Kommentar
Andreas Ernst

In der Migrationspolitik braucht es Augenmass und Verantwortungsgefühl – Sprüche klopfen hilft nicht

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer bezeichnet die Migration als «Mutter aller politischen Probleme». Der Satz passt in die aufgeregte deutsche Debatte. Von einem Spitzenpolitiker werden aber nicht flotte Sprüche, sondern Lösungen mit Augenmass verlangt.

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«Die Migrationsfrage», sagt Horst Seehofer, «ist die Mutter aller politischen Probleme.» (Bild: Clemens Bilan / EPA)

«Die Migrationsfrage», sagt Horst Seehofer, «ist die Mutter aller politischen Probleme.» (Bild: Clemens Bilan / EPA)

Die Lagebeurteilung des deutschen Innenministers wirkt bedrohlich: Das Land ist gespalten, die Volksparteien verlieren an Boden, und am rechten Rand wächst die AfD. Wer ist schuld? «Die Migrationsfrage», sagt Horst Seehofer, «ist die Mutter aller politischen Probleme.» Doch wenn man genau hinschaut, ist es nicht die Migration, welche die Deutschen in immer stärkere Aufregung versetzt. Die Ankünfte von Geflüchteten sind schon letztes Jahr um 70 Prozent zurückgegangen. Was das Land spaltet, ist die Art und Weise, wie über Migration geredet wird.

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Nach dem Mord an einem Einheimischen in Chemnitz und den anschliessenden rassistischen Ausschreitungen machte der sächsische Ministerpräsident die unfaire Medienberichterstattung zum Problem. Gewiss, in Chemnitz hatte kein «Pogrom» stattgefunden, wie manche schrieben. Aber mehr als sächsische Imageprobleme würde doch interessieren, wie die Regierung die Entstehung eines gewaltbereiten, rechten Milieus erklärt. Zumal in einem wirtschaftlich gesunden Umfeld. Bei den Besorgten und Empörten auf der andern Seite sieht es argumentativ nicht viel besser aus. Ihre Parole ist eine Drohgebärde: «Wir sind mehr!», heisst der Hashtag. Hat man deshalb recht? Wen will man damit überzeugen? Und was, wenn die andern einmal mehr sind?

Der zentrale Ansatz, um das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen, ist die klare Trennung von Asylverfahren und Arbeitsmigration.

In Deutschland ist die Migrationspolitik zur Glaubensfrage geworden. Paradoxerweise hat sie sich gleichzeitig inhaltlich verengt: Durch die Kanäle tobt ein gesinnungsmässig zugespitzter Meinungskampf: Asylmissbrauch, Behördenversagen, Islamkritik. Weshalb nicht einmal durchatmen und das Problem in Ruhe anschauen? Experten sagen, die Migrationsfrage könne nicht gelöst, aber durchaus gesteuert werden. Migration ist nämlich nicht nur ein Problem (und noch weniger die Mutter aller Probleme). Sie ist in Wachstumsgesellschaften oft auch eine Lösung: für den Arbeitskräftemangel in der Wirtschaft etwa oder für die Überalterung der Gesellschaft. Wie alle reichen westeuropäischen Länder ist Deutschland seit den 1960er Jahren ein Einwanderungsland und hat davon enorm profitiert (viele Eingewanderte natürlich auch). Das wird hoffentlich so bleiben. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich das Land zeitgemässe Migrationsgesetze gibt.

Dafür gibt es konkrete Vorschläge etwa vom britischen Ökonomen Paul Collier oder vom österreichischen Politikberater Gerald Knaus. Der zentrale Ansatz, um das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen, ist die klare Trennung von Asylverfahren und Arbeitsmigration. Darüber scheint es wenigstens in der politischen Mitte einen Konsens zu geben. Um die Trennung in der Praxis durchführen zu können, müssten die Aussengrenzen Europas kontrolliert und die Identität der Einwanderer festgestellt werden. Wer einen Antrag auf Asyl stellt, sollte den Bescheid innerhalb weniger Wochen erhalten. Nur Schutzbedürftige erhielten ein Bleiberecht, die andern würden in ihr Herkunftsland zurückgewiesen. Damit Asylsuchende keine langen, teuren und gefährlichen Reisen unternehmen, würden die Verfahren in Transitzentren an den europäischen Aussengrenzen oder noch näher am Herkunftsland durchgeführt. Über einen andern Kanal muss die Arbeitsmigration geregelt werden, die über Kontingente an ausgewählte Länder und die Ausstellung von Arbeitsvisa gesteuert würde. Seehofer hat schon recht: Migration ist eine der grossen Fragen unserer Zeit. Ihr muss er sich als Politiker stellen: mit Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmass (Max Weber). Das Sprücheklopfen sollte er andern überlassen.

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