Ein Gott, der Recht und Frieden schafft

Die Geschichte des Monotheismus beginnt nicht im Vorderen Orient, sondern im alten Iran. Bei Mitra, dem Gott des Vertrages.

Harald Strohm
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Ein fast republikanischer Gott? Mitra haucht den von Menschen ausgehandelten Verträgen heilige Ehrfurcht ein. (Bild: Harald Strohm)

Ein fast republikanischer Gott? Mitra haucht den von Menschen ausgehandelten Verträgen heilige Ehrfurcht ein. (Bild: Harald Strohm)

Im fachwissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs steht der Monotheismus des altiranischen Propheten Zarathustra noch immer im Schatten der ältesten monotheistischen Bewegungen des Vorderen Orients: der des altägyptischen Pharaos Echnaton im vierzehnten vorchristlichen Jahrhundert und der «Jahwe-allein-Bewegung» Israels ab dem achten Jahrhundert. Einer der Gründe dafür ist, dass Zarathustra lange ins sechste Jahrhundert datiert wurde. Neuere Forschungen setzen ihn aber auf etwa 1000 v. Chr. oder sogar noch früher an.

Der Zarathustrismus war für mehr als 1500 Jahre die prägende Religion Irans. Dass er neben den östlichen insbesondere auch die westlichen Nachbarkulturen beeinflusste, ist für Griechenland gut bezeugt und für Israel zumindest wahrscheinlich. Auch der Islam weist Züge auf, die sich schwerlich auf die historisch unsichere Figur des Abraham, ohne Mühe aber auf den zu Mohammeds Zeit noch sehr virulenten Zarathustrismus zurückführen lassen. Dass Mohammed schon in seiner mekkanischen Zeit zu einem Feldzug gegen die Supermacht Iran aufrief, ergibt eigentlich nur Sinn, wenn er dort auf ideologische Verbündete zählte.

Die Gathas, auf Zarathustra selbst zurückgehende Kultlieder, geben uns intime Einblicke in die Lebensverhältnisse des Propheten, vor allem aber auch in die Vorgeschichte seiner Offenbarungen. Sie waren in einem Milieu von sektiererischen Priesterschaften entstanden, die damals schon seit Jahrhunderten nicht nur eine Umgestaltung des altansässigen Polytheismus in eine zentralistische und tendenziell monotheistische Religion betrieben, sondern auch einen subversiven politischen Umsturz planten. Die moderne Linguistik, die Archäologie und jüngst auch die Genanalyse erlauben es, diese Vorgeschichte zunehmend genauer nachzuzeichnen.

Eine Idee mit Folgen

Wie Europa, so wurden auch Iran und das westliche Indien in den Jahrhunderten um 2500 v. Chr. von Volksstämmen aus den Steppengebieten nördlich des Schwarzen und des Kaspischen Meers militärisch überrannt. Diese Indoeuropäer, in Europa als Schnurkeramiker identifiziert, importierten dabei eine Reihe kultureller Neuerungen: neben ihrer Sprache vor allem das abgerichtete Pferd sowie das (einzeln gelagerte) Rad.

Noch folgenreicher aber scheint eine ihrer «Ideen» gewesen zu sein. Sie ermöglichte es, untereinander, aber auch unter der friedlosen, oft von Kriegen zermürbten ansässigen Bevölkerung für mehrere Jahrhunderte eine Art prähistorischen Frieden zu stiften. Für die westlichen Indoeuropäer ist diese Friedensepoche archäologisch zuverlässig dokumentiert, und es scheint sich im Osten ganz ähnlich verhalten zu haben. Hier verfügen wir aber zudem über archaische Texte, die uns ideengeschichtliche Hintergründe erschliessen. Danach waren die militärische Dominanz und das damit gesicherte Gewaltmonopol der Indoeuropäer nur der eine Baustein dieser Pax praehistorica. Der andere scheint die Vor- oder Uridee zu einem republikanischen Staat gewesen zu sein. Dies legt die Rekonstruktion der langsamen, sich über Jahrhunderte erstreckenden «Geburt» eines eigentümlichen Gottes nahe. Sein Name: Mitra, wörtlich «Gott Vertrag».

Mitra entstand, wie viele Götter, aus einem Begriff, und zwar aus dem Abstraktum mi-tra. Die Wurzel mi- bedeutete «binden, verbinden», die Endung -tra, -tro, -tru «Instrument zu». So wie das lateinische ara-trum «Instrument des Pflügens, Pflug» und so wie das griechische thea-tron «Instrument des Schauspiels» bedeutete, so mi-tra «Instrument des Verbindens», mithin «Vertrag». Der Sprachforscher Paul Thieme nun konnte anhand der ältesten indoiranischen Textschichten zeigen, dass dieses mi-tra zunächst einfach nur als unpersönliches Neutrum existierte. Dieses aber wurde dann in einem ersten Schritt zu einem Maskulinum, also zu einem «Mann», und wurde in einem zweiten zu einem regelrechten Gott personifiziert.

Friede ist, wo Recht herrscht

Das klingt fremdartiger, als es ist. Denn auch Schiller personifizierte in seiner berühmten, von Beethoven vertonten Ode «die» Freude zu einer «Himmlischen» und «Tochter aus Elysium». Analog personifizierte ein Rousseau prompt auch «den» Vertrag zur «sainteté du contract». Und auch die Feminina «La» République und «La» Liberté wurden bei der Konstitution des aufgeklärten Staats personifiziert, ja hundertfach als barbusige Heldinnen in Bronze gegossen.

Die blosse Personifikation des Vertrags wird nach Thiemes Datierung bereits in gemeinindoeuropäischer Zeit erfolgt sein. Zum Gott entwickelte sich Mitra aber erst im Osten; irgendwann um die Wende zum dritten Jahrtausend. Wie von Schöpfungsgöttern weltweit hiess es nun auch von ihm, er habe einst Himmel und Erde auseinandergestemmt und den frei gewordenen Zwischenraum mit Pflanzen, allerlei Getier und Menschen besiedelt. Und auch Mitras Schöpfung galt als geglückt und gelungen: Man sah, dass sie gut war . . .

Einzigartig bei Mitra war freilich, dass das Gelungene seiner Schöpfung massgeblich seiner Leitkompetenz zugerechnet wurde, dem Vertrag. Friedliches und freies Zusammenleben, so die Botschaft, kann in komplexeren Kulturen nur gelingen, wenn Recht herrscht und wenn dieses Recht überdies nicht einfach von oben verhängt, sondern unter Beteiligung aller durch Absprechen und Abstimmen erst ermittelt und dann für alle gleichermassen festgelegt wird. Mitras Kompetenz war also gerade nicht, wie bei anderen frühen Staatsgöttern, Recht zu verordnen, sondern «nur»: den von Menschen ausgehandelten Verträgen gleichsam heilige Ehrfurcht einzuhauchen.

Alles geht auf einen Gott zurück

Gewiss, ein moderner republikanischer Staat war damit noch nicht zu machen; Gewaltenteilung und unabhängige Justiz lagen noch in weiter Ferne. Ein bis heute tragender Pfeiler war aber doch gesetzt, und entsprechend stand Mitra eine einzigartige Karriere bevor. Im Volk ob seiner vermittelnden Freundlichkeit (bis heute!) geliebt, wurde er bald zum staatstragenden Gott Irans und mehrerer seiner Nachbarn. Allein schon die lange Reihe von Königen, die als Mithradates, «von Mithra Eingesetzte», galten, belegt es. – Allerdings öffnete sich jetzt auch eine neue Nische. In sie traten die besagten sektiererischen Priesterschaften:

Nach der mitrischen Konzeption war alles Recht Menschenwerk und als solches fehlbar; gerade darin lag und liegt ja der Keim zu Selbstkritik und republikanischer Toleranz. Angesichts der in jeder Kultur unabdingbar auftretenden Formen der Ungerechtigkeit und Ungleichheit konnte es aber nicht ausbleiben, dass sich jetzt Fraktionen organisierten, die eine gerechtere und alle völlig gleichstellende Form des Rechts forderten: ein höheres, unfehlbares, göttliches Recht!

Und man sieht sogleich auch das Weitere: Ein göttliches Recht solcher Art dürfe nicht dem Gezänk des alten Götterpluralismus überlassen bleiben. Es könne einzig auf einen bisher verborgenen, insofern transzendenten Gott zurückgehen. Zu ihm aber hätten nur einzelne Privilegierte Zugang: Auserwählte, die Stimmen aus dem Jenseits hörten. Nachdem zu ihnen herab- und herübergesandt, hätte dies höhere und gegen Einsprüche immune Wissen dann aber in die abgeschottete Verwaltung einer geistlichen Elite überzugehen.

Umwertung aller Werte?

Sie, und sie allein, könne die Staatsmacht wahrhaft legitimieren, ihr müsse deshalb in allen politischen Fragen das letzte Wort zustehen. Deshalb aber müsse das bisher mitrisch konzipierte Königtum ersetzt werden durch ein Königtum von Gnaden jenes neuen Gottes – was real aber natürlich immer nur hiess: von Gnaden dieser geistlichen Elite.

Die Gathas des Zarathustra sind vom Sinnen auf einen theologisch-politischen Umsturz dieses Typs getragen. Endgültig eintreten, so der Prophet, werde dieser Umsturz zwar erst am Ende der Tage: dann, wenn «die beiden gegnerischen Heere» hier des Guten, dort des Bösen aufeinanderstiessen und wenn die vom Bösen durchwucherte Schöpfung mit Gottes Hilfe endlich als Ganzes niedergebrannt und in eine Welt ewigen Glücks verwandelt würde. Bis dorthin aber gelte es immerhin, die Ungläubigen und «Lügenhaften ringsum» zu enteignen sowie mit Terror und Exklusion gegen sie vorzugehen. Im Wortlaut: «Lass keinen (Anhänger) des Lügners euren Lehren lauschen [. . .] belehrt diese (Lügner) mit (eurer) Waffe . . .»

In Anlehnung an Nietzsche qualifizierte der grosse Altiranist Helmut Humbach das Projekt des politischen Zarathustrismus einmal als «Umwertung aller Werte». Doch so revolutionär und radikal es sich in dieser ältesten uns greifbaren Ausgestaltung auch ausnimmt: Zarathustra war nicht der Erste, der es ausrief. Zu ersehen ist dies allein schon daran, dass sein «neuer» Gott, Ahura Mazda, «Herr Weisheit», genauer besehen ein Altbekannter war.

Rund 500 Jahre früher begegnet er nämlich auch schon in den ältesten Kultliedern Indiens. Auch da war er schon der Gegenspieler Mitras, und auch da schon galten er und seine Priesterschaften als hehr moralisierend und auf Monokratie erpicht – zugleich aber als weltverachtend und suchtgefährdet, als heimtückisch, ungerecht und zu Gewalt, ja Mord bereit. Der vorgeblich so lichtgleissende Gott und seine weiss bekuttete Priesterschaft hatten sich also schon damals mit finsteren Farben ins kulturelle Gedächtnis Indiens eingeschrieben. Möglich ist dies nur, wenn man noch einmal einige Jahrhunderte vorher, also bereits im frühen zweiten Jahrtausend, schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte.

Harald Strohm ist Philosoph und Religionspsychologe und lebt in Lindau. 2015 ist im Wilhelm-Fink-Verlag sein Buch «Die Geburt des Monotheismus im alten Iran» erschienen.