Selbstgerechte Progressive brandmarken alle, die anders denken als sie: So kippt Fortschritt in Rückschritt

Wo Selberdenken war, muss Stammesdenken werden: Die Debattenkultur hat in der neuen Netzöffentlichkeit einen Tiefpunkt erreicht. Wie kommen wir da wieder heraus?

Jörg Scheller
Drucken
Wenn das Stammesdenken zurückkehrt: Hyperindividualisten werden plötzlich zu einem homogenen Kollektiv, das sich über Geschlecht, Hautfarbe oder Ethnie definiert. (Bild: Tony O'Brien / Reuters)

Wenn das Stammesdenken zurückkehrt: Hyperindividualisten werden plötzlich zu einem homogenen Kollektiv, das sich über Geschlecht, Hautfarbe oder Ethnie definiert. (Bild: Tony O'Brien / Reuters)

Kürzlich war es wieder einmal so weit. Wir diskutieren auf Twitter. Irgendwann klinkt sich ein junger, eifriger Akademiker in die Auseinandersetzung ein. Als ihm gewisse Argumente nicht gefallen, zückt er die Wunderwaffe: Hier handle es sich um Verlautbarungen von weissen, heterosexuellen Männern. Disqualifiziert!

Es ist frappant, wie sehr dieser Versuch früheren Versuchen ähnelt, Frauen im öffentlichen Diskurs auszubremsen. Was Frauen zu sagen hatten, bedurfte keiner ernsthaften Betrachtung, es handelte sich ja um die Frauenperspektive. Strategisch setzte man Einzelne mit einer Gruppe gleich, aus der es kein Entkommen gab. Auf strukturell vergleichbare Weise versuchen Rechtsradikale, ihre Gegner mundtot zu machen, indem sie die Identitätskarte spielen. Diese Personen da seien nur Migranten, nur Linksgrünversiffte, nur Agenten des Globalismus. Also muss man sie nicht für voll nehmen. Und was macht man mit etwas, das versifft ist? Genau: Man säubert es.

Die falsche Gruppe

Vor allem in der Netzöffentlichkeit zeichnet sich ein neuer, angeblich progressiver Sauberkeitsfimmel ab. Für manche ist es undenkbar, dass man den Feminismus feiern und Margarete Stokowski trivial finden, für Marginalisierte eintreten und Identitätspolitik kritisieren, Neoliberalismus geisseln und liberale Werte verfechten, Rassismus bekämpfen und vor der Entgrenzung des Begriffs warnen kann. Kommt ein Argument aus der «falschen» oder aus einer schwer verortbaren Gruppe, sind Vorverurteilungen und Unterstellungen an der Tagesordnung.

Darunter mögen viele Petitessen sein. Doch Unrecht und Gewalt beginnen schleichend, mit der verbalen Herabwürdigung von Einzelnen als Angehörigen von Gruppen. Erst eine ideologische Absolution erlaubt es, Menschen in einem zweiten Schritt nichtverbal, und erst noch mit gutem Gewissen, zu bekämpfen.

Der Historiker Erich Keller schrieb unlängst auf Twitter, über «historisch kontaminierte Topoi wie Hautfarbe Gruppen zu konstruieren», sei «auf allen Ebenen ein katastrophaler analytischer Rückschritt». Eine gängige Reaktion auf solche Einwände ist der Anwurf, hier würde guter Progressismus von einem weissen Mann als Empörung des Mobs abgetan, bloss um seine Privilegien zu sichern. So umgeht man bequem die Mühen der Überzeugungsarbeit.

Die erwähnten Beispiele sind typisch für die Versuchungen selbsterklärter progressiver Bewegungen, zum schnelleren Erreichen ihrer Ziele unlautere Abkürzungen zu nehmen. Gemeint sind explizit alle sich als progressiv verstehenden Bewegungen, egal ob es sich um linke oder rechte, religiöse oder profane handelt.

Der Begriff «progressiv» ist äusserst dehnbar. So verstanden sich auch die Nationalsozialisten als fortschrittlich und verunglimpften ihre Feinde als «Reaktionäre» – ein Totschlagargument im wörtlichen Sinne. Wenn das Ziel dringlich ist, wenn das angestrebte «Gute» als unhinterfragbar gilt, heiligt der Zweck die Mittel, werden Kollateralschäden in Kauf genommen. 1933 sagte der deutsche Reichsinnenminister Hermann Göring: «Wo gehobelt wird, da fallen Späne. [. . .] Lieber schiesse ich ein paar Mal zu kurz oder zu weit, aber ich schiesse wenigstens.»

Widerspruch zulassen

Fehler, die am Anfang einer Bewegung gemacht werden, können später nur schwer korrigiert werden – das kleine ABC des Projektmanagements gilt auch für Aktivismus und Anliegenlobbyismus. Deshalb ist jede progressive Bewegung nur so gut wie diejenige Kritik, die sie von Beginn an akzeptiert und verarbeitet. Gerade in idealistischen Frühphasen wird Kritik indes oft als Verrat gewertet.

Dabei ist gerechte, sachliche Kritik keine Fortschrittsverhinderin. Im Gegenteil. Sie ist eine Fortschrittsverbessererin. Auch der Fortschritt profitiert mitunter von Whistleblowern. Dass Progressismus schnell kippen kann, wenn Offenheit sowie Checks und Balances fehlen, wenn Puristen und Ideologen das Ruder übernehmen, zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte des Fortschritts, die eng mit Kultur-, Zivilisations-, Eliten- und Dekadenzkritik verbunden ist.

Als die frühen Christen ihren Siegeszug antraten, zerstörten sie die Tempel jener, die sie Heiden nannten. Sie verfolgten Andersdenkende, sie zensierten Schriften von Philosophen wie Demokrit, dessen Materialismus nicht in ihr Weltbild passte. All das konnten sie tun, weil sie sich im Gleichschritt mit dem unabwendbaren Fortschritt und im Besitz der Wahrheit wähnten. Dafür mussten die puristischen Sozialrevolutionäre zunächst das Römische Reich herabwürdigen. Und zwar umfassend.

Die Sicht auf Rom der damaligen christlichen Leitwölfe erinnert an die der fiktiven Volksfront von Judäa aus Monty Pythons Film «Das Leben des Brian». In einer Szene planen die Untergrundkämpfer einen Schlag gegen Pontius Pilatus. Der Anführer der Gruppe hält eine Motivationsrede und fragt die Versammelten, was die Römer «jemals für uns getan» hätten. Kurzes Schweigen. «Das Aquädukt», sagt einer der Vermummten zögerlich. «Und die sanitären Einrichtungen», sagt ein anderer. Nun geht es Schlag auf Schlag. «Die schönen Strassen.» – «Medizinische Versorgung.» – «Schulwesen.» – «Den Wein.» – «Die öffentlichen Bäder.» – «Und jede Frau kann es wagen, nachts die Strasse zu überqueren.» – «Den Frieden gebracht.» Ruhe! Schluss! All das muss ausgeblendet werden – sonst wäre der Feind ja kein Feind mehr!

Fortschritt von oben

Mit scharfen Argumenten kritisierte der römische Philosoph Celsus im zweiten Jahrhundert das Christentum für dessen Irrationalität, Denkfehler und Mystagogie. Vergeblich. Wenig später waren an die Stelle der asketischen Wüstenväter mächtige Cäsaren-Päpste getreten. Schon kurz nach der konstantinischen Wende wurde die Todesstrafe für diejenigen erlassen, die die falschen Götter anbeteten. Dieser cäsaropapistische Umschwung wird an der Trajanssäule in Rom sinnfällig. Auf ihrer Spitze, dort, wo einst der Kaiser stand, steht seit der Neuzeit der Apostel Petrus – wie eine Allegorie für die Dialektik eines Fortschritts, der «bottom up» begann und «top down» endete.

Das Argument, diese oder jene Gruppe sei nur eine Minderheit, verfängt also nicht. Wenn die Umstände günstig sind, vor allem in Krisenzeiten, werden aus Minderheiten schnell Machthaber. Gerade der Minderheitenstatus ermöglicht es ihnen, geschlossen aufzutreten. Und wenn sie geschickt sind, führen sie selbst die Krise herbei, die ihnen Macht verschafft.

Die aus guten Gründen begonnene Französische Revolution wiederum bewies bereits im Ästhetischen, dass sie mit der Rigorosität des verhassten Ancien Régime flirtete. Unter Napoleon setzte die offizielle Kunstpolitik auf den monumentalen, harten, männlich codierten Klassizismus eines Jacques-Louis David. Bereits der bürgerliche, anonym publizierende progressive Kunstkritiker Etienne La Font de Saint-Yenne erklärte um 1750 das klassizistische Historiengemälde zum Mass aller Dinge. Was sich nicht darein fügte, galt als verweichlicht und verweiblicht. Männlich, das war die grosse, heroische, historische Tat, das Wirken in der Öffentlichkeit. Weiblich, das war das Kleine und Gefällige im Privaten. Die verspielte Boudoir-Kunst des Rokoko mit ihren frivolen, ahistorischen Szenerien galt dahingehend als Fortschrittshemmnis.

Der Umgang der Revolutionäre mit ihren weiblichen Mitstreiterinnen war ganz in diesem Sinne. Olympe de Gouges, eine hellsichtige Kritikerin der Jakobiner, wehrte sich gegen die Marginalisierung der progressiven Frauen in der Revolution: «Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Gleichermassen muss ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen.» Dafür wanderte sie – aufs Schafott. Ihr Verständnis von Fortschritt passte nicht zur Fortschrittsdoktrin der Puristen. Die Zwecke und Botschaften von Puristen unterscheiden sich. Nicht aber ihre Mittel und Methoden. Und auf die kommt es an.

Jede progressive Bewegung hat die Chance, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Dafür müssen Stimmen ernst genommen werden, die früh auf Widersprüche hinweisen – etwa zwischen niederen Mitteln und noblen Zwecken. An solchen Widersprüchen besteht auch heute kein Mangel.

Belastbare Gerechtigkeit

Galt es eben noch als anrüchig, mit Doktor- oder sonstigen Titeln öffentlich zu wuchern, ruft man Frauen nun dazu auf. Gehörte Kapitalismuskritik eben noch zum guten Ton, wird nun grosszügig darauf verzichtet, wenn sich Konzerne scheinheilig zu Diversity bekennen, wo alle anders aussehen, aber gleich denken. Sah man eben noch von Gruppenstigmatisierung und irreführenden Kollektivsingularen ab, feiern diese nun fröhlich Urständ. War es eben noch verpönt, Menschen vorzuverurteilen, werden Gerichtsprozesse nun in Massenmedien und sozialen Netzwerken wie selbstverständlich vorentschieden, wenn es nur dem je eigenen Verständnis von Fortschritt dient. Kurz: Trifft es «die Richtigen», ist unsauberes Vorgehen nicht nur entschuldbar, sondern geradezu gefordert.

Hinter solchem Vorgehen steckt kein Verlangen nach zukunftsfähiger, belastbarer Gerechtigkeit, sondern nach Heimzahlung durch Sippenhaft. Eine der klügsten und witzigsten Twitter-Stimmen, die Radiomoderatorin Mareile Ihde, zwitscherte unlängst: «Wollen wir eine gerechte Gesellschaft oder doch nur alttestamentarische Rache? Ich ergänze: eine halbwegs gerechte Gesellschaft. Die Vorstellung allumfassender Gerechtigkeit ist bei realistischer Betrachtung ja auch nicht mehr als eine hübsche, aber sehr infantile Idee.»

Damit ist kein Aufruf zu Stagnation verbunden. Ich selbst bin wohl das, was Konservative einen Progressiven nennen würden, weil ich an menschlichen Fortschritt glaube. Andererseits bin ich wohl das, was Progressive einen Konservativen nennen würden. Ich gebe Bewährtes nicht gerne preis. Ich schätze Abwägung, Sorgfalt und Ordnung. Skepsis und unparteiische Gerechtigkeit sind mir teuer. Ohne sie kippt Fortschritt in Hybris.

Fortschrittlich sind nicht jene, die sich zur Avantgarde einer historischen Entwicklung verklären, die sie allein definieren und kontrollieren. Fortschritt ist vielmehr das Resultat kritischen menschlichen Handelns in geteilter Freiheit. Diese Freiheit setzt Offenheit gegenüber den eigenen Mängeln voraus. Gerechte progressive Bewegungen stehen deshalb vor einer besonderen Herausforderung: Sie müssen sogar sich selbst voraus sein.

Mehr von Jörg Scheller (jsz)