Kayla Itsines: Ihre Fangemeinde ist grösser, als diejenige von Roger Federer. (Bild: PD)

Kayla Itsines: Ihre Fangemeinde ist grösser, als diejenige von Roger Federer. (Bild: PD)

Kayla Itsines macht Rumpfbeugen – und 33 Millionen turnen mit

Die Australierin Kayla Itsines hat sich ein virtuelles Fitness-Imperium aufgebaut. Millionen von Frauen zählen sich zu ihrer selbsternannten «Armee». Warum die Kontrolle der Community online so gut funktioniert – und wo die Gefahren lauern.

Esthy Rüdiger
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Maya Kern, eine 27-jährige Lehrerin aus dem Raum Luzern, kam soeben von der Schule nach Hause. Ihre Sechstklässler waren anstrengend, die Kollegen auch. Ehe sie zu Abend isst – aufgewärmte Zucchetti-Nudeln mit Tomatensauce –, führt sie ein Training mit Kaylas App durch, wie jeden Abend, schon ein ganzes Jahr.

Sie bindet ihre Haare zu einem strengen Dutt zusammen, rollt die pastellfarbene Yoga-Matte im Wohnzimmer aus, kramt Hanteln und ein Springseil hervor. Sie placiert Handy, Wasserflasche und Handtuch sorgfältig parallel nebeneinander und drückt den «Start»-Knopf. Der Countdown läuft. Maya beginnt mit Rumpfbeugen, presst die Lippen während der Unterarmstütze aufeinander, keucht nach der zehnten Liegestütze und wird einen nassen Abdruck auf der Matte hinterlassen, als sie im Liegen die Beine hebt.

Eine junge, dunkelhaarige Frau zeigt auf dem Display die Übungen vor. Ihre Stimme tönt so monoton, wie das Work-out für den Beobachtenden wirkt. 28 Minuten später beendet ein Hornsignal die Session. Maya, im Gesicht rot und glänzend, stöhnt und lässt sich auf die Yoga-Matte fallen.

Verführerische Vorher-nachher-Bilder

Maya, die ihren richtigen Namen als Lehrerin nicht in der Zeitung lesen will, hat sich «Kayla’s Army» angeschlossen – der weltweit grössten Fitness-Community. Angeführt wird die Armee von der 27-jährigen australischen Fitness-Influencerin Kayla Itsines. Der körperliche Drill ist Programm, und so schart die Generalin Kayla immer mehr Soldatinnen um sich: Auf Facebook folgen ihr 23 Millionen Nutzer, auf Instagram zehn Millionen. Zum Vergleich: Roger Federer hat auf Facebook 14 Millionen Fans, auf Instagram fünf Millionen.

Kayla Itsines hat mit Sportprogrammen ein Fitness-Imperium aufgebaut. 2009 entwickelte sie mit ihrem Freund und heutigen Geschäftspartner Tobi Pierce den 12 Wochen dauernden «Bikini Body Guide» («BBG»). Demnach sollen pro Woche drei sogenannte HIIT-Sessions (hochintensives Intervall-Training) und drei bis vier Ausdauereinheiten durchgeführt werden. Die Übungen: Liegestütze, Rumpfbeugen, Hampelmann – nichts, was man nicht schon aus dem frühen Turnunterricht kennt. Es folgten die «BBG»-Fortsetzung, ein Ernährungsplan und die App «Sweat», die sich inzwischen zu einem virtuellen Fitnesscenter mit mehreren Trainern entwickelt hat.

Rekrutiert wird in den sozialen Netzwerken. Dort zeigt Kayla Itsines ihren gestählten, perfekt proportionierten Körper, Vorher-nachher-Bilder von ihren Anhängerinnen und motivierende Sprüche. Diese «Kommandos» sind nicht schroff und fordernd, sondern erinnern an tiefgründig gemeinte Ratschläge einer Freundin: «Respektiere dich selbst. Kenne deinen Wert. Sei eine gute Person.»

Ihre Anhängerinnen posten unter dem Hashtag #DeathbyKayla Selfies nach anstrengenden Trainings, unter #KaylasArmy oder #BBG ihre Fortschritte und die schier grenzenlose Begeisterung für die Trainerin, die ihr Leben verändert habe.

Die Begeisterung gipfelte 2016 in Kaylas Welttournee: Tausende von Frauen strömten in Konzerthallen, um ein Training mit ihrem Idol abzuhalten, so auch in Deutschland. Es blieb der bisher einzige Berührungspunkt der Generalin mit ihrer Armee im realen Leben.

Das Wohnzimmer als Turnhalle

Wieder zu Atem gekommen, sagt Maya, die Lehrerin aus der Zentralschweiz, dass sie auch einmal eine Einheit weglasse, wenn sie andere Pläne habe. Ihr Leben drehe sich nicht nur um ihren Körper, versichert sie, aber schon mehr als früher. Ihre Bauchmuskeln, die zwischen dem grell pinkfarben Sport-BH und hüfthohen Shorts dezent hervortreten, bekräftigen die Aussage. Seit letztem Jahr habe sie «sicher sieben Kilo verloren», ausserdem sei sie «confidenter». Neben dem straffen Training habe sie ihren ganzen Lebensstil geändert: gesündere Ernährung, mehr Schlaf, ausreichend Bewegung im Alltag. «Der Körper erreicht, was der Geist glaubt», lautet ein Instagram-Kommando von Kayla. Oder: Wer scheitert, ist selber schuld.

Teil einer internationalen Bewegung sein, ohne das eigene Wohnzimmer verlassen zu müssen: Das ist ein zentraler Erfolgsfaktor von Kayla Itsines. Einige Soldatinnen gründen «What’s App»-Gruppen und protokollieren darin ihre Work-outs, was sie gegessen und wie viel sie zu- oder abgenommen haben. Täglich werden Ratschläge erteilt und Meinungen eingeholt. Dank Apps wie «Sweat» lassen sich Fortschritte zudem objektiv festhalten – zumindest dem Gefühl nach behält man so die Kontrolle über den Körper.

Der Treibstoff der Community sind Fotos. Die Mutter, die nach drei Kindern den strafferen Bauch hat als vor dem ersten, und die fettleibige Frau, die heute Normalgrösse trägt – sie alle wecken den Reflex: «Wenn sie das geschafft hat, schaffe ich das auch.»

Macht Instagram Abnehmen einfacher denn je zuvor? Fachleute stehen dem sportlichen Massenkult kritisch gegenüber.

Vorher-nachher-Fotos seien mit Vorsicht zu geniessen, sagt Jürgen Schüttpelz, Gynäkologe in Baden. Er bietet in seiner Praxis selbst ein Programm für ärztlich begleitete Gewichtsreduktionen an. «Sowohl Position als auch Lichteinfall und Kleidung sind einfach manipulierbar.» Die meisten dieser Bilder zeigen zudem keine Verwandlung von 12 Wochen, sondern sind das Resultat mehrerer Monate oder Jahre.

In der Community stelle Kayla Itsines eine Art Prototyp dar, den es zu erreichen gelte, sagt die Soziologin Lisa Schwaiger von der Universität Zürich. Sie forscht im Bereich von Fitness-Apps und Selbstoptimierung. «Der Druck auf die Nutzerinnen wird durch die Vorher-nachher-Bilder verstärkt.» Sie vermutet, dass Misserfolge seltener veröffentlicht werden. Das wiederum führe zu einem verzerrten Bild der Realität.

«Der Körper erreicht, was der Geist glaubt», lautet ein Instagram-Kommando von Kayla. Oder: Wer scheitert, ist selber schuld.

Die Kritik an Kayla Itsines wächst mit ihrer Bekanntheit: Sie vermittle ein unrealistisches und ungesundes Körperbild. Nebst ihrer vermutlich guten Genetik müsste sie für ihren stählernen Körper wohl mehr Sport treiben als die von ihr empfohlenen 30 Minuten pro Tag, heisst es.

Tatsächlich hält der Arzt Jürgen Schüttpelz einen Körper wie jenen von Itsines ohne die genetischen Voraussetzungen für illusorisch: «Wer unter Cellulite oder sogenannten ‹Reiterhosen› leidet, wird diese auch mit viel Training nicht los.» Auch sei es problematisch, ein pauschales Programm für alle Frauen anzubieten. Sechs Trainingseinheiten pro Woche seien zwar gesund, aber für übergewichtige und bis dahin unsportliche Frauen kaum machbar.

Der Traumkörper soll aber nicht nur mit mehr Sport, sondern auch mit weniger Essen erreicht werden: Der Ernährungsplan der Australierin sieht vor, 1600 Kalorien pro Tag zu sich zu nehmen. Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung dagegen empfiehlt 1800 bis 2000 Kalorien täglich bei jungen Frauen. Lässt Itsines ihre Anhängerinnen hungern? Nein, sagt der Frauenarzt. Bei einer Frau mit durchschnittlichem Körperbau sei das grundsätzlich genug.

Stellt sich die Frage, wie förderlich eine Kalorien-Beschränkung und Snack-Empfehlungen wie «15 Mandeln» oder «10 Trauben» für ein gesundes Körpergefühl sind. An einem solchen Abzähl-Regime dürften Experten für Essstörungen keine Freude haben.

Zusammen schwitzen verbindet

Kayla Itsines wurde mit ihrer App zur vermögenden Unternehmerin: Diese kostet 20 Franken pro Monat oder 120 Franken pro Jahr. Seit 2015 wurde sie über 30 Millionen Mal heruntergeladen. Ihr Verlobter Tobi Pierce schätzte unlängst gegenüber «Forbes», dass die App 2018 über 76 Millionen Dollar einbringen werde. Das Unternehmen beschäftigt heute 70 Personen.

Wofür aber bezahlen Kaylas Soldatinnen? Um die Work-outs in Echtzeit mit ihrem Idol durchzuführen, wie es Tausende von Frauen in den 1980er Jahren zu Jane Fondas Aerobic-Videos taten? Oder um von Gleichgesinnten im Fitness-24/7-Paralleluniversum täglich daran erinnert zu werden, die «beste Version von sich selbst» anzustreben?

Schauspielerin Jane Fonda war in den 1980er Jahren die Aerobic-Queen. (Bild: Paul Popper / Popperfoto / Getty)

Schauspielerin Jane Fonda war in den 1980er Jahren die Aerobic-Queen. (Bild: Paul Popper / Popperfoto / Getty)

«Es motiviert, mit Millionen anderen Frauen dasselbe Ziel zu verfolgen», sagt Maya. Mit einer Trainerin wie Kayla, «nahbar und bodenständig», könne sie sich zudem gut identifizieren. «Sie ist Millionärin und doch wie die Freundin, die einem hilft, seinem Wunschkörper jeden Tag näher zu kommen.» Diese umschreibt es auf Instagram so: «Freunde, die zusammen schwitzen, bleiben zusammen.»

Von solchen Glückskeks-Kommandos wird sie auch ihre Schwangerschaft nicht abhalten, die sie vor kurzem bekanntgab. Mit Vorher-Nachher-Bilder ihres künftigen Post-Partum-Körpers dürfte sie für ihre Armee noch glaubhafter werden.

Maya nimmt ihr Handy noch einmal aus der Tasche. «Fast vergessen», sagt sie und öffnet eine «Whatsapp»-Gruppe namens «BBG-Girls»: «Bauchtraining Check», schreibt sie und versieht ihr Foto mit einem grünen Häkchen-Emoji. «Tolle Bauchmuskeln!» und klatschende Hände-Emojis zweier Gruppenmitglieder belohnen es.