Kommentar

Die Jagdszenen von Chemnitz lassen sich ohne das Erbe der kommunistischen Diktatur nicht erklären

Ostdeutschland steht wieder einmal im Verdacht, ein fremdenfeindlicher Sumpf zu sein. Der ganze ehemalige Ostblock ist von den Verheerungen durch den Kommunismus gezeichnet, die bis heute nicht überwunden sind. Die Sieger der Geschichte im Westen sollten das nicht verurteilen.

Eric Gujer
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Bis heute sehen sich viele Menschen im Osten nicht als Herr ihres Schicksals, sondern als Spielball fremder Mächte. (Bild: Sebastian Kahnert / dpa)

Bis heute sehen sich viele Menschen im Osten nicht als Herr ihres Schicksals, sondern als Spielball fremder Mächte. (Bild: Sebastian Kahnert / dpa)

Der Osten bleibt dem Westen auf ewig ein Rätsel. Westeuropa gruselt sich wegen der «illiberalen Demokratien» in Polen und Ungarn, neuerdings auch wegen der Aufmärsche brauner Horden in Chemnitz. Mittel- und Osteuropa ticken politisch anders, konservativer und gegenüber allem Fremden kritisch, denn der Kommunismus hat die geistige Landschaft umgepflügt. Die unterschiedliche Wahrnehmung in Ost und West wurde schon bei der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 deutlich. Die Westdeutschen hofften, dass damit die Spaltung der Nation beendet sei und endlich der Alltag wieder einkehre. Die Ostdeutschen aber wussten, dass die Wiedervereinigung erst begonnen hatte.

Zu viele Opfer

Die leninistische Diktatur entmündigte den Menschen. Politisch ohnehin, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die Kinder kamen früh in die Krippe, der Studienplatz wurde zugeteilt (oder verwehrt), die Arbeitsstelle ebenfalls, selbst die Ferien waren organisiert. An die Fremdbestimmung gewöhnt, fühlte sich der sozialistische Mensch auch nach dem Kollaps der Sowjetherrschaft als Objekt und nicht als Subjekt der Geschichte.

Wo im Westen die Aufarbeitung und damit die Befreiung von der Historie einsetzte, blieb diese ostwärts eine Geschichte des fremdverschuldeten Leids. Ungarn laboriert bis heute am Trauma von Trianon, an der von den Siegern des Ersten Weltkriegs erzwungenen Zerstückelung des Landes. Die Dresdner kultivieren die Erinnerung an die Zerstörung der Stadt durch «anglo-amerikanische Bomberverbände», und in Polen bestimmt der millionenfache Mord nicht nur an den Juden durch deutsche und russische Besetzer die Aussenpolitik. Der Kommunismus produzierte viele Opfer, tatsächliche und eingebildete.

«Die Erfahrung der Diktatur und ihres Untergangs macht misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen und ausgenutzt worden zu sein, sitzt tief.»

Bis heute sehen sich viele Menschen im Osten nicht als Herr ihres Schicksals, sondern als Spielball fremder Mächte – von Brüssel genauso wie von westdeutschen Politikern und Medien. Die Erfahrung der Diktatur und ihres Untergangs macht misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen und ausgenutzt worden zu sein, sitzt tief. Das ist heute in Ostdeutschland so, das war in Westdeutschland nach 1945 nicht anders. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte hierfür das Schlagwort der «skeptischen Generation». Erst in den neunziger Jahren akzeptierten die Westdeutschen die Bundesrepublik vorbehaltlos und betrachteten sie als «gelobtes Land», wie eine Ausgabe der Zeitschrift «Kursbuch» betitelt war.

Die Ausbildung staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins dauerte in der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert, schneller geht das auch in der ehemaligen DDR nicht. So lange werden die Medien eine «Lügenpresse» bleiben und die Ostdeutschen besonders empfänglich für alle Protestparteien, ob Linkspartei oder AfD, sein. Die Versehrungen der Diktatur vererben sich, sie können auch nach Jahrzehnten aufbrechen. Die Angriffe auf Migranten nach der Tötung eines Deutschen vermutlich durch zwei Flüchtlinge ist auch ein fernes Echo der DDR. Rassismus war dort virulent, wurde aber totgeschwiegen.

Es geht immer um Identität

Die Davongekommenen des Sowjetimperiums haben selbst eine grosse Integrationsleistung erbracht. In Brünn, Krakau oder Magdeburg nahmen 1989 Lebensentwürfe ein abruptes Ende, die Menschen mussten sich neu erfinden. Der Prozess war schmerzhaft, und er wirkte lange nach: Osteuropa litt unter der Finanzkrise 2008 massiv. Was sich die Menschen seit der Wende aufgebaut haben, bedeutet Heimat. Deshalb spielen Identitätsfragen eine solch wichtige Rolle. Heftig fallen die Reaktionen aus, wenn die Bürger ihre Identität bedroht sehen, etwa durch die Einquartierung von Flüchtlingen in bisher homogenen ostdeutschen Gemeinden. Warum sollten anderseits osteuropäische Staaten bereitwillig Flüchtlinge aufnehmen, solange ihre eigenen Bürger keine andere Chance sehen, als im Westen ein besseres Leben zu suchen?

Doch nicht alles ist posttraumatische Disposition. Die Ostdeutschen erleben regelmässig, wie sie von ihren westlichen Landsleuten abgekanzelt werden. Wegen der Ausschreitungen in Chemnitz gilt Sachsen wieder einmal als «Problemzone» der Nation. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln oder den brutalen Ausschreitungen am G-7-Gipfel las man nirgends, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg seien eine Schande für Deutschland. Sachsen ist halt ein Sumpf des Extremismus.

Das Klischee lässt sich beliebig abrufen, so als die «Bild»-Zeitung im Jahr 2000 behauptete, Neonazis hätten ein Kind im sächsischen Sebnitz ertränkt. Gross war die Empörung, Verdächtige kamen in Haft, dann fielen die Anschuldigungen in sich zusammen. Der Bub war ohne Fremdeinwirkung bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Damals ertönte in Sebnitz der Ruf «Die Presse lügt».

Ohnmachtsgefühle

Natürlich weckt es Ohnmachtsgefühle, wenn die Chemnitzer erleben, dass ausführlich über die Ausschreitungen berichtet wird, aber eher kurz darüber, dass der Asylantrag des Hauptverdächtigen abgelehnt wurde. Auch der Iraker, der im Sommer in Wiesbaden eine 14-Jährige ermordet hat, hätte Deutschland verlassen müssen. Der tunesische Urheber des Attentats auf dem Breitscheidplatz in Berlin stand ebenfalls längst im Fokus der Behörden. Ist es da so unverständlich, wenn Wut aufkeimt auf den angeblich untätigen Staat und sich das vermischt mit der generellen Skepsis gegenüber Eliten? Die Urteile westlicher Institutionen gelten rasch als parteiisch und unfair. So ruft es Verbitterung hervor, wenn die EU-Kommission auf Warschaus mangelnde Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge hinweist, während sie geflissentlich darüber hinwegsieht, dass Polen zwei Millionen Ukrainer aufgenommen hat.

Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch Tage nach der tödlichen Messerstecherei vom 26. August wiederholt zu Kundgebungen, an denen mehrere Tausend Demonstranten teilnehmen, wie hier am 7. September. Sie skandierten unter anderem «Merkel muss weg» und «Wir sind das Volk». (Bild: Franz Fischer / Epa)
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Die Polizei von Chemnitz war mit einem Grossaufgebot vor Ort, um die Situation unter Kontrolle zu halten, 7. September). (Bild: Matthias Riteschel / Reuters)
Nach Polizeiangaben zogen rund 2500 Teilnehmer eines Protestzugs der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz durch die Innenstadt, 7. September. (Bild: Franz Fischer / Epa)
Dazwischen versuchten gemässigte Kreise, die Wogen zu glätten. Bild: Die Belegschaft von Volkswagen Chemnitz bei einer Kundgebung vor dem Firmensitz am Freitag, 7. September (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Demonstration gegen die Alternative für Deutschland (AfD) am 4. September, nachdem die AfD in Chemnitz aufmarschiert ist. Seit Wochen kommt es zu Demonstrationen, an denen oft Tausende Demonstranten teilnehmen. Der Aufmarsch rechter Gruppen wie AfD und Pegida provoziert linke Gegenproteste – im Bild richtet sich die Kritik an den AfD-Politiker Björn Höcke. (Bild: Philipp Guelland / EPA)
Am Montagabend (3. September) treten in Chemnitz unter dem Motto «#wirsindmehr» mehrere Bands an einem Gratiskonzert auf. Im Bild: Die Toten Hosen mit Sänger Campino. (Bild: Sebastian Kahnert / Keystone)
Laut Polizei bleibt beim Anlass «#wirsindmehr» alles ruhig und friedlich. Mit einer Schweigeminute wird zu Beginn der Veranstaltung an den 35-jährigen Deutschen erinnert, dessen gewaltsamer Tod Auslöser der Vorfälle war. (Bild: Imago)
Beim Konzert unter freiem Himmel, das bis tief in die Nacht dauert, sind 65 000 Menschen anwesend. Die Protagonisten protestieren mit dem Festival gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch eine Woche nach der tödlichen Messerstecherei zu Kundgebungen, an denen rund 10 000 Demonstranten teilnehmen. Das Bild zeigt einen «Mutbürger», der sich den schrillen Protesten von rechts mit einer optimistischen Botschaft entgegenstellt. (Chemnitz, 2. September). (Bild: Jens Meyer / AP)
Der Aufmarsch rechter Gruppen wie AfD und Pegida provozierte am Wochenende linke Gegenproteste. Das Bild zeigt Björn Höcke, den Thüringer AfD-Chef, der an einem Gedenkmarsch in Chemnitz anwesend war (1.9.). Höcke gilt mit seinen provokativen Aussagen als rechtsextremistisch und zählt zu den wohl meistgehassten Politikern Deutschlands. (Bild: Jens Meyer / AP)
Als Antwort auf den Aufmarsch von rechts erscheinen am Sonntag (2.9.) gemässigtere Bewohner und Behördenvertreter zu einer Gegenkundgebung. Auf Transparenten ist zum Beispiel zu lesen: «Liebe für Alle, Hass für Keinen». (Bild: Filip Singer / EPA)
Michael Kretschmer, Sachsens Ministerpräsident, nimmt an der Demonstration gegen Gewalt und Fremdenhass teil (2.9.). (Bild: Filip Singer / EPA)
Trotz vieler beschwichtigender Worte bleibt die Stimmung in Chemnitz angespannt. So kommt es am Samstag (1.9.) zwischen linken und rechten Demonstranten zu teils heftigen Auseinandersetzungen, die Polizei ist nach wie vor in Alarmbereitschaft. (Bild: Martin Divisek / EPA)
Kerzen und mässigende Botschaften prägen die Kundgebung gegen Gewalt und Fremdenhass (2.9.). Mit einem Gratiskonzert wollen sich Künstler am Montag (3.9.) in Chemnitz gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt positionieren. Unter dem Motto «#wirsindmehr» spielen unter anderem die Toten Hosen, K.I.Z. und Kraftklub; erwartet werden Tausende von Zuschauern. (Bild: Filip Singer / EPA)
Mitglieder der AfD und deren Mitläufern liefern sich am Samstag (1.9.) Scharmützel mit der Polizei. Der Landtag in Dresden dürfte sich am Montag (3.9.) mit den Ausschreitungen und dem Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen beschäftigen – der Innenausschuss kommt zu einer Sondersitzung zusammen. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Bei der Kundgebung vom Samstag, 2. September, versammeln sich Bürger zu einer Schweigeminute für das Opfer der Gewalttat vom 26. August. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Vor der Kundgebung von AfD und Pegida demonstrieren zahlreiche Menschen für Frieden und gegen Ausländerfeindlichkeit (1. September). (Bild: Jens Schlüter / Getty)
Die Demonstration des lokalen Bündnisses «Herz statt Hetze» findet vor der Johanniskirche statt. (1. September) (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Die Polizei ist in Bereitschaft, wurde sie doch die letzten Tage kritisiert, überfordert gewesen zu sein und zu wenig eingegriffen zu haben (1. September). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
An der Kundgebung des Bündnisses «Herz statt Hetze» ist auch Grünen-Bundestagsabgeordneter Cem Özdemir (l.) anwesend, der sich hier mit der Bevölkerung unterhält (1. September). (Bild: Martin Divisek / EPA)
Rund 70 Vereine, Organisationen und Parteien haben zu Demonstrationen unter dem Motto «Herz statt Hetze» aufgerufen (1. September). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Nachdem die Polizei zunächst zurückhaltend im Stadtgebiet auf Streife war, steigt die Präsenz zum Nachmittag hin an. Auch berittene Polizei ist zu sehen (1. September). (Bild: Jens Meyer / AP)
Seit einer tödlichen Messerstecherei kommt die ostdeutschen Stadt Chemnitz nicht mehr zur Ruhe. Die Täter sind vermutlich Asylsuchende, deshalb fordern viele eine härtere Migrationspolitik, so wie diese Einwohner, die sich am Donnerstag (30.8.) vor dem Stadion des Fussballclubs Chemnitz einfinden. (Bild: Franz Fischer / EPA)
Zum Auftakt des «Sachsengesprächs» rufen die Veranstalter zu einer Schweigeminute auf, um dem 35-Jährigen zu gedenken, der am Wochenende am Rande des Stadtfestes durch Messerstiche tödlich verletzt worden war. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU, 2.v.r.) ist ins Stadion gekommen, um im Rahmen eines Bürgergesprächs den Menschen Gelegenheit zu geben, ihre Ängste und Befürchtungen zu äussern. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Das Interesse am Austausch mit Behörden und Bevölkerung ist gross; es erscheinen zahlreiche Einwohner von Chemnitz zum Bürgergespräch, ebenso sind eine Vielzahl Medienschaffender angereist. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Die politisch rechts stehende Organisation «Pro Chemnitz» hat unmittelbar nach dem Tötungsfall zu Demonstrationen aufgerufen. Deren Mitglieder erscheinen auch am Donnerstag (30.8.) in grosser Zahl vor dem Stadion und skandieren dort ihre Forderungen, die Migrationspolitik zu verschärfen. (Bild: Franz Fischer / EPA)
Wie auch in den vergangenen Tagen ist die Polizei in Chemnitz in Alarmbereitschaft. Jederzeit könnten Demonstranten aus dem rechten Lager und linke Gegendemonstranten aneinander geraten. (Bild: Jens Meyer / AP)
Trauer und Bestürzung über die Messerstecherei mit tödlichem Ausgang sind in Chemnitz nach wie vor gross. Auch am Donnerstag (30.8.) werden Blumen am Tatort niedergelegt. (Bild: Ralf Hirschberger / AP)
Als Reaktion auf eine tödliche Messerstecherei haben rechtsextreme Fussballfans und andere Gruppen in der ostdeutschen Stadt Chemnitz demonstriert. Andere Teile der Bevölkerung und die Stadtbehörden zeigen sich solidarisch mit den Migranten, die seit dem Tötungsdelikt unter Generalverdacht stehen. Das Bild zeigt rechtsradikale Demonstranten am 27.8. im Zentrum von Chemnitz. (Bild: Max Stein / Imago)
Blumen, Kerzen und ein Bild des Opfers stehen am Dienstag (28. August) an der Stelle in Chemnitz, an der ein 35-jähriger Mann erstochen worden ist. Als Tatverdächtige werden ein irakischer und ein syrischer Flüchtling verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. (Bild: Imago)
Der Aufmarsch der Rechtsextremen mobilisiert auch die Gegenseite. Nach dem Tötungsfall in der Nacht zum Sonntag (26.8.) am Rande des Chemnitzer Stadtfestes erscheinen Mitglieder des «Bündnis Chemnitz Nazifrei» zu einer Gegendemonstration (27.8.). Zwischen beiden Gruppen kommt es zu heftigen Beschimpfungen und zu Rempeleien. (Bild: Wolfgang Schmidt / Imago)
Am Montagabend (27.8.) finden in Chemnitz weitere Demonstrationen statt. An der Kundgebung der rechten Bürgerbewegung «Pro Chemnitz» sollen etwa 5000 Personen teilgenommen haben. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Auch mehrere hundert Gegendemonstranten ziehen am Montagabend (27.8.) durch die Stadt. Bei Zusammenstössen werden mindestens sechs Personen verletzt. (Bild: epd / Imago)
Schon am Sonntag (26.8.) kommt es in Chemnitz zu Demonstrationen. Nach einem Aufruf der AfD versammeln sich rund hundert Personen in der Innenstadt, unter ihnen auch gewaltbereite Rechte. (Bild: Michael Trammer / Imago)
Das «Bündnis Chemnitz Nazifrei» zeigt sich am Montagabend (27.8.) solidarisch mit den Migranten, die sich in den Städten Deutschlands aufhalten und sich aufgrund der heftigen Reaktionen nach dem Tötungsfall bedroht fühlen. Das Bündnis protestiert dagegen, dass rechte Gruppen das Tötungsdelikt für ihre Zwecke vereinnahmen. (Bild: Wolfgang Schmidt / Imago)
Die rechtsextremen Fussballhooligans der Gruppierung «Kaotic Chemnitz» sind am späteren Sonntagnachmittag (26.8.) beim Karl-Marx-Denkmal aufmarschiert. Allein an diesem Demonstrationszug sollen rund 800 Menschen teilgenommen haben – darunter viele Jugendliche, aber auch Familien mit Kindern. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Die Polizei ist in der Chemnitzer Innenstadt mit einem Grossaufgebot präsent. Im Stadtzentrum, im Gebiet beim Karl Marx Monument, ist sie damit beschäftigt, rechte und linke Aufmärsche zu trennen. (Bild: Max Stein / Imago)
Die Polizei ist anfänglich zu schwach dotiert und mit der Situation überfordert. Die Sicherheitskräfte werden überrannt und mit Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen beworfen. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Die Polizei lässt auch Wasserwerfer auffahren, was abschreckend wirkt. Eine Eskalation können die Einsatzkräfte gerade noch verhindern. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Am Tatort werden Kerzen angezündet. – Die Messerstecherei ereignet sich am frühen Sonntagmorgen (26.8.) nach einem Streit zwischen Menschen mehrerer Nationalitäten. Ein 35-jähriger Deutscher erliegt seinen Verletzungen im Spital, zwei weitere Männer werden zum Teil schwer verletzt. (Bild: Filip Singer / EPA)
Teilnehmer der rechten Demonstration ziehen zum Tatort, um einen Kranz für das Opfer niederzulegen. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters) Zum Artikel Zu den weiteren Bildstrecken

Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch Tage nach der tödlichen Messerstecherei vom 26. August wiederholt zu Kundgebungen, an denen mehrere Tausend Demonstranten teilnehmen, wie hier am 7. September. Sie skandierten unter anderem «Merkel muss weg» und «Wir sind das Volk». (Bild: Franz Fischer / Epa)

Etwas zu erklären, bedeutet nicht, es zu rechtfertigen. Es wäre überdies falsch, alles auf die schwierigen Verhältnisse vor und nach 1989 zu schieben, weil man so nur die fatale Opferrolle zementierte und die Menschen ein zweites Mal entmündigte. Demokratie heisst nicht nur, an einer Pegida-Demonstration mitmarschieren zu können, sondern auch, Verantwortung für das eigene politische Handeln und das Staatswesen insgesamt zu übernehmen. Davon sind die Protestierer, die «Wir sind das Volk» skandieren, noch weit entfernt.

Zu wenig Toleranz

Toleranz gegenüber anderen Meinungen ist in Ostdeutschland nicht besonders ausgeprägt, was mit der geistigen Monokultur der SED-Diktatur zu tun hat. Auch der Umgang mit Ausländern, vor allem mit den Gastarbeitern aus sozialistischen Staaten, war in der DDR so verlogen wie repressiv. In der Propaganda glorifizierte man die «Bruderstaaten», in der Praxis schottete man deren Bürger ab. Die nötige Gelassenheit angesichts der Zumutung des Fremden, die sich in westdeutschen Grossstädten in der täglichen Begegnung selbstverständlich ausbildete, entwickelte sich jenseits der Elbe nie. Kein Wunder also, dass sich der fast schon überwunden geglaubte Gegensatz zwischen «Wessis» und «Ossis» mit der Flüchtlingskrise 2015 wieder akzentuierte.

Die Erfahrung im Umgang mit Migration mag dazu beigetragen haben, dass in Westdeutschland nach Mordfällen an jungen Frauen Besonnenheit vorherrschte, während in Chemnitz das ungesunde Volksempfinden explodierte. Daher geht der Ratschlag in die Irre, Politiker und Medien sollten die Gewalttaten von Flüchtlingen nicht erwähnen und besser über die «wichtigen Fragen» diskutieren. Toleranz entsteht nie durch Ignoranz, sondern durch aktive Auseinandersetzung.

Es ist leicht, alles, was nicht in die westlichen Schablonen passt, als rechts und radikal zu denunzieren. Wer diese Begriffe so inflationär gebraucht, wie dies heute oft geschieht, verhält sich nicht anders als diejenigen, die jeder Kritik reflexhaft «Lügenpresse» entgegenschreien. So leicht sollte man es sich nicht machen. Das haben die Ostdeutschen, die den Systemwechsel mehrheitlich klaglos bewältigten, ebenso wenig verdient wie die mutigen Polen und Ungarn, die sich für die bedrängte Zivilgesellschaft in ihren Heimatländern engagieren. Wer ihnen ohne Herablassung begegnen will, sollte akzeptieren, dass vieles im ehemals kommunistischen Machtbereich nicht den westlichen Denkmustern entspricht – und vermutlich nie ganz mit ihnen übereinstimmen wird.