Wird man doch so sagen dürfen!

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse verdreht für seine politische Agenda die Wirklichkeit. Das geht bis zur Verschwörungstheorie.

Daniel Haas, Berlin
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«Fälschung», «Bluff», «Lüge»? Wer ihm das vorwerfe, verfolge nur das Ziel der Nationalisten, das europäische Projekt zu attackieren, sagt Robert Menasse. Anders gesagt: Wer für eine Überzeugung kämpft, braucht sich um Kleinigkeiten wie korrekte Zitate nicht kümmern. (Bild: PD)

«Fälschung», «Bluff», «Lüge»? Wer ihm das vorwerfe, verfolge nur das Ziel der Nationalisten, das europäische Projekt zu attackieren, sagt Robert Menasse. Anders gesagt: Wer für eine Überzeugung kämpft, braucht sich um Kleinigkeiten wie korrekte Zitate nicht kümmern. (Bild: PD)

Robert Menasse liebt Europa so sehr, dass er einen Roman über die EU-Kommission geschrieben hat. Für «Die Hauptstadt» gab es 2017 den Deutschen Buchpreis und einen Platz auf der «Spiegel»-Bestsellerliste.

Menasse liebt Europa aber auch jenseits der Literatur, und hier wird es problematisch. Denn um seine Idee eines transnationalen europäischen Bundes zu promoten, verschiebt der Autor die Grenzen zwischen Fakten und Erfindung zugunsten der Fiktion. Er tut dies nicht nur im Roman, sondern auch in Reden und Essays, also in einem Genre, in dem Authentizität nicht mehr eine Sache des Stilwillens und der Haltung ist, sondern der historischen Tatsachen.

Drei Phasen der Fälschung hat Menasses Europa-Liebe bis anhin durchlaufen. Eine auf Texte und Formulierungen bezogene. Eine, die der Geschichte neue Geschehnisse hinzufügt. Und eine, welche die eigene Rolle im kulturellen Leben verkennt. Man kann also von einer Radikalisierung der Liebe des Schriftstellers Robert Menasse zu Europa sprechen. Was auch immer der Utopie einer «europäischen Republik» (Menasse) förderlich ist: Der Autor scheint gewillt, es publizistisch in Szene zu setzen.

Ein Zitat ist keine Paraphrase

Phase eins: Für seine Idee der Überwindung der Nationen führte Menasse wiederholt Walter Hallstein ins Feld. Hallstein (1901–1982) wurde 1958 erster Kommissionsvorsitzender der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), des offiziellen Vorläufers der EU. In einem für die «FAZ» verfassten Artikel («Es lebe die europäische Republik!», 23. März 2013) zitiert Menasse Hallstein mit dem Satz: «Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.» Diese und zwei weitere Äusserungen des EWG-Präsidenten sind aber konstruiert, wie der Historiker Heinrich August Winkler herausfand. Sie sollten Hallstein zum Vordenker der Vereinigten Staaten von Europa machen. In Wirklichkeit aber habe der Politiker, so Winkler, der Vision eines Supranationalstaats sogar widersprochen.

Menasses Entgegnung damals, nachdem die «Welt» kritisch nachgefragt hatte: «Die Quelle ist korrekt. Der Sinn ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. Die These ist fruchtbar. Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche.» In diesem Sinne könnte man Kennedys berühmtesten Deutschland-Auftritt auch mit «Berlin. Yeah, cool» zitieren oder Walter Ulbricht mit «Eine Mauer? Eher nicht». An einem Zitat ist gerade der Wortlaut entscheidend. Sonst wäre es eine Paraphrase.

Phase zwei: Menasse behauptete sowohl in seinem Roman als auch bei einer Diskussion, Hallstein habe seine Antrittsrede als EWG-Präsident 1958 auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz gehalten, an einem Ort, wo man sehe, wohin der Nationalstaat geführt habe. Wie die «FAZ» berichtet, hat der Historiker Hans-Joachim Lang versucht, Menasses Quellen zu ermitteln.

Recherchen bis hin zum Historischen Archiv der EU in Brüssel und zum Bundesarchiv in Koblenz ergaben: Der Auftritt muss erfunden sein. «FAZ»-Redaktor Patrick Bahners hat Menasses herbeiphantasierte Verbindung von Auschwitz und europäischem Projekt scharf kommentiert. Im öffentlichen moralischen Bewusstsein sei Auschwitz der «Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt».

Auch die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann hat sich gegen Menasses Geschichtsklitterung ausgesprochen. Die These, Europa sei als Reaktion auf Auschwitz gegründet worden, leugne die geschichtlichen Fakten: «Was wir heute nicht mehr verstehen, aber anerkennen müssen, ist, dass in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von der Ermordung der europäischen Juden auf der politischen Bühne nicht die Rede war», so die Kulturwissenschafterin in einem Interview mit der «Welt»-Ausgabe vom Wochenende. «Gewiss war die Tatsache der Judenvernichtung nicht mehr zu leugnen, und das Wissen war allseits präsent, aber am Anfang der EU stand der gemeinsame Pakt der Alliierten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.»

Phase drei: Nach massiver Kritik und einer Erklärung der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, man werde prüfen, ob man Menasse die ihm bereits zugesprochene Carl-Zuckmayer-Medaille überhaupt noch geben könne – er soll den Literaturpreis am 18. Januar entgegennehmen –, veröffentlichte der Autor am Wochenende einen Rechtfertigungsartikel in der «Welt».

Wortreich präsentiert er erneut seine Vision eines europäischen Einigungswerks, dessen Grundvoraussetzung die Aufhebung der Nationen sei. Und er bleibt dabei: Die erdachten Zitate fassten nur zusammen, wofür Hallstein als Kommissionspräsident sowieso eingestanden sei. Von dem Auschwitz-Auftritt Hallsteins habe ihm «im Zuge seiner jahrelangen Recherchen in der Kommission tatsächlich jemand erzählt». Das muss ein versierter Erzähler gewesen sein.

Der Fälscher als Opfer der Medien

Im Fortgang des Artikels dreht Menasse den Spiess um: Nicht er, der fahrlässig mit historischen Reden, Figuren und Orten verfahrende Autor hat das Problem, sondern die «erregten oder höhnischen Journalisten und Blogger». Letztlich gehe es darum, «eine europapolitische Idee niederzukartätschen». Jene, die ihm, Menasse, nun «Fälschung», «Bluff» und «Lüge» vorwürfen, beförderten nur das Machwerk der Nationalisten.

Fakten zuspitzen und verdrehen, um anderen, wenn sie einem draufkommen, dann zu erklären, das werde man doch mal sagen dürfen – das ist ein Verfahren aus genau jenem politisch fragwürdigen, die eigene Ausgrenzung instrumentalisierenden Lager, das Menasse vorgibt zu bekämpfen.

Mit Phase drei hat ein bedeutender Schriftsteller ein neues Genre für sich entdeckt: die Verschwörung. Hat Robert Menasse eigentlich schon einen Blog?

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