, betreibt der saudische Staat einen grossen diplomatischen Aufwand, um die Heimkehr der weiblichen Flüchtlinge zu erzwingen. Im Januar setzte sich die 18-jährige Rahaf Mohammed al-Kunun über Kuwait nach Thailand ab. Von da aus wollte sie nach Australien weiterreisen, doch einem lokalen Mitarbeiter der saudischen Botschaft gelang es, ihr im Transitbereich des Flughafens den Pass abzunehmen. Erst nachdem der mediale Druck zu gross geworden war, verzichteten die thailändischen Behörden auf eine Rückschaffung nach Saudiarabien. Kunun erhielt politisches Asyl in Kanada.

«Wir werden wie Sklaven behandelt», sagte die junge Frau nach ihrer Ankunft in Nordamerika. Ihr Bruder soll sie geschlagen und einmal für sechs Monate in einem Zimmer eingesperrt haben, weil sie sich die Haare geschnitten hatte. Weniger Glück hatte die 24-jährige Dina Laslum. Auf ihrem Weg nach Australien nahmen ihr die philippinischen Behörden am Flughafen in Manila den Pass ab. Zwei Onkel schleppten Laslum schliesslich mit Gewalt in ein Flugzeug der saudischen Airline, das sie zurück in ihre Heimat brachte. Ihr Schicksal ist nicht bekannt. Die Menschenrechtsorgansation Human Rights Watch fürchtete, dass ihr wegen «Ungehorsam gegenüber den Eltern» oder «Rufschädigung des saudischen Königreichs» eine Freiheitsstrafe drohte. Aktivisten fürchteten auch, dass sie von ihrer Familie ermordet werden könnte.

Flucht vor dem Tod

Trotz diesen drastischen Folgen scheinen nun erneut zwei junge saudische Frauen das Risiko einer Flucht auf sich genommen zu haben. Gemäss einem Bericht der spanischen Zeitung «El Mundo» haben sich Dua und Dalal al-Showaiki während Ferien in der Türkei von ihrer Familie abgesetzt und in einer Wohnung verbarrikadiert. Auf Twitter schrieben die 21- und 22-jährigen Frauen am 12. Juni: «Unser Vater wollte uns mit alten Männern und religiösen Fundamentalisten verheiraten.» Weil sie keine Ehe eingehen wollten, seien sie immer wieder geschlagen worden. Ihr älterer Bruder habe sie zudem sexuell belästigt, erzählten sie «El Mundo». «Das Weiterleben mit unserer Familie war unmöglich, es hätte mit unserem Tod geendet.»

Dua und Dalal haben ihre Flucht offenbar gut vorbereitet. Sie stünden unter dem Schutz der Uno und erwarteten, Asyl in einem europäischen Land zu erhalten, schrieben sie am Freitag auf Twitter. Andere saudische Frauen werden womöglich bald ihrem Vorbild folgen, um dem System der männlichen Vormundschaft zu entkommen. Dieses wurde in den vergangenen Jahren zwar aufgeweicht, aber noch immer brauchen erwachsene Frauen etwa für Reisen ins Ausland, für die Beantragung eines Reisepasses oder eine Heirat die Einwilligung eines männlichen Familienmitglieds. Teilweise wird die Zustimmung auch benötigt, um zu arbeiten, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen medizinischen Eingriff durchzuführen.

Das saudische Innenministerium hat eine App entwickelt, mit der ein Mann unter anderem die Reisen seiner Frau überwachen kann. Benutzt diese am Flughafen ihren Pass, bekommt der Vormund eine Textnachricht. Das Beispiel zeigt deutlich: Auch wenn Frauen in Saudiarabien nun ein Auto lenken dürfen, ist es noch ein weiter, beschwerlicher Weg, bis sie wirklich frei über ihr Leben bestimmen können.

Meistens scheitert die Flucht

ws. Beirut · Experten gehen davon aus, dass jedes Jahr mehr als tausend Frauen versuchen, aus dem saudischen Königreich zu fliehen. Aber die Dunkelziffer könnte viel höher sein, und nur in vereinzelten Fällen gelingt das Vorhaben. Wie die jüngsten Versuche jedoch zeigen, können sich die Frauen mittlerweile auf ein gutes Netzwerk von Helfern verlassen, die übers Internet erreichbar sind und ihren Fällen schnell die notwendige Publizität verleihen.

Die 18-jährige Rahaf al-Kunun hat im Januar vorgemacht, wie es geht. Sie sperrte sich in Bangkok in einem Hotelzimmer ein und machte auf Twitter auf ihre Notlage aufmerksam. Ein saudischer Diplomat sagte danach: «Ich wünschte, man hätte ihr das Telefon abgenommen anstatt ihren Pass.» Vor Dua und Dalal al-Showaiki gelang in den vergangenen Monaten zwei weiteren Geschwisterpaaren die Flucht aus Saudiarabien. Wafa und Maha al-Subaie fanden den Ausweg über Georgien, das von saudischen Bürgern kein Visum verlangt. Reem und Rawan konnten im März von Hongkong aus in ein sicheres Drittland ausreisen.

Dass das Königshaus trotz den vielen negativen Schlagzeilen am System der männlichen Bevormundung festhält, erklärt die saudische Menschenrechtlerin Hala al-Dosari so: «Das System widerspiegelt das Modell der Herrscherfamilie, das unbedingten Gehorsam gegenüber dem König fordert.»