Schwarz, schwer und nahezu unzerstörbar: das Schweizer Armeefahrrad. (Bild: ETH Bildarchiv)

Schwarz, schwer und nahezu unzerstörbar: das Schweizer Armeefahrrad. (Bild: ETH Bildarchiv)

Das Ende einer Legende

Die Schweiz leistete sich lange die einzige Kampftruppe der Welt, die per Rad in die Schlacht gezogen wäre – mit einem Modell von 1905. Die Beschaffung eines moderneren Velos sorgte Ende der 1980er Jahre für internationale Schlagzeilen.

Marc Tribelhorn
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Besonders gefährlich sind sie bei Nacht und Nebel. Lautlos und schnell bewegen sich die Militärradfahrer der Schweizer Armee auch durch unwegsames Gelände. Topfit müssen sie sein, denn der Schweiss fliesst oft in Strömen: Ihre eingängigen Stahlrösser wiegen 22 Kilo, dazu kommen Gepäck und Bewaffnung wie Maschinengewehre und Rak-Rohre. Droht ein Gefecht, wird es zudem akrobatisch. Die Soldaten hechten über den Fahrradlenker und kippen im Flug ihr Gefährt auf die linke Seite, weil sich die Munitionstasche am Rahmen nur rechts öffnen lässt. Zu dieser Vorzeigetruppe kommt ausschliesslich, wer hart im Nehmen ist. Aus ihren Reihen stammen denn auch mehrere Generäle, der heutige Bundespräsident Ueli Maurer oder einstige Radsporthelden wie Ferdy Kübler. Doch so pflichtbewusst diese Truppe ist, sie reagiert pikiert, als das Militärdepartement 1986 Ersatz für das geliebte «Ordonnanzrad 05» beschaffen will.

Populäre Elitetruppe

Als die ersten Radfahrer 1892 ihren Dienst antraten, mussten sie ihre «Fahrmaschinen» noch selber mitbringen. Das ändert sich 1905, als die Armee ein eigenes Militärrad mit Rücktritt und ohne Gangschaltung produzieren lässt: Schwarz und schwer ist es – und nahezu unzerstörbar. «Auf ebenen Strecken und bergab gewährt es für die Bewegung Vorteile in Bezug auf Leistung und Billigkeit, die durch kein anderes Beförderungsmittel zu erreichen sind», betont damals der Bundesrat, der mit Fahrrädern die kostspielige Kavallerie entlasten möchte. Anfänglich vor allem für Meldedienste eingesetzt, werden die Radfahrer ab dem Ersten Weltkrieg immer mehr zu einer «fechtenden Truppe», zu feuerkräftigen, mobilen Infanteristen, einer populären Elitetruppe, deren Mitglieder sich auch in Freizeitwettkämpfen messen: von Strassen- bis zu Querfeldeinrennen inklusive Handgranatenwerfen.

Die Welt mag sich wandeln, der «Göppel» im Militär bleibt gleich. Als einzige Konzession an die Moderne wird er nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Trommelbremse nachgerüstet und 1984 mit einer festen Beleuchtung. Die Militärs schwärmen von der Robustheit ihres Fahrrads, dem Lasten und Gelände, Dreck, Schnee und Stürze kaum etwas anhaben können: «Unser Rad ist nicht zu töten!» Deshalb stösst der Entscheid, nach über 80 Jahren ein neues Gefährt zu beschaffen, auch auf vehemente Kritik bei den rund 8000 Mann, die in den drei Radfahrerregimentern eingeteilt sind. Doch aus wirtschaftlichen Gründen muss Schluss sein mit der Nostalgie – nach 50 000 produzierten Velos.

Sicher kein Mountainbike!

Den Anstoss für die Neubeschaffung hat die Gruppe für Rüstungsdienste gegeben. Der Grund: Manche Einzelteile lassen sich nicht mehr beschaffen, da etwa Lager und Gewinde längst nach neuen Normen hergestellt werden. Spezialanfertigungen wären aufwendig und teuer. Zudem sei die Rahmenhöhe anzupassen, da die Schweizer Soldaten allein seit 1950 im Schnitt um fünf Zentimeter grösser geworden sind. Auch mehr Gänge, bessere Bremsen und Beleuchtung sowie weniger Gewicht werden angestrebt. Mit helvetischer Gründlichkeit macht sich das Militärdepartement an die Evaluation: Ein Ingenieurbüro analysiert penibel die Erfolgsfaktoren des Modells von 1905 und formuliert Kriterien für dessen Nachfolger. Die drei einheimischen Fahrradschmieden Cilo, Villiger und Condor entwickeln Prototypen, die in einem Labor der Technischen Hochschule Aachen und ab 1989 in Wiederholungskursen getestet werden. Schnell ist klar: Ein neumodisches Mountainbike würde kein hartes Manöver «im Felde» unbeschädigt überstehen, geschweige denn die kalkulierte Lebensdauer von dreissig Jahren erreichen.

«Persönlich wie Unterhosen»

Das skurrile Rüstungsgeschäft macht international Schlagzeilen. Zwar werden Fahrräder auch in anderen Armeen eingesetzt, etwa für Patrouillengänge. Doch Truppen, die auf Spezialvelos und voll bewaffnet in die Feldschlacht pedalieren, gibt es am Ende des Kalten Krieges nur noch in der Eidgenossenschaft. Sie gehören laut dem «Spiegel» wie «Maultierkolonien, Pferdewägelchen und Brieftauben zu den extravaganten Erscheinungen der im übrigen hochtechnisierten Schweizer Streitmacht». Das «Wall Street Journal» berichtet, die Ledersättel der Stahlrosse seien für die Militärradfahrer «so persönlich wie die Unterhosen». Eine britische Boulevardzeitung witzelt, die neuen Räder würden mit der modernsten Technologie ausgerüstet: «Und das bedeutet wahrscheinlich für das Land, welches das berühmteste Armeemesser der Welt erfunden hat, dass das Velo wohl auch als Raketenabschussgerät, Büchsenöffner und als Vorrichtung zur Entfernung von Steinen in Pferdehufen verwendet werden kann.»

Der Typenentscheid fällt im Sommer 1991 und ist ein Kompromiss aus den drei getesteten Fahrrädern: Das neue feldgraue Stahlross, das etwas grösser und leichter ist, verfügt über sieben Gänge, hydraulische Felgenbremsen und einen Nabendynamo. Die Herstellung übernimmt die jurassische Firma Condor, die bereits das «Modell 05» gefertigt hat. Rund 17 Millionen Franken kosten die 5500 Fahrräder, die ab 1993 an die Truppe ausgeliefert werden. Die zuvor so skeptischen Militärradfahrer zeigen sich zufrieden: Für den 200-Kilometer-«Radmarsch» müssen dank moderner Gangschaltung und Bremse nun fast drei Stunden weniger Zeit aufgewendet werden als mit dem «Vorkriegsmodell».

Die Freude am neuen tretbaren Untersatz hält indes nicht lange. Die stolze Truppe, die etwa im Kampf gegen Panzer und zur Verteidigung von Schlüsselstellen wie Brücken eingesetzt wird, hat bald keine Zukunft mehr. Im Rahmen der Armeereform XXI werden die Radfahrer 2003 abgeschafft, weil ihnen der Splitterschutz fehlt. Das legendäre Ordonnanzrad von 1905 bleibt indes bis heute Kult – gerade auch als Stadtvelo.