Anfang der dreissiger Jahre wurde dieses Gebäude des Architekten Angiolo Mazzoni in Sabaudia als Postamt genutzt. Heute befindet sich darin eine Bibliothek. (Bild: DeAgostini/Getty Images)

Anfang der dreissiger Jahre wurde dieses Gebäude des Architekten Angiolo Mazzoni in Sabaudia als Postamt genutzt. Heute befindet sich darin eine Bibliothek. (Bild: DeAgostini/Getty Images)

Mussolinis Retortenstädte, zum Beispiel Sabaudia

Die Schriftstellerin Sabine Gruber erinnert sich an ihre kindliche Faszination für die faschistische Architektur Italiens.

Sabine Gruber
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Wie monumentale Architektur auf Kinder wirkt, wäre eine eigene Untersuchung wert. Ich war bereits im Alter von vier und dann von zehn Jahren in Rom; beim zweiten Mal besuchte ich mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester das Kolosseum und den danebenstehenden dreitorigen Konstantinsbogen, den Volk und Senat von Rom zum Dank für die gewonnene Schlacht beim Ponte Milvio ihrem Kaiser errichtet hatten.

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Zurück in Bozen sah ich das weisse Siegesdenkmal in der Nähe der Talfer mit anderen Augen. Der kindliche Analogieschluss führte dazu, dass ich in dem ähnlich gebauten faschistischen Denkmal einen aus der römischen Antike stammenden Triumphbogen zu erkennen glaubte. Beeindruckt von den vielen berühmten Palästen und Monumenten in Rom, freute ich mich darüber, «dass wir in Südtirol auch so etwas Schönes haben». Als ich immer öfter Menschen abfällig über das Bozener Denkmal sprechen hörte, war ich irritiert.

Was ich als Volksschulkind als Südtiroler Sehenswürdigkeit ausgemacht hatte, erwies sich als Bozener Schandfleck, als Neuinterpretation eines antiken Triumphalbaus, als wiederverwertete «romanità» zur Betonung faschistischer Grösse. Das 1928 eingeweihte Marmormonument von Marcello Piacentini, Benito Mussolinis mächtigstem Architekten, war im Gegensatz zum antiken Konstantinsbogen ein mit antiker, faschistischer und christlicher Symbolik versehener Provokationsbau, dessen lateinische Inschrift daran erinnern sollte, dass die Faschisten den zurückgebliebenen Bewohnern Südtirols «Sprache, Gesetze und Künste» beigebracht hätten.

Meinem kindlichen architektonischen Geschmack traute ich fortan nicht mehr. Die Enttäuschung hatte vielmehr dazu geführt, dass ich von nun an alles, was kein Satteldach oder rote Jalousien hatte, mit Argusaugen betrachtete. Wo kein Holzbalkon und kein Giebel zu finden war, befürchtete ich weitere heimatliche «Schandflecken», die der Italianisierung der Tiroler Architektur und damit ihrer Einwohner in antiker Verkleidung Vorschub leisten sollten.

Bauerntradition

Im Gymnasium sah ich zum ersten Mal Abbildungen der Architektur von Adolf Loos, hörte von der Formensprache des Bauhausstils, vom Dessauer Modernismus und russischen Konstruktivismus. Die Frage nach der italienischen oder Südtiroler Moderne stellte ich mir nicht mehr, ich zog weg. Der ethnische Kampf – deutschsprachige Südtiroler gegen Italiener – hatte in den siebziger und achtziger Jahren so viele Lebensbereiche vergiftet, dass ich auch die Architektur als ein Gegeneinander von älplerischer Bauerntradition und faschistischen Neubauten begriff. Dass mir viele Häuser im italienischen Stadtteil Bozens gefielen, dass ich den Travertin, diesen porösen Kalkstein aus Tivoli, und den Marmor, egal ob er aus Laas oder Carrara stammte, mochte, behielt ich für mich.

Sabaudia, hier circa 1934, wurde auf ehemaligem Kulturland errichtet. (Bild: PD)

Sabaudia, hier circa 1934, wurde auf ehemaligem Kulturland errichtet. (Bild: PD)

Jahre später las ich einen Artikel in einem deutschen Feuilleton über die faschistische Retortenstadt Sabaudia und schnitt ihn aus; es war zuallererst der Klang des Namens, der mich neugierig gemacht hatte. Sabaudia, das sich etymologisch vom Könighaus Savoia ableitet, ist eine der letzten Stadtgründungen Europas. Die heute zirka 20 000 Einwohner zählende Kleinstadt wurde von August 1933 bis April 1934, in nur dreizehn Monaten, gebaut, nachdem Benito Mussolini die Paludi Pontine, das Sumpfgebiet südöstlich von Rom, hatte trockenlegen lassen.

Glaubt man Plinius, war dieser Landstrich einmal blühendes Kulturland gewesen; das ausgeklügelte Entwässerungssystem war dann durch neue, unkundige Siedler zusammengebrochen. Ausserdem hatten die Römer die Berge im Osten abgeholzt, was zu Bodenerosionen und in der Folge zu Überflutungen der Pontinischen Ebene geführt hatte. Über Jahrhunderte blieb das Gebiet weitestgehend unbewohnbar, die Malaria breitete sich aus.

Diverse Kaiser und Päpste – zum Beispiel Napoleon oder zuletzt Pius IX. – dachten darüber nach, wie man das Land trockenlegen könnte. Selbst Goethe stellte Überlegungen an, sah in der Urbarmachung der Sümpfe «ein grosses und weitläufiges Unternehmen», doch erst ein preussischer Offizier namens Major Fedor Maria von Donat entwickelte einen konkreten Plan. Zum Bau seines Ringkanalprojekts, das vorsah, dass das Wasser aus den Bergen aufgefangen werden sollte, bevor es die Pontinische Ebene erreichte, und zur Konstruktion eines Kanalsystems, welches das Wasser durch ein Pumpsystem aus dem Sumpfgelände ins Meer befördern sollte, kam es nicht, weil man 1914 erst einmal die Entwässerung der Poebene finanzierte.

Ufficio delle Poste in Latina wurde ebenfalls von dem Architekten Angiolo Mazzoni gebaut, fotografiert 1934. (Bild: PD)

Ufficio delle Poste in Latina wurde ebenfalls von dem Architekten Angiolo Mazzoni gebaut, fotografiert 1934. (Bild: PD)

Mussolini schliesslich machte sich das intelligente Konzept des deutschen Offiziers zunutze; zwischen 1927 und 1939 wurden 840 Quadratkilometer Sumpfland trockengelegt und für den Städtebau und die Landwirtschaft zugänglich gemacht. Der Agro Pontino war für den Duce ungefähr das, was die Autobahnen für Hitler waren: ein Prestigeprojekt schlechthin, das ihm Anerkennung brachte – bis heute.

Neben Sabaudia wurden Littoria (heute: Latina), Pontinia, Aprilia und zuletzt Pomezia – alle Mitte bis Ende der dreissiger Jahre – nach städtischen Konzepten neu errichtet. Den Wettbewerb für den Bau von Sabaudia gewannen vier Architekten, Luigi Piccinato, Gino Cancellotti, Eugenio Montuori und Alfredo Scalpelli, alle aus dem Umkreis Marcello Piacentinis, der das Siegesdenkmal in Bozen konzipiert hatte.

Italienische Moderne

Bei meinem ersten Besuch in Sabaudia fühlte ich mich in eines von Giorgio de Chiricos metaphysischen Bildern hineinversetzt. Die geometrischen Formen, die schmucklosen niedrigen Häuser und dekorlosen Fassaden kamen an einem lichtintensiven Mittag – es war ein Julitag 2011 – durch die Schatten noch stärker zum Tragen. Meine Faszination war wegen des historischen Hintergrundwissens deutlich gebremst, aber als ich durch die Stadt streunend vor dem ehemaligen Post- und Telegrafenamt von Angiolo Mazzoni zum Stehen kam, konnte ich meine Begeisterung nicht mehr verhehlen. Ich war überzeugt, dass dies keine faschistische Architektur war, sondern italienische Moderne. Da verwendete einer verschiedene Materialien, verkleidete die Fassade mit kleinen, rechteckigen, hellblauen Fliesen, gestaltete die Fensterrahmen aus rotem Siena-Stein, hatte feine Gitter gegen Fliegen eingebaut und zwischen den Gittern und dem Glas einen breiten Sims für Pflanzen eingeplant. Eine Aussentreppe verführte dazu, von oben auf die Stadt und die umliegenden Grünzonen, die Steineichenbestände und Pinienalleen, zu blicken und die frische Luft einzuatmen, die vom Meer herüberwehte.

Eine zentrale Achse führt durch die faschistische Planstadt Sabaudia zum Rathaus und einem Kirchturm, fotografiert 1935. (Bild: PD)

Eine zentrale Achse führt durch die faschistische Planstadt Sabaudia zum Rathaus und einem Kirchturm, fotografiert 1935. (Bild: PD)

Ich schoss Fotos, blieb nicht lange, denn das Meer rief. Ganz in der Nähe befindet sich der Nationalpark Monte Circeo, benannt nach der griechischen Zauberin Kirke, die hier ihren geliebten Odysseus festgehalten haben soll. In der Nähe ihres Berges hatten sich immer schon wohlhabende Römer, Künstler und Intellektuelle niedergelassen. Die italienischen Schriftsteller Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini teilten sich an der Riviera d’Ulisse ein Doppelhaus in den Dünen. Ich erinnerte mich, Fotos gesehen zu haben, wo die beiden zusammen mit Maria Callas abgebildet sind.

Nun, sieben Jahre später, war ich neuerlich im Latium. Mein erster Ausflug führte mich wieder nach Sabaudia, im Anschluss daran nach Latina, Pontinia und Pomezia.

Le Corbusier, möglicherweise enttäuscht darüber, dass man ihn nicht mit der Konzeption von Pontinia betraut hatte, bezeichnete Sabaudia als zu verträumt und romantisch. Davon konnte ich noch immer nichts erkennen. Die Stadt zeigte sich hell und nüchtern, befreit von all dem historischen Ballast, der andere Städte dunkel oder überfrachtet erscheinen lässt.

Obwohl schon vor fünfzehn Jahren Restaurierungsmassnahmen gesetzt wurden, die vor allem vonseiten der Linken mit dem Argument des Architekturrevsionismus kritisiert worden waren, hatte Sabaudia nichts von einer herausgeputzten Touristenstadt. In den Tabakgeschäften gab es weder Ansichtskarten noch einen Stadtführer, allenfalls Wanderkarten für den nahe gelegenen Nationalpark. Und auch die einschlägigen Websites empfahlen vor allem den Besuch der römischen Villa Domiziano und der mittelalterlichen Torre Paola.

Die Architektur der italienischen Moderne der Mussolini-Zeit schien noch immer kein attraktives Ziel zu sein – oder scheut man im Zeitalter der Political Correctness eine offensive Bewerbung?

«Heroischer Rhythmus»

Aus dem ehemaligen Postamt Angiolo Mazzonis war nun ein «centro di documentazione della città» geworden, in dessen Bibliothek ich mich verkroch und mit Literatur eindeckte.

Der Architekt Angiolo Mazzoni, hier in Rom im Jahr 1934, wurde von dem Futuristen Filippo Tommaso verehrt. (Bild: Ghitta Klein Carell)

Der Architekt Angiolo Mazzoni, hier in Rom im Jahr 1934, wurde von dem Futuristen Filippo Tommaso verehrt. (Bild: Ghitta Klein Carell)

Der Verfasser des «Futuristischen Manifests» Filippo Tommaso Marinetti war auf den Architekten Mazzoni bei der Einweihung Littorias im Dezember 1932 aufmerksam geworden. In der «Gazzetta del Popolo di Torino» verfasste er eine Lobeshymne auf dessen «heroischen Rhythmus», nachdem er das dortige Post- und Telegrafenamt, das nach Plänen Mazzonis realisiert worden war, bewundert hatte. Marinetti begründete Mazzonis Status als futuristischen Architekten, er veröffentlichte zusammen mit ihm und Mino Somenzi 1934 den «Manifesto Futurista dell’Architettura Aerea».

War Mazzoni nun ein Architekt der italienischen Moderne, oder sass ich einem neuerlichen Irrtum auf? Allein die Nähe zum Futuristen, Militaristen und Gewaltverherrlicher Marinetti, dessen Partei in Mussolinis faschistischer Bewegung aufgegangen war, den der Duce zum Kulturminister gemacht hatte – war all dies nicht Anlass für Misstrauen?

Am Beispiel von Mazzonis Werdegang lassen sich die Widersprüche in seiner Architektur am besten erläutern. Er kannte die Arbeiten von Otto Wagner, von Joseph Hoffmann und den Wiener Werkstätten, kannte den tschechischen Kubismus und die ungarische Moderne; sieht man sich seine römischen Bauten an, sind die Anleihen erkennbar. Seine römischen Lehrer waren Giovanni Battista Milani, Gustavo Giovannoni, aber auch und vor allem Marcello Piacentini, in dessen Büro Mazzoni 1920 über ein Jahr lang gearbeitet hatte. Diese faschistische Prägung ist unübersehbar, vor allem wenn man Bauten wie den Bahnhof Bozen oder das Postamt in Palermo betrachtet. Wie verbunden Mazzoni seinem Lehrer gewesen ist, zeigt vermutlich auch der Name seines bei einem Autounfall früh verstorbenen Sohnes Marcello.

1921 erhielt Mazzoni eine Anstellung bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft in Mailand, 1922 in Bologna, wo er sein Diplom an der Akademie der schönen Künste machte; 1924 wurde er in die Generaldirektion der staatlichen Eisenbahngesellschaft nach Rom berufen, zu der auch die staatliche Post- und Telegrafengesellschaft gehörte. Dies erklärt, warum Angiolo Mazzoni fast nur Bahnhöfe und Postgebäude gebaut hat. 1926 wurde er «ispettore di prima classe» und trat der Duce-Partei bei.

Waren die frühen Bauten noch an den Monumentalstil angelehnt, schaffte er in den dreissiger Jahren den Sprung zum Futurismo und Razionalismo und brachte damit die italienische Moderne ins öffentliche Bewusstsein.

Im ehemaligen Postamt von Sabaudia vereinte er neue Technologien mit vorfindlichen, traditionellen Materialien wie Marmor, Ziegel und Fliesen und bezog das Fliegengitter zum Schutz vor der Anophelesmücke als architektonisches Element in den Bau ein. Mazzoni gelang es nicht nur, auf die speziellen geografischen und klimatischen Gegebenheiten zu reagieren, er wurde auch seinem hohen künstlerischen Anspruch gerecht. Für die italienische Moderne ist Mazzonis ehemaliges Post- und Telegrafenamt ein wichtiger Bezugspunkt.

Spuren bleiben nicht verborgen

Und Sabaudia als Ganzes? Wenngleich sich die Stadt harmonisch in die Natur einfügt, kann man die ideologische Herkunft der Architekten nicht vergessen; an den Monumentalstil eines Marcello Piacentini wird man in Sabaudia nicht erinnert, doch bleiben die Spuren des totalitären Regimes nicht verborgen. Die Liktorenbündel auf den Kanaldeckeln sind nie verschwunden. Während man in Südtirol die umstrittenen faschistischen Denkmäler längst mit historisch-kritischen Tafeln versehen hat, ist in Sabaudia der als einfacher Landarbeiter dargestellte Duce weiterhin selbstverständlicher Teil des kirchlichen Fassadenmosaiks, und am Rathausturm wird er als derjenige gepriesen, der Sabaudia zum Leben erweckt hat. Auch aus Dankbarkeit dafür hat der überwiegende Teil der Bevölkerung jahrzehntelang rechts gewählt.

Aber es kommt Bewegung in die Politik: Im Juni 2017 ist nach 22 Jahren rechter Stadtregierung erstmals die von drei Bürgerlisten propagierte Anwältin Giada Gervasi in Sabaudia zur Bürgermeisterin gewählt worden. Und im selben Sommer hat man in Latina den Parco Arnaldo Mussolini – allerdings nicht ohne Protest der Neofaschisten – in Parco Falcone-Borsellino umbenannt. Man wollte dann doch lieber der beiden sizilianischen Mafiaopfer gedenken, als weiterhin an Mussolinis Bruder zu erinnern.

Sabine Gruber, geboren 1963 in Meran, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschien ihr Roman «Daldossi oder Das Leben des Augenblicks», 2016 bei C. H. Beck (2018 bei DTV).