Berhe Goitum, abgewiesener Asylbewerber aus Eritrea, ist illegal in der Schweiz anwesend. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Berhe Goitum, abgewiesener Asylbewerber aus Eritrea, ist illegal in der Schweiz anwesend. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Kein Asyl, keine Zukunft und 8 Franken Nothilfe pro Tag: Eritreer bleiben trotzdem in der Schweiz

Hunderte von abgewiesenen Asylsuchenden aus Eritrea weigern sich zurückzukehren. Abschieben können die Behörden sie nicht. Hinter der Statistik verbergen sich schwierige Schicksale.

Tobias Gafafer 0 Kommentare
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Berhe Goitum ist noch in der Schweiz, obwohl er diese längst hätte verlassen müssen. Der junge Eritreer ist einer von über 5000 weggewiesenen Asylbewerbern, die Nothilfe beziehen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat ihre Gesuche rechtskräftig abgelehnt. Gemäss den Behörden könnten sie gefahrlos in ihr Heimatland zurückkehren, weigern sich aber – und sind damit illegal anwesend. Sie erhalten keine Sozialhilfe mehr, sondern nur das Nötigste wie eine Unterkunft und medizinische Grundversorgung sowie je nach Kanton maximal 12 Franken pro Tag. Arbeiten oder eine Ausbildung absolvieren dürfen sie nicht.

Goitum sitzt in der Stube einer Familie in der Nähe Berns, die ihn unterstützt. Häufig erzählen abgewiesene Asylsuchende ihre Geschichte lediglich anonym. Der 24-Jährige aber tut dies mit vollem Namen. Er hat nur noch wenig zu verlieren. Ein eritreischer Kollege, dessen Asylgesuch ebenfalls abgelehnt worden ist, übersetzt das Gespräch. In der Schweiz sei er zufällig gelandet, sagt Goitum. Wie viele Eritreer kam er 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nach Chiasso, über Libyen, das Mittelmeer und Italien. Vier seiner Brüder seien im militärischen Nationaldienst und hätten keine Perspektive. «Ich wollte nicht so enden und suchte mein Glück im Ausland.»

Eine Perspektive fehlt ihm nun aber auch in der Schweiz. Im September 2018 erhielt er den negativen Asylentscheid. Grund für die Wegweisung war, dass er in Eritrea nicht im Nationaldienst war. Bis Ende Oktober sollte er das Land verlassen, teilten ihm die Behörden mit. Seither ist er in der Schweiz geduldet, aber nicht erwünscht. Goitum musste die Wohngemeinschaft in Münsingen verlassen, die der Kanton ihm und weiteren Eritreern zur Verfügung gestellt hatte. Und lebt seither in der Kollektivunterkunft in Konolfingen im Emmental.

In seine Heimat zurückkehren will er jedoch nicht. Aus Furcht, in den Nationaldienst eingezogen zu werden. Ausschaffen kann ihn die Schweiz nicht. Eritrea weigert sich, seine Bürger zwangsweise zurückzunehmen. Goitums Alltag im Kanton Bern ist monoton. «Mit acht Franken Nothilfe am Tag kommt man nicht weit.» Einmal in der Woche gibt ihm eine Frau aus dem freikirchlichen Milieu freiwillig Deutschunterricht. Auf bezahlte Sprachkurse hat er keinen Anspruch. Dank Helfern kann er weiter ins Fussballtraining nach Münsingen. Die meiste Zeit aber verbringt er mit Warten.

Noch eine Flucht

Goitum steht stellvertretend für viele der mehrheitlich jungen Eritreer. Sie sind in den letzten Jahren in die Schweiz gekommen und sind von der verschärften Praxis des Bundes betroffen. 2016 beschloss das SEM zunächst, dass die illegale Ausreise allein nicht mehr als Asylgrund gilt. Das Bundesverwaltungsgericht stützte dies. In weiteren Grundsatzentscheiden beschlossen die St. Galler Richter, dass die Rückkehr von abgewiesenen Asylsuchenden nach Eritrea nicht generell unzumutbar sei. Vor allem aber sei eine Wegweisung auch zulässig, wenn jemandem in Eritrea die Einberufung in den Nationaldienst drohe.

Eritreer erhalten zwar weiter überdurchschnittlich häufig Asyl oder werden vorläufig aufgenommen, wobei ein grosser Teil auf Geburten oder den Familiennachzug zurückgeht. Doch seit der Praxisverschärfung hat das SEM über 2000 Eritreern die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Bis Ende Juni überprüft es zudem den Status von rund 3000 vorläufig Aufgenommenen. Viele Eritreer, die bereits abgewiesen worden sind, tauchten ab und reisten in ein anderes europäisches Land weiter. In der Folge stieg auch die Zahl der Rückübernahmen. Kann ein EU-Staat nachweisen, dass ein Asylbewerber bereits in der Schweiz war, wird er abgeschoben. Dieses Schicksal droht auch einem Kollegen Goitums, der in Belgien festsitzt. Er aber wolle in der Schweiz bleiben, wo seine Fingerabdrücke registriert seien.

Heimkehr zumutbar

Eine, die ihr Glück erfolglos in einem anderen Dublin-Staat versucht hat, ist Almaz Yemane. Sie sitzt im Gemeinschaftszentrum der reformierten Kirchgemeinde in Wohlen bei Bern. Die junge Frau kam 2014 in die Schweiz, ebenfalls via Libyen und Italien. Obwohl sie ein Kind hat, fürchtete sie, dass sie drei Jahre nach dessen Geburt in den Nationaldienst eingezogen würde. 2016 war sie unter den ersten Asylsuchenden aus Eritrea, deren Gesuch abgelehnt wurde. In der Folge tauchte sie in Deutschland unter. Nach sieben Monaten in Hamburg wurde sie in die Schweiz abgeschoben. Seither lebt sie in der Kollektivunterkunft Hinterkappelen von Nothilfe.

Auch in ihrem Fall erachten die Behörden eine Rückkehr als zumutbar. Davor aber hat Yemane Angst. Die Lage in Eritrea sei weiter schwierig, sagt sie. Der Nationaldienst sei nicht abgeschafft und schlecht bezahlt. Der 35-Jährigen fehlt ebenfalls eine Perspektive. Sie hätte gerne etwas zu tun und will besser Deutsch lernen – auch nach Jahren in der Schweiz sind ihre Sprachkenntnisse schlecht. Einmal in der Woche durchbricht ein Kurs, den Freiwillige anbieten, die Monotonie. «Nur herumzusitzen und zu schlafen, ist schwierig», sagt Yemane. Sie denke zu viel.

Abschreckende Wirkung

Was machen die Behörden mit Frauen wie Yemane, die längst in ihre Heimat zurück müssten, aber nicht gehen und von Nothilfe leben? Einfache Lösungen gibt es nicht. Linke und Flüchtlingshelfer fordern, dass der Bund Eritreern weiter generell Schutz oder eine vorläufige Aufnahme gewährt. Dies ist nach den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts wenig realistisch. Ausschaffungen nach Eritrea dürften auf absehbare Zeit ebenfalls kaum möglich sein. Das Nothilferegime soll abschreckend wirken und zu mehr freiwilligen Ausreisen führen. Das sei vom Parlament gewollt, sagt eine Sprecherin des SEM. Die unerlässlichen Grundlagen eines menschenwürdigen Daseins seien damit gesichert.

Nur einige Dutzend Eritreer kehrten jedoch in ihre Heimat zurück. Unter den Bezügern von Nothilfe sind diese konstant die grösste Gruppe. Die Langzeitfälle stellen die Kantone vor Probleme. Sie wären für die Ausschaffungen zuständig, können diese aber nicht vollziehen. Der Kanton Bern wollte an eher abgelegener Lage ein sogenanntes Rückkehrzentrum einrichten. Eine Art letzten Wartesaal, in dem Weggewiesene wie Berhe Goitum und Almaz Yemane untergebracht werden sollten, getrennt von anderen Migranten. Im früheren Jugendheim in Prêles sollte der Anreiz, in der Schweiz zu bleiben, möglichst gering sein. Das Vorhaben scheiterte jedoch im bernischen Kantonsparlament. Linke und Flüchtlingshelfer kritisierten, das Zentrum wäre unmenschlich. SVP-Lokalpolitiker wehrten sich aus Sicherheitsgründen dagegen. Nun sucht der Kanton eine Alternative.

Lehre für Rückkehrer

Auch der Druck auf den Bund hat zugenommen. Die kantonalen Migrationsbehörden fordern, dass er ein spezielles Rückkehrprogramm für junge Eritreer entwickelt. An einem derartigen Projekt arbeitet Hans Furrer. Der pensionierte Berufsschullehrer und Erwachsenenbildner ist Mitglied des Unterstützungskomitees für Eritrea (Suke). Eines Hilfswerks, das Toni Locher, der eritreische Honorarkonsul in der Schweiz, präsidiert. Wie dieser war Furrer in jungen Jahren in linken, antiimperialistischen Kreisen aktiv. Er kennt Eritrea seit 33 Jahren und ist einer der wenigen Schweizer, die das abgeschottete Land regelmässig besuchen.

Abgewiesene eritreische Asylbewerber sollten in der Schweiz eine Lehre anfangen können, fordert er. Bedingung wäre, dass sie danach freiwillig zurückkehrten und die Ausbildung in Eritrea beendeten. Auch Furrer findet es falsch, wie Eritrea den Nationaldienst handhabt. Es habe sich noch nicht viel geändert, sagt er. «Junge sind in ihrer Lebensgestaltung nicht frei und wissen nicht, wie es weitergeht.» Auf dem Land hätten diese weniger Möglichkeiten als in den Städten, wo der Dienst auch im zivilen Bereich möglich sei, etwa in Schulen. In Eritrea gebe es Menschenrechtsverletzungen, aber nicht mehr oder weniger als anderswo in Afrika.

In Furrers Augen kommt das Land in der Schweiz dennoch zu schlecht weg. Trotz vielen Fehlern habe die Regierung auch Gutes getan, etwa im Gesundheitswesen, bei der Bildung oder der Ernährungssicherheit, sagt er. Die ökonomischen Lebensbedingungen hätten sich nach dem Friedensschluss mit Äthiopien verbessert. Dass der Bund eritreische Asylbewerber wegweist, findet er richtig. «Die grosse Mehrheit ist in ihrer Heimat nicht an Leib und Leben gefährdet, sondern ist aus wirtschaftlichen Gründen hier.»

Eine Rückkehrlehre wäre nicht Furrers erstes Engagement in Eritrea. Mit der eritreischen Gewerkschaft läuft ein Projekt der Suke, das ein duales Berufsbildungssystem aufbauen und einen Beitrag zur Reduktion der Migration leisten soll. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) unterstützt dieses mit 1,31 Millionen Franken. In einem Berufsbildungszentrum in der Hafenstadt Massawa wurden bis anhin rund 240 Lehrlinge in sechs Berufen ausgebildet. Ein Team von Schweizer Lehrern reist in ihren Ferien zweimal pro Jahr nach Eritrea, um das Hilfsprojekt zu begleiten. Furrer hofft, dass dieses fortgesetzt werden kann. Die Deza evaluiert es gegenwärtig. Die Resultate dienen als Grundlage für den Entscheid, ob das Engagement in Eritrea weitergeführt werden soll. Der Bund nahm dieses erst 2017 nach einer längeren Pause auf kleinem Niveau wieder auf, nachdem das Parlament Druck gemacht hatte.

Berhe Goitum aber hat die Hoffnung, dass er legal in der Schweiz bleiben kann, noch nicht ganz aufgegeben. Auch weggewiesene Asylbewerber haben die Möglichkeit, nach einigen Jahren ein spezielles Gesuch zu stellen. Auf Antrag ihres Wohnkantons können sie eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Bedingung ist, dass sie sich seit mindestens fünf Jahren im Land aufhalten. Zudem muss ein schwerwiegender Härtefall vorliegen, weil die Integration fortgeschritten ist. Bis anhin profitieren allerdings nur wenige Personen davon. 2018 kamen auf diesem Weg drei Eritreer nachträglich zu einer Aufenthaltsgenehmigung.

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