Kommentar

Der blinde Aktionismus der SVP schadet nur

Die fremden Richter der EU sind ein Ärgernis, und doch schiesst die Selbstbestimmungsinitiative übers Ziel hinaus. Die SVP unterschätzt die Kraft der direkten Demokratie. Die Schweiz darf sich nicht für die Versuche von Trump oder Putin einspannen lassen, das Völkerrecht auszuhöhlen.

Eric Gujer
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Berechtigte Zielscheibe: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg setzt einen generellen Primat des EU-Rechts vor der nationalen Rechtsprechung durch. (Bild: François Lenoir / Reuters)

Berechtigte Zielscheibe: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg setzt einen generellen Primat des EU-Rechts vor der nationalen Rechtsprechung durch. (Bild: François Lenoir / Reuters)

Die Selbstbestimmungsinitiative hat zwei gewichtige Fragen zum Gegenstand; diese werden aber mit untauglichen Mitteln beantwortet. Es geht um die Legitimität politischer Prozesse und die Souveränität staatlichen Handelns: die zentralen Probleme des Verfassungsrechts also. Werden politische Entscheidungen wirklich von den Bürgern oder ihren gewählten Vertretern getroffen, können sie mithin beanspruchen, den Volkswillen zu repräsentieren? Das ist heute immer weniger der Fall.

Nationale wie internationale Gerichte schaffen ein «Richterrecht», das nie durch ein Parlament oder eine Abstimmung gutgeheissen wurde, das aber notwendig ist, um eine komplexe Rechtswirklichkeit abzubilden. Internationale Körperschaften wie die EU erlassen Gesetze, die selbst Staaten binden, die wie die Schweiz diesen Institutionen gar nicht angehören. Die demokratische Legitimität hat in den letzten Jahren ohne Zweifel gelitten – und dies nicht nur in der Schweiz.

Missionarischer Eifer

Die SVP möchte dem Einhalt gebieten, indem sie den Vorrang des Landesrechts vor dem Völkerrecht in der Verfassung verankern will. Damit verhindert sie zum einen nicht, dass nationale Gerichte weiter Richterrecht schaffen. Vor allem aber übertreibt die Partei das Problem. Man muss die Fälle mit der Lupe suchen, in denen etwa die Europäische Menschenrechtskonvention unzumutbar in den Alltag eingreift. Meist bemüht sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte peinlichst, nationale Rechtstraditionen zu achten. So hiess er das französische Burkaverbot gut; eine Entscheidung übrigens, welche die SVP nie kritisierte. Vor allem kann man keine politische Linie erkennen, sieht man davon ab, dass die Strassburger Richter zunehmend soziale Ansprüche unter die Menschenrechte subsumieren. Hierin aber folgen sie nur dem Zeitgeist.

Anders verhält es sich mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Er verfolgt tatsächlich voller missionarischem Eifer eine Agenda, wie der frühere deutsche Verfassungsrichter Dieter Grimm schreibt. Der Luxemburger Gerichtshof arbeitet seit den sechziger Jahren mit durchschlagendem Erfolg daran, die nationalen Spielräume zu verengen und einen generellen Primat des EU-Rechts vor der nationalen Rechtsprechung durchzusetzen. Grimm sieht in dem Luxemburger Gericht und der ausufernden Interpretation von dessen Mandat einen Hauptgrund, warum die EU an Legitimität und deren Mitgliedstaaten an Souveränität verlieren.

Wenn es eine berechtigte Zielscheibe der Kritik gibt, dann ist es der EuGH, diese «Bête noire» aller Verfechter des Nationalstaates. In diesem verwirklicht sich noch immer die Demokratie, da keine gesamteuropäische Öffentlichkeit existiert und das EU-Parlament weit davon entfernt ist, von den Wählern als ihr Parlament akzeptiert zu werden.

Das Volk nicht unterschätzen

Ferner vertiefte der Vertrag von Maastricht die europäische Integration derart, dass eine Gegenreaktion nicht ausbleiben konnte. Europakritische Parteien finden überall Zulauf, sie stellen in einigen Ländern die Regierung – Wahlen wirken. Die Selbstbestimmungsinitiative liest sich wie ein Kommentar zu dieser Debatte. Aber warum sollte sich die Schweiz daran beteiligen? Sie gehört der EU nicht an und ist trotz den bilateralen Verträgen viel weniger in deren üppig wuchernde Vorschriften eingebunden. Im Gegenteil, die lebendige direkte Demokratie der Schweiz ist ein effizientes Mittel, diesen Tendenzen zu begegnen, effizienter jedenfalls als eine papierne Verfassungsklausel.

Paragrafen mit Paragrafen zu bekämpfen, funktioniert in der Politik nur bedingt. Abstimmungen und Wahlen sind allemal das wirksamere Korrektiv. Die SVP sollte das Volk nicht geringschätzen und stattdessen auf dessen Willen vertrauen, die Erosion seiner Rechte zu verhindern. Die Volkspartei muss die direkte Demokratie nicht «schützen», wie sie reichlich vollmundig für sich in Anspruch nimmt, sondern ihr nur ihren Lauf lassen.

«Die SVP wirkt wie ein Eigenheimbesitzer, der sein Haus abreisst, nur weil ihm die Einrichtung eines Zimmers nicht gefällt.»

Um dem EuGH Paroli zu bieten, existierte zudem ein bewährtes Mittel: der Beitritt zum EWR, um den Efta-Gerichtshof als zentrale Instanz bei Rechtsstreitigkeiten mit der EU anrufen zu können. Der Gerichtshof hat bewiesen, dass er eigenständig urteilt und den Konflikt mit den EU-Richtern nicht scheut. Ihre ideologische Europapolitik verbietet es der SVP jedoch, pragmatische Lösungen zu suchen. Stattdessen verliert sie sich in juristischen Spitzfindigkeiten. Sinnvoller wäre es, die Verhandlungen zum Rahmenabkommen als Chance zu begreifen, um den Umgang mit Streitfällen zu regeln.

Die SVP wirkt wie ein Eigenheimbesitzer, der sein Haus abreisst, nur weil ihm die Einrichtung eines Zimmers nicht gefällt. Denn abgesehen vom missionarischen Eifer mancher Eurokraten verläuft der Verkehr mit den «fremden Richtern» ziemlich unspektakulär. Weil die SVP dies weiss, versucht sie die Europäische Menschenrechtskonvention zum Gesslerhut zu stilisieren, den jeder Schweizer und jede Schweizerin zu grüssen gezwungen ist. Welch rechtspolitischer Aktionismus, obwohl es doch sonst die SVP ist, welche die Bürger vor aktionistischen und profilierungssüchtigen Politikern warnt.

Die Gegner sollten nicht denselben Fehler begehen und für den Fall einer Annahme der Initiative das Ende der Menschenrechte und aller internationalen Verträge an die Wand malen. Da in der Jurisprudenz Interpretation (fast) alles ist, kann sich das Bundesgericht bei der Auslegung eines Verfassungsartikels einen beträchtlichen Ermessensspielraum erarbeiten. Ausserdem genügt es, wenn eine Partei ständig ins grell-bunte Kostüm des Untergangspropheten schlüpft.

In schlechter Gesellschaft

Dass die Nationalstaaten weltweit an Souveränität verlieren, liegt nicht an sinistren Mächten, sondern ist schlicht die Folge der Globalisierung. Überstaatliche Finanz-, Waren- und Dienstleistungsmärkte erfordern internationale Spielregeln und Gremien wie die Welthandelsorganisation. Davon profitieren vor allem kleinere Staaten, die darauf vertrauen müssen, dass Recht gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Nur Grossmächte können ihre Interessen ohne einengende Normen leichter durchsetzen. Daher will Präsident Trump den Einfluss multinationaler Organisationen und Abkommen zurückdrängen. Wer glaubt, die Schweiz könne sich im Streitfall mit den USA besser ohne den Schutz des Völkerrechts behaupten, stimme für die Selbstbestimmungsinitiative; die anderen sollten davon Abstand nehmen.

Wenigstens auf dem Papier genossen die Staaten früher mehr Souveränität als heute, weil die internationale Regelungsdichte geringer war. Doch war dies eben mehr Theorie als Praxis, wie Belgien und die Niederlande in den Weltkriegen erfahren mussten. Ihre Neutralität bewahrte sie nicht vor Okkupation. Nach 1945 gründeten die europäischen Staaten Organisationen wie den Europarat und die OSZE und unterschrieben zahllose Abkommen, um die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu garantieren.

Eine Frage der Selbstachtung

Gerade die grossen Länder verzichteten auf Souveränität, damit die kleineren nicht länger auf ihr Glück vertrauen mussten wie die Schweiz, die in beiden Weltkriegen ungeschoren davonkam. Die SVP blickt jedoch durch die engen Sehschlitze eines Reduit-Bunkers und vermag die Lehren der jüngeren Vergangenheit nicht wahrzunehmen. Lieber schiesst sie mit grosskalibriger Festungsartillerie auf das Völkerrecht, dem unser Land so viel zu verdanken hat. Diese Geschichtsblindheit erstaunt umso mehr, als die Partei sonst jede zweitklassige Bataille, die vor 500 Jahren stattfand, für geschichtspolitische Zwecke instrumentalisiert.

Heute attackiert Russland die völkerrechtliche Ordnung, indem es die Krim annektierte und seither einen unerklärten Krieg gegen die Ukraine führt. Präsident Putin will sich so weit als möglich der völkerrechtlichen Fesseln entledigen und setzt deswegen gezielt auf verdeckte Mittel, von nicht identifizierbaren Kombattanten bis zu Cyberangriffen, um Unsicherheit zu schüren und das Vertrauen in die Kraft des Rechts zu unterminieren. Natürlich hängt vom Ausgang einer Abstimmung in der Schweiz nicht die Zukunft Europas ab. Aber es ist auch eine Frage der Selbstachtung, wo man in diesem Grosskonflikt stehen möchte: auf der Seite der Verteidiger des Völkerrechts und der Friedensordnung oder auf derjenigen ihrer Gegner.

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