Fast 260 fossile Fussabdrücke: Ein Schatz an Spuren gibt Einblick in das Leben der Neandertaler

Was die Forscher aus ihrem Fund im Norden Frankreichs herauslesen, klingt für Erwachsene nach einem anstrengenden Leben: Die Gruppe, die dort ihre Fussspuren hinterliess, bestand aus zehn Kindern und Jugendlichen – und einem einzigen Erwachsenen.

Stephanie Kusma
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Der Fund war spektakulär: fast 260 Fussabdrücke, die Neandertaler vor etwa 80 000 Jahren hinterlassen haben. Le Rozel, so der Name der Fundstätte, ist ein Dünensystem, das heute zwischen einem Strand und einer Klippe in der Normandie im Norden Frankreichs liegt. Nun haben Forscher einen Teil der Spuren vermessen und von ihnen auf die Zusammensetzung der Neandertaler-Gruppe geschlossen. Was sie aufgrund ihrer Resultate in der amerikanischen Fachzeitschrift «Proceedings of the National Academy of Sciences» beschreiben, erinnert an eine Mischung aus Kindertagesstätte und Schulhort.

Der Fussabdruck eines Neandertalers. (Bild: Dominique Cliquet)

Der Fussabdruck eines Neandertalers. (Bild: Dominique Cliquet)

Dass man fast 260 Spuren an einer einzigen Fundstätte finde, sei wahrhaft bemerkenswert, sagt die Paläoanthropologin Isabelle De Groote von der Liverpool John Moores University: Bis anhin kannte man neun Neandertaler-Fussabdrücke, von vier verschiedenen Orten. Die Spuren von Le Rozel sind unterschiedlich klar, aber bei einer ganzen Reihe sind sowohl die Ferse als auch der Zehenbereich abgebildet. Die vierzehn besten Abdrücke analysierten die Forscher genau und verglichen sie sowohl mit deutlich früheren afrikanischen Spuren als auch mit jenen des modernen Menschen (Homo sapiens). Von Ersteren unterscheiden sie sich demnach deutlich. Denen des Letzteren ähneln sie zwar, sind aber insgesamt breiter.

80 Prozent der Abdrücke befinden sich in einer einzigen Fundschicht. Etwa hundert davon vermassen die Forscher. Ausgehend von den Verhältnissen beim modernen Menschen rechneten sie diese Messwerte dann in Körpergrössen um. Daraus schlossen sie auf das Alter der vermutlich etwa zehn bis vierzehn Individuen, die die Spuren hinterliessen.

Die Ausgrabungen bei Le Rozel. (Bild: Dominique Cliquet)

Die Ausgrabungen bei Le Rozel. (Bild: Dominique Cliquet)

Wie sich dabei zeigte, war die Gruppe sehr jung: 90 Prozent der Abdrücke stammen von Jugendlichen und Kindern, das jüngste dürfte etwa zwei Jahre alt gewesen sein. Geht man von der vermuteten Grösse der Gruppe aus, befand sich in ihr nur eine einzige erwachsene Person – falls alle Individuen und Altersklassen dieselbe Anzahl Abdrücke hinterliessen. Möglicherweise seien die Kinder aber mehr herumgelaufen, hätten ihre Umgebung intensiver erkundet und deshalb überproportional viele Abdrücke hinterlassen, merkt Christoph Zollikofer von der Universität Zürich an.

Warum sich so viele Kinder und nur ein Erwachsener – der mit einer Körpergrösse von 175 Zentimetern zu den grössten bekannten Neandertalern gehörte – in Le Rozel aufhielten, ist unklar. Darüber lässt sich laut dem Studienautor Jérémy Duveau vom Muséum Nationale d’Histoire Naturelle in Paris zurzeit nur spekulieren. Eine Möglichkeit sei beispielsweise, dass die anderen Erwachsenen der Gruppe früh gestorben seien.

Die in der Studie postulierte Verteilung der Altersklassen in Le Rozel ist anders als bei einer Gruppe, deren Überreste in der spanischen El-Sidron-Höhle gefunden wurden: Sie bestand aus sechs Erwachsenen, drei Jugendlichen, zwei Kindern und einem Kleinkind. Man vermutet, dass diese Menschen zu einer Familiengruppe gehörten, worauf auch genetische Untersuchungen hindeuten. Sie dürften gemeinsam gestorben sein, vielleicht bei einer Auseinandersetzung mit einer anderen Gruppe, und es gab offenbar Kannibalismus: Die Knochen zeigen Hinweise darauf, dass das Fleisch von ihnen gelöst wurde.

Die Grösse der Gruppen von El Sidron und Le Rozel mit etwa zehn bis fünfzehn Personen passt laut Carles Lalueza Fox, der die El-Sidron-Neandertaler untersucht, gut zu anderen Ergebnissen, die sich etwa auf die Grösse der Höhlenflächen stützen, die diese frühen Menschen nutzten. Dass man in El Sidron weniger Kinder fand, könne beispielsweise auch daran liegen, dass die Sieger die Mädchen der unterlegenen Gruppe mitgenommen hätten, erklärt Lalueza Fox.

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