Wie Mathematik die Weinwelt aufmischte und warum das für Investoren wichtig ist

Wenn weltbekannte Weinexperten gegen Mathematik zu Felde ziehen, geht es um Leute mit grossen Egos. Aber auch um ineffiziente Märkte und die Zuverlässigkeit von Prognosen.

Patrick Herger
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Die Preise für junge Bordeaux-Weine sind häufig zu hoch. Bei älteren Jahrgängen entspricht dagegen der Preis meistens der Qualität. (Bild: Regis Duvignau / Reuters)

Die Preise für junge Bordeaux-Weine sind häufig zu hoch. Bei älteren Jahrgängen entspricht dagegen der Preis meistens der Qualität. (Bild: Regis Duvignau / Reuters)

Orley Ashenfelter machte sich die führenden Weinexperten zum Feind. Insbesondere mit der Weinkoryphäe Robert Parker geriet der Ökonom und Universitätsprofessor in einen heftigen Streit. Der Grund: Ashenfelter konnte die Qualität eines Bordeaux-Jahrganges früher und genauer voraussagen als Parker. Aber anders als traditionelle Weinexperten bildet Ashenfelter sein Urteil nicht, indem er einen kleinen Schluck Wein in den Mund nimmt und seine Sinne darüber befinden lässt. Seine Prognosen basieren auf statistischen Modellen.

Um die Kontroverse zwischen Ashenfelter und den Weinexperten nachzuvollziehen, ist es nützlich, sich zunächst einige grundlegende Weinfakten zu vergegenwärtigen. Junge Bordeaux-Weine schmecken vielen Weintrinkern aufgrund der Adstringenz nur mässig. Erst mit zunehmender Reife verliert der Wein die Adstringenz und entfaltet seine volle Qualität.

Hohe Unsicherheit bei jungen Weinen

Infolgedessen gibt es einen zweigeteilten Markt: einen für jüngere und einen für ältere Bordeaux-Jahrgänge. Orley Ashenfelter hat die Märkte für junge Bordeaux-Weine unter die Lupe genommen und festgestellt, dass Käufer für diese jungen Weine häufig zu hohe Preise bezahlen. Bei älteren Weinen entsprechen die Preise dagegen normalerweise ihrer Qualität.

Der Grund: Bei jungen Weinen ist die Entwicklung eines Jahrgangs, wenn sie per Geschmackstest prognostiziert wird, mit einer hohen Unsicherheit behaftet. Unter diesen Umständen tendieren sowohl Weinhändler als auch Weinkritiker dazu, die Qualität eines jungen Weines zu hoch einzuschätzen und so die Preise von den gerechtfertigten Werten wegzutreiben.

Insbesondere in Jahren mit einer geringen Weinernte verlangen die Produzenten höhere Preise, ganz unabhängig von der Qualität eines Weines. Aus ökonomischer Sicht ist das vernünftig, denn so erleiden sie trotz der geringeren Absatzmenge keinen Einkommenseinbruch. Weinkritiker müssten diese Praxis allerdings erkennen. Das tun sie aber offenbar nicht, sie schätzen systematisch die Qualität aus Jahren mit einer geringen Ernte zu hoch ein. Aber warum? Und warum sind die Käufer bereit, diese zu hohen Preise zu bezahlen?

Eine wahrscheinliche Erklärung: Kritiker und Käufer folgen unbewusst der Vorstellung, dass etwas Seltenes dazu tendiert, kostbar zu sein. Beide Gruppen zeigen eine beschränkte Rationalität, weil sie Weinqualität und Erntemenge negativ proportional zueinander in Verbindung setzen, obwohl diese beiden Faktoren nicht in dieser Weise korrelieren.

Eine Formel für die Weinqualität

Zum einen haben Daten Orley Ashenfelter gezeigt, dass die Preise für junge Weine oft zu hoch sind. Zum anderen konnte er aber auch eine Formel liefern, die bereits direkt nach der Ernte die Qualität eines Weines sehr genau prognostiziert. Diese Formel beruht auf statistischen Daten und drückt mathematisch etwa Folgendes aus (nur sehr viel genauer): je mehr Regen im Winter und je heisser und regenärmer der Sommer, desto besser die Weinqualität.

Aber als Ashenfelter seine Formel der Weinwelt präsentierte, passierte etwas Seltsames: Obwohl sie den bisherigen, auf Degustation beruhenden Prognosen überlegen war, lehnten Weinexperten und Produzenten sie vehement ab. Robert Parker beschimpfte Ashenfelter indirekt als «Neandertaler», und das britische Fachmagazin «Wine» schrieb zur Verwendung statistischer Methoden für die Weinprognose: «Die offensichtliche Dummheit dieser Formel ruft Verachtung hervor.»

Nun ist die multiple lineare Regression, die Ashenfelter angewandt hatte, ein bewährtes statistisches Verfahren, das in vielen Bereichen treffliche Prognosen ermöglicht. Warum wehrte sich die Weinwelt so vehement gegen bessere Informationen?

Zuerst ignorieren, dann diffamieren

Es ging um finanzielle Interessen, aber auch um die Angst vor einem Macht- und Bedeutungsverlust und um Standesdünkel. Wenn Weinkunden plötzlich ein objektives Mass für die Weinqualität in die Hand bekommen, können die Produzenten nicht mehr so leicht ungerechtfertigt hohe Preise verlangen.

Und wenn eine simple Formel die Weinqualität besser einschätzen kann als Weinkritiker, sinkt die Nachfrage nach deren Dienstleistungen. Ausserdem verlieren sie die alleinige Deutungshoheit bezüglich der Weinqualität.

Diesen Bedeutungsverlust wollten insbesondere die Top-Weinexperten nicht hinnehmen. Deswegen haben sie die Möglichkeit für bessere Prognosen aufgrund statistischer Daten zuerst ignoriert, dann diffamiert. Trotzdem konnte selbst Robert Parker nicht verhindern, dass die Märkte für junge Weine dank Ashenfelters Studien mittlerweile etwas effizienter funktionieren.

Finanzmärkte sind nicht völlig effizient

Produkte, deren Qualität nur schwer zu bestimmen ist, undurchsichtige Preisgestaltung sowie die Diffamierung von anderen Ansätzen – das sind Dinge, die Investoren bekannt vorkommen sollten. Nun werden einige Kritiker einwenden, die Verhältnisse auf Weinmärkten seien ganz anders als diejenigen auf Finanzmärkten. Ähnlich verzerrte Prognosen und Urteile wie auf Weinmärkten seien an den Börsen nicht möglich. Sie täuschen sich.

Eine der erstaunlichsten Anomalien der Finanzmärkte ist die Tatsache, dass sie Frauen systematisch diskriminieren. So hat der bekannte Mainstream-Ökonom Justin Wolfers nachgewiesen, dass männliche Analytiker niedrigere Gewinnprognosen und schlechtere Aktienempfehlungen für Unternehmen abgeben, die von weiblichen CEO geleitet werden. Weibliche Analytiker können Unternehmen mit weiblichem CEO dagegen besser, weil vorurteilsfreier, einschätzen.

Aber nicht nur die Analytiker zeigen eine Urteilsverzerrung zuungunsten weiblicher CEO und der von ihnen geleiteten Firmen; die Finanzmärkte selbst diskriminieren Frauen (wobei «Finanzmärkte» im Grundsatz äquivalent ist zu «weiss und männlich»). Wenn Finanzmärkten unvoreingenommene Einschätzungen zur Verfügung stünden, würden sie die zu tiefen Prognosen der Analytiker als unzutreffend erkennen. Die Folge wäre, dass die Märkte nur schwach auf die positiven Gewinnüberraschungen für Unternehmen mit weiblichem CEO reagierten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Das bedeutet: Obwohl die Gratifikation für korrekte Prognosen an den Börsen ausserordentlich hoch ist, schaffen es weder Analytiker noch Finanzmärkte, ihre Vorurteile auszuschalten. Daher sind die Preise für Firmen mit weiblichem CEO in der Regel zu tief. Diese Art von Urteilsverzerrung ist ausserdem keineswegs auf Frauen beschränkt, sie ist an den Börsen geradezu üblich. Nur ein anderes Beispiel: Auch CEO mit schwarzer Hautfarbe werden diskriminiert.

Was bedeutet das für Privatinvestoren?

Menschen sind offenbar, das zeigen die Wein- und Finanzmärkte, nicht gut darin, unvoreingenommen und emotionslos Urteile zu fällen. Investoren sind von diesem Umstand in besonderer Weise betroffen. Denn Rationalitätsbeschränkungen können für sie ausserordentlich teuer werden. Deswegen ist es für Privatanleger sinnvoll, aus dem Gesagten drei Folgerungen zu ziehen.

Erstens sollten Investoren grundsätzlich davon ausgehen, dass ihre Entscheidungen von Vorurteilen beeinflusst sind. Niemand ist gegen implizite Vorurteile gefeit, also solche, deren man sich nicht bewusst ist. Der Online-Test der Universität Harvard etwa, der solche versteckten Vorurteile misst, hat schon für viele überraschte Gesichter gesorgt.

Zweitens sollten Investoren nach Möglichkeiten suchen, die durch eigene Emotionen und Vorurteile verursachten Investment-Fehler zu verringern. Eine Möglichkeit sind regelbasierte Investment-Ansätze. Diese haben gewichtige Vorteile gegenüber Strategien, die etwa auf Prognosen oder auf der freien Einschätzung von Fundamentalfaktoren basieren. (Allerdings ist keine Strategie für jedermann geeignet, und jeder Ansatz hat auch spezifische Nachteile.)

Drittens haben viele Autoritäten ein Selbstbild, wonach sie vorurteilsfrei und nur aufgrund von Fakten urteilen. Aber Objektivität ist eine gefährliche Fiktion. Auch diese Autoritäten sind anfällig für Urteile, die auf Voreingenommenheit beruhen. Das sollten Leser im Hinterkopf haben. Insbesondere, wenn sie nächstens auf eine Expertenempfehlung hin ein Finanzprodukt kaufen wollen ­– oder einen Wein.