Der Purpur-Enzian ist eine Rarität, die den besten Enzian-Schnaps hergibt. (Bild: Alamy)

Der Purpur-Enzian ist eine Rarität, die den besten Enzian-Schnaps hergibt. (Bild: Alamy)

Auf Pflanzenpirsch im Saastal

Im Walliser Saastal gibt es nicht nur Viertausender und tolle Gletscherwelten, es ist auch ein Paradies für seltene Pflanzen. Vor hundert Jahren kamen die ersten Botanik-Touristen, um Enzian, Rosenwurz & Co. einzusammeln.

Walter Aeschimann
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Eine kühle Brise treibt weiche Nebelfetzen vom Stausee Mattmark hinüber in die zerklüftete Gletscherlandschaft von Alphubel, Allalin- und Rimpfischhorn. Manchmal blinzelt die Sonne durch und öffnet einen flüchtigen Blick in diese monumentale Pracht. Für einmal steht indes nicht die feudale Wucht der Alpen im Mittelpunkt, sondern die faszinierende Schönheit der kleinen Dinge.

Die Entdeckungstour führt durch die Pflanzenwelt im Wallis, hoch über dem Saastal und Saas-Almagell. Eigentlich war geplant gewesen, vom Mattmark-Restaurant via Seeflüe, dem schmalen Pfad zwischen See und Felsgestein, ins raue Ofental zu laufen. Wer aber mit Pflanzenkennern einen Fussmarsch macht, kommt nicht weit. Überall ist eine Besonderheit aufzuspüren. «Hier, ein Purpur-Enzian!» Die leuchtende Rarität, deren Wurzel den besten Enzian-Schnaps hergibt, ist bald verwelkt, verbreitet aber noch einen feinen Duft.

Das Handwerk des Pflanzensammelns

An den Felsen hängt der orange-rötlich verfärbte Rosenwurz, der sich mit Vorliebe aus den Spalten zwängt. Die Pflanze soll den Stress besänftigen können. Hinter den Hochstauden versteckt sich der hochgiftige Weisse Germer. In der Antike vergifteten die Krieger damit ihre Pfeilspitzen. Der Bach-Steinbrech am Wegesrand dient Ameisen und Fliegen als Nektarquelle. Und überall blühen pinkfarbene, schmalblättrige Weideröschen.

Margrit Wyder, Historikerin und wissenschaftliche Assistentin am Botanischen Institut der Universität Zürich, und Reto Nyffeler, Privatdozent und Leiter des Herbariums der Universität Zürich, versuchen, die Unterländer Wanderer für die alpine Walliser Pflanzenwelt zu begeistern. Nyffeler packt seinen Rucksack aus und demonstriert das Handwerk des Pflanzensammelns. Mit dem Taschenmesser gräbt er ein Kleinblütiges Knopfkraut aus. Zwecks korrekter Bestimmung ist es wichtig, auch die Wurzel mitzunehmen. Er notiert auf einem kleinen Zettel den exakten Fundort und beschreibt die Art der Pflanze. Zum Trocknen wird diese vorerst sorgfältig ausgebreitet und zwischen Zeitungsblättern eingelegt. Zu Hause werden sie auf saugfähigem Papier in der Pflanzenpresse gestapelt. Etwa vier Wochen später sind sie trocken und werden zur dauerhaften Aufbewahrung auf sogenannte Herbarkartons geklebt.

Alfred Keller (links) und Otto Naegeli legten zwischen 1891 und 1925 eine riesige Sammlung an.(Bild: Vereinigte Herbarien Universität und ETH Zürich)

Alfred Keller (links) und Otto Naegeli legten zwischen 1891 und 1925 eine riesige Sammlung an.(Bild: Vereinigte Herbarien Universität und ETH Zürich)

So müssen Alfred Keller, Ober-Maschineningenieur bei den SBB in Bern, und Otto Naegeli, Medizinprofessor an der Poliklinik Zürich, vor mehr als hundert Jahren unterwegs gewesen sein. Die beiden Bildungsbürger verbrachten ihre Ferien samt Familien und Freunden zwischen 1894 und 1924 oft im Saastal. Als sie zum ersten Mal hierherkamen, war die Eisenbahn von Visp nach Stalden gerade eröffnet worden. Die Zugreise von Bern dauerte 6 Stunden und 17 Minuten. Eine Strasse ins Saastal wurde erst in den 1930er Jahren gebaut. So ging die Reise auf dem Saumweg ins Hotel «Zum Portjengrat» nach Saas-Almagell weiter. Diesen Fussmarsch nutzten die ersten Botanik-Touristen, um Pflanzen einzusammeln. Während mehrwöchiger Ferienaufenthalte gingen sie jeden Tag auf Pflanzenpirsch und legten umfangreiche Herbarien an.

In dreissig Jahren kamen rund 130 000 Exemplare zusammen. Das Herbarium Naegeli/Keller gehört zu den grössten privaten Pflanzensammlungen in der Schweiz. Im Jahr 1936 schenkte Otto Naegeli die Sammlung der Universität Zürich. Dort blieb sie unbearbeitet. Erst vor wenigen Jahren ergab sich die Möglichkeit, sie vom Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik mit wissenschaftlichen Methoden auszuwerten. Dabei zeigte sich, dass ein Grossteil der Pflanzen aus dem Saastal stammt. Das ist kein Zufall. Von 3000 bekannten Pflanzenarten in der Schweiz kommen rund 1000 auch im Saastal vor. Der Grund dafür ist das spezielle Klima. Das Saastal verläuft quer zum Rhonetal nach Süden. Es endet bei der Wasserscheide an der Grenze zu Italien und hat ein vergleichsweise mildes Klima. Bergketten mit mehreren Viertausendern schirmen das Saastal im Westen zudem von der Hauptwetterlage ab.

Frauen sammelten fleissig mit

Margrit Wyder hat, begleitend zur wissenschaftlichen Auswertung, ein Buch verfasst, das wunderbar bebildert ist. «Von Alpenblumen und Menschen» handelt vom ersten Botanik-Tourismus im Wallis, von persönlichen Geschichten und einem Netzwerk aus akademischen Bildungsbürgern, aus Fabrikanten und vermögenden Kulturschaffenden. Pflanzenkunde war eine adäquate und beliebte Freizeitaktivität in noblen Kreisen. Die Historikerin beschreibt auch die «stillen Gefährtinnen», die Ehefrauen, das «Fräulein Weis aus Basel», Kellers Töchter Else und Hanni oder die mit den Töchtern befreundete Primarlehrerin Trudi Widler aus Zürich. Sie sammelten fleissig mit und steuerten eine beträchtliche Anzahl Pflanzen zur Sammlung bei. Zum erweiterten Bekanntenkreis der Kellers zählten auch die Industriellenfamilie Schwarzenbach oder Achille Ratti, der spätere Papst Pius XI. Er war in jungen Jahren ein begeisterter Alpinist und soll sich mindestens einmal mit den Kellers als Botanik-Tourist im Saastal betätigt haben. Die kleine Ausstellung zum Buch, im Hotel Kristall Saphir von Saas-Almagell installiert, zeigt persönliche Aufzeichnungen, Original-Herbarkartons, Utensilien des Pflanzensammelns und zeitgenössische Fotos, die zu 3D-Bildern umgewandelt wurden. In der Bibliothek am Botanischen Garten in Zürich ist parallel dazu eine leicht abgeänderte Fassung zu sehen.

Drei Stunden hat die Erkundungstour im Pflanzenreich gedauert. Die Unterländer haben sich betören lassen vom Spinnweb-Hauswurz, vom Strauss-Steinbrech oder von der Bärtigen Glockenblume, sind eingetaucht in Duft und Farbenpracht der Flora – und haben kaum zwei Kilometer Weg geschafft. Dafür sind sie behutsam durch die blühende Flora gewandert. Auf dem Rückweg lenkt Reto Nyffeler ihren Blick von den kleinen Sensationen am Wegesrand nochmals nach oben. Durch die Klimaerwärmung sind die Gletscher in den letzten Jahrzehnten markant zurückgegangen. «Die Flora ist insgesamt vielfältiger geworden. Aber zugleich steigen die Pflanzen an den Gipfeln der Alpen immer höher.» Die Fichte wächst hier auf 2250 Metern über Meer. Den derzeitigen Höhenrekord der Pflanzen in den Alpen hält der Gegenblättrige Steinbrech: gefunden am Dom auf 4505 Metern über Meer.

Die Reise wurde unterstützt von Saastal Marketing.

Gut zu wissen

Alpenblumen: Wer sich für die Walliser alpine Flora interessiert, dem sei die Alpenblumen-Promenade zwischen Kreuzboden und Saas-Grund empfohlen. Entlang des Weges stehen Informationstafeln, die Fotos und Erklärungen zu der auf dieser Stufe heimischen Pflanzenwelt enthalten. Dauer: 3 bis 4 Stunden.

Beste Zeit: Ideal, um auf eigene Faust die Blütenpracht zu erkunden, sind die Monate Juni bis September. Hilfreich ist dabei die kleine Broschüre «Die Wege der Pflanzenfreunde». Sie listet 10 unterschiedlich lange und schwierige Wege auf, die von den damaligen Botanik-Touristen oft begangen wurden. Oder: http://herbarium-saastal.ch/pflanzenwege/.

Literatur: Margrit Wyder: Von Alpenblumen und Menschen. Botanik-Touristen im Walliser Saastal. Rotten-Verlag, Visp 2018. 49 Franken.

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