Interview

Der Historiker Yehuda Bauer: «Schlimmer Nationalismus blüht überall auf der Welt. Oftmals ist er religiös geprägt»

Yehuda Bauer ist einer der bedeutendsten Historiker des Holocaust. Vergleiche zwischen heute und den dreissiger Jahren hält er für eine Verzerrung: Die heutigen autoritären Herrscher seien zu klug, um Diktaturen zu errichten. Sie seien auch keine Antisemiten, doch verdrehten manche von ihnen die Geschichte der Shoah.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin
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Ein Juden zugewiesener Strassenbahnwagen in Warschau im Jahr 1940. (Bild: Scher / SZ Photo)

Ein Juden zugewiesener Strassenbahnwagen in Warschau im Jahr 1940. (Bild: Scher / SZ Photo)

Herr Bauer, in Westeuropa ist der Antisemitismus heute so präsent wie lange nicht mehr. Bereitet Ihnen das Sorge?

Er ist sichtbarer und wirkt aggressiver, das stimmt. Aber es ist wohl nicht sehr klug, von einem «neuen» Antisemitismus zu sprechen, wie dies manche Leute tun. Der Antisemitismus existierte immer, nun wurde er durch bestimmte politische Entwicklungen neu hervorgerufen. Er kommt aus extrem rechter Richtung, von einer sehr gefährlichen Minderheit in der muslimischen Bevölkerung und natürlich von der extremen Linken. Aber auch unter Liberalen gibt es Antisemitismus.

Wie manifestiert sich Antisemitismus unter Liberalen?

Es gibt dort diese Haltung, ja, wir lieben die Juden, aber nicht sehr. In Deutschland bemerkt man das kaum, diese Leute sind sehr vorsichtig. Aber wenn sie in den Salons untereinander sind, hört man es. Das richtet sich dann vor allem gegen Israel. Kritik ist in Ordnung. Wenn scharfe Kritik an Israel Antisemitismus wäre, dann wären etwa dreissig Prozent der israelischen Juden Antisemiten. Aber wenn man sagt, die Gründung Israels sei ein Fehler gewesen und dass Israel als Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit abgeschafft werden sollte, läuft dies natürlich auf einen Genozid hinaus, denn es kann nur durch Krieg und Vernichtung erfüllt werden.

Antizionismus ist also zwingend antisemitisch.

Schauen Sie, meiner Meinung nach ist die jetzige israelische Regierung antizionistisch. Zionismus heisst, einen Staat mit jüdischer Mehrheit zu schaffen, mit gleichen Rechten für alle, auch für die Nichtjuden. Das wurde auch von rechten Zionisten so gesehen, etwa von Zeev Jabotinsky, dem Grossvater der heutigen Likud-Partei. Er wird bis heute verehrt, aber er sagte das Gegenteil von dem, was die Likud-Leute heute sagen. Die jetzige Regierung will ganz Palästina beherrschen. Das wäre ein binationaler Staat, kein jüdischer.

Das ist dann aber ein unbeabsichtigter Antizionismus.

Natürlich. Die sagen, sie seien Zionisten, aber sie sind es nicht. Aber auch das hat mit Antisemitismus zu tun: Wir laufen Gefahr, eine antijüdische Einstellung zu entwickeln, weil wir Palästina beherrschen wollen.

Eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts scheint heute weiter entfernt denn je.

Solange die Eliten auf beiden Seiten zum Teil nationalistisch und religiös-fanatisch sind, ist ein Kompromiss unmöglich. Die maximale Kompromissbereitschaft auf der einen Seite wird niemals die minimalen Forderungen der anderen Seite befriedigen können. Aber ich bin auch optimistisch. Es gibt unter den Palästinensern eine hochaktive und gebildete Mittelschicht, der es gutgeht, auch wenn die Propaganda etwas anderes behauptet.

Glauben Sie, dass sich auf palästinensischer Seite eine Mehrheit mit der Existenz Israels abgefunden hat?

Yehuda Bauer. (Bild: Stephan Röhl / Heinrich-Böll-Stiftung)

Yehuda Bauer. (Bild: Stephan Röhl / Heinrich-Böll-Stiftung)

Die Palästinenser wollen einen Kompromiss. Das Problem sind die Bedingungen, die sie stellen: Sie erkennen die Existenz eines jüdischen Volkes nicht an. Umgekehrt bestreiten auf israelischer Seite nicht einmal die Feinde der Palästinenser, dass es ein palästinensisches Volk gibt. In dem Moment, in dem die Palästinenser anerkennen, dass es ein jüdisches Volk gibt, sind die jüdische Diaspora und Israel miteinander verbunden, und das wollen sie nicht. Deswegen sprechen sie immer von einem Kompromiss mit dem israelischen Volk. Es gibt aber kein israelisches Volk. Es gibt nur israelische Bürger, die entweder Juden oder Araber sind.

Um Israels Existenz scheint Ihnen nicht bange zu sein.

Nein, ich bin nicht pessimistisch. Es gibt immer Tausende von Israeli, die das Land verlassen, aber es gibt auch Tausende, die einwandern. Die Geburtenrate ist die höchste in der entwickelten Welt, nicht nur unter den Orthodoxen, auch unter säkularen und atheistischen Juden.

Netanyahu pflegt enge Beziehungen mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Stört Sie das?

Ja, aber es entspricht einem allgemeinen Trend: Schlimmer Nationalismus blüht überall auf der Welt. Oftmals ist er religiös geprägt. Das betrifft nicht nur Muslime und Juden, sondern auch die Evangelikalen in Amerika. Die haben für Trump gestimmt. Die Verlegung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem hat mit Israel wenig zu tun, es ist Trumps Geschenk an diese Leute.

Unabhängig davon: Finden Sie Trumps Entscheidung richtig oder falsch? Letztlich stellt sie doch die Anerkennung einer Tatsache dar: Jerusalem ist ja die Hauptstadt Israels.

Es ist unwichtig, ob das richtig oder falsch ist. In der Politik werden oft Tatsachen verneint, und so verneint man auch die Tatsache, dass zumindest Westjerusalem Israels Hauptstadt ist. Dass Trump so entschied, hatte wenig mit israelischen Forderungen zu tun. Es ist eine zynische Politik seiner Regierung, die Teil dieser nationalistischen Welle ist, die wir überall auf der Welt sehen.

Der Vergleich mit den dreissiger Jahren ist derzeit sehr populär. Sie sagten, die heutige Situation sei zwar auch gefährlich, aber doch anders. Wo liegen die Unterschiede?

Sie sind riesig: Es gibt heute keinen Hitler und auch keinen Nationalsozialismus, der wie in den dreissiger Jahren agiert. Die allgemeine Unterstützung für den Antisemitismus ist heute auch sehr viel schwächer, als sie es damals war.

Sehen Sie auch Gemeinsamkeiten?

Gemeinsamkeiten kann man immer finden. Auch heute gibt es diesen Hang zum Totalitären und Autoritären. Aber alle Regierungen wollen den Antisemitismus bekämpfen, auch in Polen. Die dortige Regierung besteht nicht aus Antisemiten, aber sie verdreht und verzerrt die Geschichte des Holocaust: Die Deutschen ermordeten drei Millionen polnische Juden, aber es wurden auch zwischen 150 000 und 200 000 Juden von Polen ermordet. Das wird von der polnischen Regierung geleugnet, und die israelische Regierung unterstützt sie dabei.

Warum sind diese Vergleiche mit den dreissiger Jahren so weit verbreitet? Ist da ein Lustgruseln, oder will man sich selbst bedeutender fühlen, indem man dramatisiert?

Ich weiss es nicht. Aber es ist einfach falsch. Damals gab es in ganz Europa faschistische oder autoritäre Regierungen. Heute versuchen autoritäre Politiker, die Demokratie für sich zu nutzen. Wenn der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban heute sagt, er wolle eine illiberale Demokratie, sagt er die Wahrheit: Sein Regime wurde von einer Mehrheit in freien Wahlen gewählt. Es gibt in Ungarn immer noch eine relativ freie Presse, und man wird nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn man gegen Orban agiert.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass ein solches Regime nach und nach zu einer Diktatur wird?

Leute wie Orban sind viel zu klug, um eine Diktatur zu errichten, denn irgendwann fällt jede Diktatur zusammen. Stattdessen kann er so weiterregieren, wie er es jetzt tut. Dasselbe hoffen die Regierenden in Polen. Die Anführer dieser rechten Parteien sind auch keine Antisemiten, aber sie unterstützen eine Bewegung, die sich als antisemitischer Unterleib entwickelt. Die Freiheitliche Partei in Österreich hat antisemitische Wurzeln, ihre Anführer nicht unbedingt. Auch in Amerika gibt es einen wilden Rassismus gegen Juden, Schwarze, Muslime und auch gegen Katholiken.

Gegen Katholiken? Immer noch?

Es gibt in Amerika ungefähr zwanzig oder vierundzwanzig Websites, die massenhaft diese rassistische Ideologie verbreiten. Die Anführer dieser Gruppen treten alle unter Pseudonymen auf. Man müsste herausfinden, wer sie sind und wer sie finanziert. Die grossen jüdischen Organisationen in Amerika könnten das tun, aber sie tun es nicht. Lieber geben sie grossartige Erklärungen gegen Rassismus und Antisemitismus ab, die überhaupt keinen Einfluss haben. Reden zu halten, ist falsch, es ist dumm. Diese grossen Figuren, die da Reden halten oder gehalten haben, Desmond Tutu und der Dalai Lama, der Papst und Elie Wiesel, die haben noch kein einziges Leben gerettet. Man muss praktisch sein, nicht irgendwo im Himmel etwas reden.

Ist Deutschland weniger anfällig für autoritäre Versuchungen als andere Länder?

Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube es. Deutschland ist heute ein liberales Land; ich kann mir nicht vorstellen, dass die AfD jemals eine Mehrheit gewinnen könnte. Die Rechte ist in letzter Zeit zwar stärker geworden, doch vom Zusammenbruch der Sozialdemokratie vermag sie nicht zu profitieren. Die entscheidende Veränderung besteht im Aufstieg der Grünen.

Dass die Rechte weniger stark ist als in anderen Ländern, hat das auch mit der deutschen Vergangenheit tun?

Ganz bestimmt.

Würden Sie die deutsche Vergangenheitsbewältigung als vorbildhaft bezeichnen?

Mittlerweile schon. Aber das war nicht immer so. In den 1950er und 1960er Jahren gab es noch sehr starke nationalsozialistische Überbleibsel. Das hat sich erst nach 1968 langsam geändert. Ich glaube, die Deutschen bemühen sich wirklich, eine Gedenkkultur zu entwickeln, die etwas bedeutet.

Die Gefahr, dass all das irgendwann im Ritual erstarrt, sehen Sie nicht?

Nicht in Deutschland. In Israel ist das viel schlimmer. Ich gehe seit Jahren nicht mehr zu der offiziellen Gedenkfeier für die Opfer des Holocaust in Yad Vashem. Ich kann mir die Reden nicht mehr anhören, sie sind so blöd und oberflächlich. Stattdessen nehme ich an privaten Gedenkfeiern teil.

Letztes Jahr kritisierten Sie Netanyahu: Er solle aufhören, über den Holocaust zu reden, denn er verstehe nichts davon. Was stört Sie an seinen Reden?

Er fängt mit einer Geschichte über den Holocaust an, die ihm irgendein Schreiber gebracht hat, und dann redet er über etwas ganz anderes, etwa über Iran und Israel. Dadurch instrumentalisiert er den Holocaust. Aber das ist nicht nur auf die politische Rechte begrenzt, das machen auch andere. Der verstorbene Historiker Israel Gutman, ein Überlebender des Warschauer Ghettoaufstandes, war mein engster Freund. Am Holocaust-Gedenktag gingen wir immer zusammen zu diesen Anlässen. In der ersten Reihe sitzen immer die Politiker und die Rabbiner, in der zweiten Reihe die Leute von Yad Vashem. Dann wurden diese dummen Reden gehalten. Als es vorüber war, standen wir auf, schauten uns an und sagten beide gleichzeitig: «Genug!» Yad Vashem versucht, das zu richten, ob es uns gelingt, weiss ich nicht. Letztes Jahr waren über 140 000 Schüler dort. Wir versuchen, ihnen die Realität nahezubringen.

Sie gehören also zu den Historikern, die sagen, dass man aus der Geschichte lernen kann?

Es ist bestimmt besser, es zu versuchen, als nichts zu tun. Ob es gelingt, wissen wir nicht. In Israel ist das Verständnis des Holocaust sehr begrenzt. Im Publikum haben sich Ansichten entwickelt, die völlig falsch sind. Viele Leute glauben zum Beispiel, Hitler habe den Holocaust schon seit dem Ersten Weltkrieg geplant, doch der Holocaust entwickelte sich: 1940 wussten die Deutschen noch nicht, dass sie die Juden ermorden werden. Es ist schrecklich schwer, all dies dem Publikum beizubringen.

Chronist historischer Schrecken

hmü. Wahrscheinlich, so sagt er, sei er zum letzten Mal in Berlin: Yehuda Bauer wurde 1926 in Prag geboren. Mit seinen Eltern verliess er die damalige Tschechoslowakei in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1939, am selben Tag, an dem die Deutschen einmarschierten. Das war Zufall: Bauers Vater war überzeugter Zionist und hatte die Auswanderung nach Palästina bereits seit fünf Jahren vorbereitet. Eine Grossmutter Bauers blieb und wurde ermordet. Von 1996 bis 2000 leitete Yehuda Bauer das International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem in Jerusalem. Heute lebt er in einem Seniorenheim in Jerusalem.

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