Ostdeutschland steht wieder einmal im Verdacht, ein fremdenfeindlicher Sumpf zu sein. Der ganze ehemalige Ostblock ist von den Verheerungen durch den Kommunismus gezeichnet, die bis heute nicht überwunden sind. Die Sieger der Geschichte im Westen sollten das nicht verurteilen.
Der Osten bleibt dem Westen auf ewig ein Rätsel. Westeuropa gruselt sich wegen der «illiberalen Demokratien» in Polen und Ungarn, neuerdings auch wegen der Aufmärsche brauner Horden in Chemnitz. Mittel- und Osteuropa ticken politisch anders, konservativer und gegenüber allem Fremden kritisch, denn der Kommunismus hat die geistige Landschaft umgepflügt. Die unterschiedliche Wahrnehmung in Ost und West wurde schon bei der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 deutlich. Die Westdeutschen hofften, dass damit die Spaltung der Nation beendet sei und endlich der Alltag wieder einkehre. Die Ostdeutschen aber wussten, dass die Wiedervereinigung erst begonnen hatte.
Die leninistische Diktatur entmündigte den Menschen. Politisch ohnehin, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die Kinder kamen früh in die Krippe, der Studienplatz wurde zugeteilt (oder verwehrt), die Arbeitsstelle ebenfalls, selbst die Ferien waren organisiert. An die Fremdbestimmung gewöhnt, fühlte sich der sozialistische Mensch auch nach dem Kollaps der Sowjetherrschaft als Objekt und nicht als Subjekt der Geschichte.
Wo im Westen die Aufarbeitung und damit die Befreiung von der Historie einsetzte, blieb diese ostwärts eine Geschichte des fremdverschuldeten Leids. Ungarn laboriert bis heute am Trauma von Trianon, an der von den Siegern des Ersten Weltkriegs erzwungenen Zerstückelung des Landes. Die Dresdner kultivieren die Erinnerung an die Zerstörung der Stadt durch «anglo-amerikanische Bomberverbände», und in Polen bestimmt der millionenfache Mord nicht nur an den Juden durch deutsche und russische Besetzer die Aussenpolitik. Der Kommunismus produzierte viele Opfer, tatsächliche und eingebildete.
«Die Erfahrung der Diktatur und ihres Untergangs macht misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen und ausgenutzt worden zu sein, sitzt tief.»
Bis heute sehen sich viele Menschen im Osten nicht als Herr ihres Schicksals, sondern als Spielball fremder Mächte – von Brüssel genauso wie von westdeutschen Politikern und Medien. Die Erfahrung der Diktatur und ihres Untergangs macht misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen und ausgenutzt worden zu sein, sitzt tief. Das ist heute in Ostdeutschland so, das war in Westdeutschland nach 1945 nicht anders. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte hierfür das Schlagwort der «skeptischen Generation». Erst in den neunziger Jahren akzeptierten die Westdeutschen die Bundesrepublik vorbehaltlos und betrachteten sie als «gelobtes Land», wie eine Ausgabe der Zeitschrift «Kursbuch» betitelt war.
Die Ausbildung staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins dauerte in der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert, schneller geht das auch in der ehemaligen DDR nicht. So lange werden die Medien eine «Lügenpresse» bleiben und die Ostdeutschen besonders empfänglich für alle Protestparteien, ob Linkspartei oder AfD, sein. Die Versehrungen der Diktatur vererben sich, sie können auch nach Jahrzehnten aufbrechen. Die Angriffe auf Migranten nach der Tötung eines Deutschen vermutlich durch zwei Flüchtlinge ist auch ein fernes Echo der DDR. Rassismus war dort virulent, wurde aber totgeschwiegen.
Die Davongekommenen des Sowjetimperiums haben selbst eine grosse Integrationsleistung erbracht. In Brünn, Krakau oder Magdeburg nahmen 1989 Lebensentwürfe ein abruptes Ende, die Menschen mussten sich neu erfinden. Der Prozess war schmerzhaft, und er wirkte lange nach: Osteuropa litt unter der Finanzkrise 2008 massiv. Was sich die Menschen seit der Wende aufgebaut haben, bedeutet Heimat. Deshalb spielen Identitätsfragen eine solch wichtige Rolle. Heftig fallen die Reaktionen aus, wenn die Bürger ihre Identität bedroht sehen, etwa durch die Einquartierung von Flüchtlingen in bisher homogenen ostdeutschen Gemeinden. Warum sollten anderseits osteuropäische Staaten bereitwillig Flüchtlinge aufnehmen, solange ihre eigenen Bürger keine andere Chance sehen, als im Westen ein besseres Leben zu suchen?
Doch nicht alles ist posttraumatische Disposition. Die Ostdeutschen erleben regelmässig, wie sie von ihren westlichen Landsleuten abgekanzelt werden. Wegen der Ausschreitungen in Chemnitz gilt Sachsen wieder einmal als «Problemzone» der Nation. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln oder den brutalen Ausschreitungen am G-7-Gipfel las man nirgends, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg seien eine Schande für Deutschland. Sachsen ist halt ein Sumpf des Extremismus.
Das Klischee lässt sich beliebig abrufen, so als die «Bild»-Zeitung im Jahr 2000 behauptete, Neonazis hätten ein Kind im sächsischen Sebnitz ertränkt. Gross war die Empörung, Verdächtige kamen in Haft, dann fielen die Anschuldigungen in sich zusammen. Der Bub war ohne Fremdeinwirkung bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Damals ertönte in Sebnitz der Ruf «Die Presse lügt».
Natürlich weckt es Ohnmachtsgefühle, wenn die Chemnitzer erleben, dass ausführlich über die Ausschreitungen berichtet wird, aber eher kurz darüber, dass der Asylantrag des Hauptverdächtigen abgelehnt wurde. Auch der Iraker, der im Sommer in Wiesbaden eine 14-Jährige ermordet hat, hätte Deutschland verlassen müssen. Der tunesische Urheber des Attentats auf dem Breitscheidplatz in Berlin stand ebenfalls längst im Fokus der Behörden. Ist es da so unverständlich, wenn Wut aufkeimt auf den angeblich untätigen Staat und sich das vermischt mit der generellen Skepsis gegenüber Eliten? Die Urteile westlicher Institutionen gelten rasch als parteiisch und unfair. So ruft es Verbitterung hervor, wenn die EU-Kommission auf Warschaus mangelnde Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge hinweist, während sie geflissentlich darüber hinwegsieht, dass Polen zwei Millionen Ukrainer aufgenommen hat.
Etwas zu erklären, bedeutet nicht, es zu rechtfertigen. Es wäre überdies falsch, alles auf die schwierigen Verhältnisse vor und nach 1989 zu schieben, weil man so nur die fatale Opferrolle zementierte und die Menschen ein zweites Mal entmündigte. Demokratie heisst nicht nur, an einer Pegida-Demonstration mitmarschieren zu können, sondern auch, Verantwortung für das eigene politische Handeln und das Staatswesen insgesamt zu übernehmen. Davon sind die Protestierer, die «Wir sind das Volk» skandieren, noch weit entfernt.
Toleranz gegenüber anderen Meinungen ist in Ostdeutschland nicht besonders ausgeprägt, was mit der geistigen Monokultur der SED-Diktatur zu tun hat. Auch der Umgang mit Ausländern, vor allem mit den Gastarbeitern aus sozialistischen Staaten, war in der DDR so verlogen wie repressiv. In der Propaganda glorifizierte man die «Bruderstaaten», in der Praxis schottete man deren Bürger ab. Die nötige Gelassenheit angesichts der Zumutung des Fremden, die sich in westdeutschen Grossstädten in der täglichen Begegnung selbstverständlich ausbildete, entwickelte sich jenseits der Elbe nie. Kein Wunder also, dass sich der fast schon überwunden geglaubte Gegensatz zwischen «Wessis» und «Ossis» mit der Flüchtlingskrise 2015 wieder akzentuierte.
Die Erfahrung im Umgang mit Migration mag dazu beigetragen haben, dass in Westdeutschland nach Mordfällen an jungen Frauen Besonnenheit vorherrschte, während in Chemnitz das ungesunde Volksempfinden explodierte. Daher geht der Ratschlag in die Irre, Politiker und Medien sollten die Gewalttaten von Flüchtlingen nicht erwähnen und besser über die «wichtigen Fragen» diskutieren. Toleranz entsteht nie durch Ignoranz, sondern durch aktive Auseinandersetzung.
Es ist leicht, alles, was nicht in die westlichen Schablonen passt, als rechts und radikal zu denunzieren. Wer diese Begriffe so inflationär gebraucht, wie dies heute oft geschieht, verhält sich nicht anders als diejenigen, die jeder Kritik reflexhaft «Lügenpresse» entgegenschreien. So leicht sollte man es sich nicht machen. Das haben die Ostdeutschen, die den Systemwechsel mehrheitlich klaglos bewältigten, ebenso wenig verdient wie die mutigen Polen und Ungarn, die sich für die bedrängte Zivilgesellschaft in ihren Heimatländern engagieren. Wer ihnen ohne Herablassung begegnen will, sollte akzeptieren, dass vieles im ehemals kommunistischen Machtbereich nicht den westlichen Denkmustern entspricht – und vermutlich nie ganz mit ihnen übereinstimmen wird.