Für die SVP dient das Völkerrecht fremden Mächten als Instrument zur Machtausübung. Als solches schränke es die Souveränität der Schweiz ein. Dabei ist es gerade umgekehrt.
Wer der SVP und damit den Initianten der Selbstbestimmungsinitiative zuhört, dem wird schnell klar: Völkerrecht bedeutet für sie «Recht des Stärkeren». Dieses, so insinuieren sie, schränke die Schweiz in ihrer Souveränität ein und bewirke eine Erosion der Eigenständigkeit. Die direktdemokratische Schweiz müsse zunehmend «fremdes Recht» übernehmen, ohne sich dagegen wehren zu können, gar von «Volksentmachtung» ist die Rede. Das Völkerrecht wird in diesem Kontext als Machtinstrument verstanden.
Die SVP sieht das Heil deshalb in der Selbstbestimmungsinitiative. Mit ihr will sie die Verfassung als oberste Rechtsquelle festsetzen und so die Ordnung wiederherstellen. Unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts soll die Verfassung im Konfliktfall vorgehen. Widersprechen völkerrechtliche Verträge der Verfassung, müsste die Schweiz sie neu verhandeln, «nötigenfalls» gar kündigen. Schliesslich sollen für Behörden und Gerichte nur noch diejenigen Verträge massgebend sein, die im Rahmen ihrer Genehmigung dem Referendum unterstanden. Recht soll also gestärkt werden – und zwar das eigene, um die Interessen der Schweiz zu wahren.
Nun ist Völkerrecht aber weder «fremdes Recht» noch «Recht des Stärkeren», im Gegenteil. Jeder Staat entscheidet frei, ob er einen völkerrechtlichen Vertrag eingehen möchte oder nicht. Das ist Teil seiner Souveränität. Enthält ein solcher Vertrag wichtige Bestimmungen, untersteht er hierzulande dem Referendum und wird so demokratisch legitimiert. Gewonnen ist damit vor allem Rechtssicherheit – das Wissen darum, dass ein bestimmter Sachverhalt rechtlich geregelt ist, aber vor allem das Vertrauen in den Grundsatz «pacta sunt servanda», der besagt, dass sich alle Beteiligten an den Vertrag halten müssen.
Der langjährige deutsche Aussenminister und FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher hat diese Erkenntnis mit einem Bonmot einst schön auf den Punkt gebracht. Es lautet: «Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärkung des Rechts schützt die Interessen aller Staaten am besten.» Bloss scheinen die Initianten ihn falsch verstanden zu haben. Das Völkerrecht ist im Interesse aller Staaten und stärkt damit das Recht. Und es schützt – gerade vor dem «Recht des Stärkeren», dessen sich Grossmächte mittels wirtschaftlicher Druckausübung oder militärischer Drohungen mitunter gern bedienen. Welche Wucht das «Recht des Stärkeren» entwickeln kann, zeigt der gegenwärtige Handelskrieg zwischen den USA und China.
Die Schweiz ist ein kleines Land. Sie hat ein erhöhtes Interesse daran, dass sich die internationalen Beziehungen an der Herrschaft des Rechts und nicht an der Herrschaft der Macht orientieren. Man kann nun einwenden, wirtschaftlich gesehen sei die Schweiz kein Kleinstaat, sondern eine Mittelmacht. Doch dieser Einwand stützt nur das Argument: Je grösser die wirtschaftliche Vernetzung, desto wichtiger werden internationale Regeln. Die Schweiz ist an rund 4000 völkerrechtliche Verträge gebunden, die meisten davon betreffen die Wirtschaft. Auf verlässliche Beziehungen mit dem Ausland sind wir also besonders angewiesen.
Es wäre fatal, wenn wir nun in der Verfassung verankern würden, wir seien künftig bereit, einmal abgeschlossene Verträge zu brechen, Völkerrecht zu missachten und die Menschenrechte geringzuschätzen. Genau dies aber würden wir bei einer Annahme der Selbstbestimmungsinitiative tun. Schliesslich will die Initiative nicht nur die Verfassung als oberste Rechtsquelle festschreiben, sie will auch einen Kündigungsmechanismus einführen und damit Verlässlichkeit preisgeben. Wer die Selbstbestimmungsinitiative gutheisst, stärkt nicht das Recht, sondern leistet vielmehr dem Recht des Stärkeren Vorschub.