Ostdeutschland war immer zugleich Region der Grenzen und der Grenzüberschreitungen. Trabis warten nach dem Mauerfall vor einem Grenzübergang. (Bild: Sven Creutzmann / Mambo Photo / Getty)

Ostdeutschland war immer zugleich Region der Grenzen und der Grenzüberschreitungen. Trabis warten nach dem Mauerfall vor einem Grenzübergang. (Bild: Sven Creutzmann / Mambo Photo / Getty)

Alles beginnt mit Herkunft – weshalb Ostdeutschland sich zur Provokation entwickelt

Die Ideologie des westdeutschen Neobiedermeiers kollidiert derzeit mit dem Wunsch der Ostdeutschen nach einem einigen und demokratischen Deutschland. Für diese war die Wiedervereinigung eine Heimkehr. Um zu verstehen, wie gross das Unverständnis ist, muss man Ostdeutschland als geistigen Raum begreifen.

Klaus-Rüdiger Mai
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Etwas ganz und gar Überraschendes geschieht: Ostdeutschland entwickelt sich immer stärker zur Land gewordenen Provokation, zum Gegenentwurf gentrifizierter Hochburgen des westdeutschen Juste-Milieu. Für die Bundesrepublik wird das «rückständige» Ostdeutschland zum Motor der Modernisierung. Bereits aus der Ahnung dieser Rolle der Region zwischen Oder und Elbe, zwischen Rügen und Thüringer Wald wächst das Unbehagen des linksliberalen Establishments; die deutsche Presse von der «TAZ» bis zur «Süddeutschen Zeitung» wie auch die öffentlichrechtlichen Sender ARD und ZDF kämpfen gegen den Verlust ihrer Deutungshoheit mit immer gröberen Mitteln an.

Ostdeutsche kennen das, haben genügend Erfahrung damit gesammelt, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern propagieren, motivieren und erziehen wollen. Aus der Art der Darstellung vermögen Ostdeutsche herauszulesen, was die Mächtigen möchten, hoffen oder befürchten. Denn der Ostdeutsche bleibt im Grunde seiner Seele ein Plebejer, einer, der bei aller Kultur und Bildung den Fuss nicht vom Boden bekommt.

Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch Tage nach der tödlichen Messerstecherei vom 26. August wiederholt zu Kundgebungen, an denen mehrere Tausend Demonstranten teilnehmen, wie hier am 7. September. Sie skandierten unter anderem «Merkel muss weg» und «Wir sind das Volk». (Bild: Franz Fischer / Epa)
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Die Polizei von Chemnitz war mit einem Grossaufgebot vor Ort, um die Situation unter Kontrolle zu halten, 7. September). (Bild: Matthias Riteschel / Reuters)
Nach Polizeiangaben zogen rund 2500 Teilnehmer eines Protestzugs der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz durch die Innenstadt, 7. September. (Bild: Franz Fischer / Epa)
Dazwischen versuchten gemässigte Kreise, die Wogen zu glätten. Bild: Die Belegschaft von Volkswagen Chemnitz bei einer Kundgebung vor dem Firmensitz am Freitag, 7. September (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Demonstration gegen die Alternative für Deutschland (AfD) am 4. September, nachdem die AfD in Chemnitz aufmarschiert ist. Seit Wochen kommt es zu Demonstrationen, an denen oft Tausende Demonstranten teilnehmen. Der Aufmarsch rechter Gruppen wie AfD und Pegida provoziert linke Gegenproteste – im Bild richtet sich die Kritik an den AfD-Politiker Björn Höcke. (Bild: Philipp Guelland / EPA)
Am Montagabend (3. September) treten in Chemnitz unter dem Motto «#wirsindmehr» mehrere Bands an einem Gratiskonzert auf. Im Bild: Die Toten Hosen mit Sänger Campino. (Bild: Sebastian Kahnert / Keystone)
Laut Polizei bleibt beim Anlass «#wirsindmehr» alles ruhig und friedlich. Mit einer Schweigeminute wird zu Beginn der Veranstaltung an den 35-jährigen Deutschen erinnert, dessen gewaltsamer Tod Auslöser der Vorfälle war. (Bild: Imago)
Beim Konzert unter freiem Himmel, das bis tief in die Nacht dauert, sind 65 000 Menschen anwesend. Die Protagonisten protestieren mit dem Festival gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch eine Woche nach der tödlichen Messerstecherei zu Kundgebungen, an denen rund 10 000 Demonstranten teilnehmen. Das Bild zeigt einen «Mutbürger», der sich den schrillen Protesten von rechts mit einer optimistischen Botschaft entgegenstellt. (Chemnitz, 2. September). (Bild: Jens Meyer / AP)
Der Aufmarsch rechter Gruppen wie AfD und Pegida provozierte am Wochenende linke Gegenproteste. Das Bild zeigt Björn Höcke, den Thüringer AfD-Chef, der an einem Gedenkmarsch in Chemnitz anwesend war (1.9.). Höcke gilt mit seinen provokativen Aussagen als rechtsextremistisch und zählt zu den wohl meistgehassten Politikern Deutschlands. (Bild: Jens Meyer / AP)
Als Antwort auf den Aufmarsch von rechts erscheinen am Sonntag (2.9.) gemässigtere Bewohner und Behördenvertreter zu einer Gegenkundgebung. Auf Transparenten ist zum Beispiel zu lesen: «Liebe für Alle, Hass für Keinen». (Bild: Filip Singer / EPA)
Michael Kretschmer, Sachsens Ministerpräsident, nimmt an der Demonstration gegen Gewalt und Fremdenhass teil (2.9.). (Bild: Filip Singer / EPA)
Trotz vieler beschwichtigender Worte bleibt die Stimmung in Chemnitz angespannt. So kommt es am Samstag (1.9.) zwischen linken und rechten Demonstranten zu teils heftigen Auseinandersetzungen, die Polizei ist nach wie vor in Alarmbereitschaft. (Bild: Martin Divisek / EPA)
Kerzen und mässigende Botschaften prägen die Kundgebung gegen Gewalt und Fremdenhass (2.9.). Mit einem Gratiskonzert wollen sich Künstler am Montag (3.9.) in Chemnitz gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt positionieren. Unter dem Motto «#wirsindmehr» spielen unter anderem die Toten Hosen, K.I.Z. und Kraftklub; erwartet werden Tausende von Zuschauern. (Bild: Filip Singer / EPA)
Mitglieder der AfD und deren Mitläufern liefern sich am Samstag (1.9.) Scharmützel mit der Polizei. Der Landtag in Dresden dürfte sich am Montag (3.9.) mit den Ausschreitungen und dem Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen beschäftigen – der Innenausschuss kommt zu einer Sondersitzung zusammen. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Bei der Kundgebung vom Samstag, 2. September, versammeln sich Bürger zu einer Schweigeminute für das Opfer der Gewalttat vom 26. August. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Vor der Kundgebung von AfD und Pegida demonstrieren zahlreiche Menschen für Frieden und gegen Ausländerfeindlichkeit (1. September). (Bild: Jens Schlüter / Getty)
Die Demonstration des lokalen Bündnisses «Herz statt Hetze» findet vor der Johanniskirche statt. (1. September) (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Die Polizei ist in Bereitschaft, wurde sie doch die letzten Tage kritisiert, überfordert gewesen zu sein und zu wenig eingegriffen zu haben (1. September). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
An der Kundgebung des Bündnisses «Herz statt Hetze» ist auch Grünen-Bundestagsabgeordneter Cem Özdemir (l.) anwesend, der sich hier mit der Bevölkerung unterhält (1. September). (Bild: Martin Divisek / EPA)
Rund 70 Vereine, Organisationen und Parteien haben zu Demonstrationen unter dem Motto «Herz statt Hetze» aufgerufen (1. September). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Nachdem die Polizei zunächst zurückhaltend im Stadtgebiet auf Streife war, steigt die Präsenz zum Nachmittag hin an. Auch berittene Polizei ist zu sehen (1. September). (Bild: Jens Meyer / AP)
Seit einer tödlichen Messerstecherei kommt die ostdeutschen Stadt Chemnitz nicht mehr zur Ruhe. Die Täter sind vermutlich Asylsuchende, deshalb fordern viele eine härtere Migrationspolitik, so wie diese Einwohner, die sich am Donnerstag (30.8.) vor dem Stadion des Fussballclubs Chemnitz einfinden. (Bild: Franz Fischer / EPA)
Zum Auftakt des «Sachsengesprächs» rufen die Veranstalter zu einer Schweigeminute auf, um dem 35-Jährigen zu gedenken, der am Wochenende am Rande des Stadtfestes durch Messerstiche tödlich verletzt worden war. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU, 2.v.r.) ist ins Stadion gekommen, um im Rahmen eines Bürgergesprächs den Menschen Gelegenheit zu geben, ihre Ängste und Befürchtungen zu äussern. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Das Interesse am Austausch mit Behörden und Bevölkerung ist gross; es erscheinen zahlreiche Einwohner von Chemnitz zum Bürgergespräch, ebenso sind eine Vielzahl Medienschaffender angereist. (Bild: Jens Schlueter / EPA)
Die politisch rechts stehende Organisation «Pro Chemnitz» hat unmittelbar nach dem Tötungsfall zu Demonstrationen aufgerufen. Deren Mitglieder erscheinen auch am Donnerstag (30.8.) in grosser Zahl vor dem Stadion und skandieren dort ihre Forderungen, die Migrationspolitik zu verschärfen. (Bild: Franz Fischer / EPA)
Wie auch in den vergangenen Tagen ist die Polizei in Chemnitz in Alarmbereitschaft. Jederzeit könnten Demonstranten aus dem rechten Lager und linke Gegendemonstranten aneinander geraten. (Bild: Jens Meyer / AP)
Trauer und Bestürzung über die Messerstecherei mit tödlichem Ausgang sind in Chemnitz nach wie vor gross. Auch am Donnerstag (30.8.) werden Blumen am Tatort niedergelegt. (Bild: Ralf Hirschberger / AP)
Als Reaktion auf eine tödliche Messerstecherei haben rechtsextreme Fussballfans und andere Gruppen in der ostdeutschen Stadt Chemnitz demonstriert. Andere Teile der Bevölkerung und die Stadtbehörden zeigen sich solidarisch mit den Migranten, die seit dem Tötungsdelikt unter Generalverdacht stehen. Das Bild zeigt rechtsradikale Demonstranten am 27.8. im Zentrum von Chemnitz. (Bild: Max Stein / Imago)
Blumen, Kerzen und ein Bild des Opfers stehen am Dienstag (28. August) an der Stelle in Chemnitz, an der ein 35-jähriger Mann erstochen worden ist. Als Tatverdächtige werden ein irakischer und ein syrischer Flüchtling verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. (Bild: Imago)
Der Aufmarsch der Rechtsextremen mobilisiert auch die Gegenseite. Nach dem Tötungsfall in der Nacht zum Sonntag (26.8.) am Rande des Chemnitzer Stadtfestes erscheinen Mitglieder des «Bündnis Chemnitz Nazifrei» zu einer Gegendemonstration (27.8.). Zwischen beiden Gruppen kommt es zu heftigen Beschimpfungen und zu Rempeleien. (Bild: Wolfgang Schmidt / Imago)
Am Montagabend (27.8.) finden in Chemnitz weitere Demonstrationen statt. An der Kundgebung der rechten Bürgerbewegung «Pro Chemnitz» sollen etwa 5000 Personen teilgenommen haben. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Auch mehrere hundert Gegendemonstranten ziehen am Montagabend (27.8.) durch die Stadt. Bei Zusammenstössen werden mindestens sechs Personen verletzt. (Bild: epd / Imago)
Schon am Sonntag (26.8.) kommt es in Chemnitz zu Demonstrationen. Nach einem Aufruf der AfD versammeln sich rund hundert Personen in der Innenstadt, unter ihnen auch gewaltbereite Rechte. (Bild: Michael Trammer / Imago)
Das «Bündnis Chemnitz Nazifrei» zeigt sich am Montagabend (27.8.) solidarisch mit den Migranten, die sich in den Städten Deutschlands aufhalten und sich aufgrund der heftigen Reaktionen nach dem Tötungsfall bedroht fühlen. Das Bündnis protestiert dagegen, dass rechte Gruppen das Tötungsdelikt für ihre Zwecke vereinnahmen. (Bild: Wolfgang Schmidt / Imago)
Die rechtsextremen Fussballhooligans der Gruppierung «Kaotic Chemnitz» sind am späteren Sonntagnachmittag (26.8.) beim Karl-Marx-Denkmal aufmarschiert. Allein an diesem Demonstrationszug sollen rund 800 Menschen teilgenommen haben – darunter viele Jugendliche, aber auch Familien mit Kindern. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Die Polizei ist in der Chemnitzer Innenstadt mit einem Grossaufgebot präsent. Im Stadtzentrum, im Gebiet beim Karl Marx Monument, ist sie damit beschäftigt, rechte und linke Aufmärsche zu trennen. (Bild: Max Stein / Imago)
Die Polizei ist anfänglich zu schwach dotiert und mit der Situation überfordert. Die Sicherheitskräfte werden überrannt und mit Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen beworfen. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Die Polizei lässt auch Wasserwerfer auffahren, was abschreckend wirkt. Eine Eskalation können die Einsatzkräfte gerade noch verhindern. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters)
Am Tatort werden Kerzen angezündet. – Die Messerstecherei ereignet sich am frühen Sonntagmorgen (26.8.) nach einem Streit zwischen Menschen mehrerer Nationalitäten. Ein 35-jähriger Deutscher erliegt seinen Verletzungen im Spital, zwei weitere Männer werden zum Teil schwer verletzt. (Bild: Filip Singer / EPA)
Teilnehmer der rechten Demonstration ziehen zum Tatort, um einen Kranz für das Opfer niederzulegen. (Bild: Matthias Rietschel / Reuters) Zum Artikel Zu den weiteren Bildstrecken

Im ostdeutschen Chemnitz kommt es auch Tage nach der tödlichen Messerstecherei vom 26. August wiederholt zu Kundgebungen, an denen mehrere Tausend Demonstranten teilnehmen, wie hier am 7. September. Sie skandierten unter anderem «Merkel muss weg» und «Wir sind das Volk». (Bild: Franz Fischer / Epa)

Als das DDR-Fernsehen 1989 ausführlich über die Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens in Peking berichtete, die Filmbilder wie in einer Endlosschleife gesendet wurden, wusste jeder in der DDR, dass das eine Warnung an das eigene Volk und an die Opposition darstellte.

Ostdeutschland war immer zugleich Region der Grenzen und der Grenzüberschreitungen. Die Grenzen machten die DDR zu einem Raum, sowohl die geschlossene nach Westen als auch die bewachten, aber passierbaren zur CSSR und zu Polen im Süden und Osten – was dem Homo sapiens ostrozonalis häufig die Verachtung, zuweilen die Schmähung der deutschen Linksliberalen einbringt. Diese träumen vom Aufgehen der Bundesrepublik in der EU, davon, sich endlich Deutschlands zu entledigen und in einem grenzenlosen Gebilde anzukommen, von dem niemand so recht weiss, wie es aussehen soll. Der Ostdeutsche dagegen besteht auf der Existenz Deutschlands. Er empfindet sich als Deutscher wie der Franzose als Franzose, der Italiener als Italiener und der Portugiese als Portugiese. Es käme ihm nicht in den Sinn, Deutschland aufzugeben, hat er doch im Gegensatz zum Westdeutschen gerade in einer räumlichen Abtrennung für diese Vergangenheit gebüsst.

Die Wiedervereinigung war Heimkehr

In der Wende stürzte der Ostdeutsche die SED-Diktatur und wurde befreit von der sowjetischen Besetzung des Landes. Endlich konnte die Wiedervereinigung stattfinden, lebte «Deutschland einig Vaterland», wie es in der Nationalhymne der DDR hiess, wieder auf. Nein, Deutschland nicht im nationalistischen Sinne, sondern als Herkunft, als Selbstverständnis, als Heimat ist ihm tief ins Herz geschreint. Armselig und daseinsblind erscheinen ihm deshalb diejenigen, die Patriotismus, die Liebe zur Heimat, mit der jede Zivilisation beginnt, als Nationalchauvinismus abtun.

Die Ostdeutschen wissen auch ohne etymologische Herleitung, dass Nation ein organisatorischer Ausdruck von Herkunft ist, denn er leitet sich sprachhistorisch von «Geborenwerden», «Geburt», von dem lateinischen Verbalabstraktum zu nasci (natus sum) her. Das Eigene zu verachten, so wird niemand gross. Das Eigene zu erkennen, bleibt Aufgabe, solange man lebt. Es klingt fast tautologisch, zu sagen, alles beginnt mit Herkunft. Aber wenn das Offensichtliche vergessen wird, darf man die Tautologie nicht scheuen, zumal in ihr die Logik besonders zwingend wird. Herkunft findet immer in konkreten Räumen statt, sozial, geistig, kulturell, topografisch. Besitzt zudem dieser geistig-topografische Raum noch eine anhaltende Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes, wird er sogar zum Residuum, zum Widerstand und letztlich zum Impulsgeber der Res publica.

Mit der deutschen Vereinigung ging für viele Ostdeutsche ein langgehegter Traum in Erfüllung, ein Traum, für den die Linksliberalen, die Toskana-Fraktion und die Kaviar-Linken keinerlei Verständnis aufbrachten. Doch für die Ostdeutschen war die Wiedervereinigung eine Heimkehr, eine Heimkehr nach Deutschland, ein Abschütteln der Fremdherrschaft.

Die Ideologie des westdeutschen Neobiedermeiers kollidiert mit dem Wunsch der Ostdeutschen nach einem einigen und demokratischen Deutschland. Um zu verstehen, wie gross das Unverständnis ist, muss man Ostdeutschland als geistigen Raum begreifen. Aber Raumordnung ist den Linksliberalen ein Greuel. Geopolitik ohnehin. In ihre elysischen Phantasien dringt der simple Fakt nicht ein, dass niemand in Europa seinen Staat aufgeben möchte und dass selbst in der globalisierten Welt in Räumen und geopolitisch gedacht wird.

In ihrer Raumvergessenheit, in ihrer Vorstellung einer grenzenlosen Entgrenzung sind die deutschen Linksliberalen weltfremd und sogar europafremd. Sie sehen nicht einmal das Offenkundige, dass, wenn Frankreich Europa sagt, Frankreich Frankreich meint und Italien nicht minder und dass überdies die Staaten Osteuropas, Polen, Tschechien, Ungarn, nach jahrzehntelanger Fremdherrschaft endlich Herr im eigenen Haus sein wollen und es nicht dulden, von einer Handvoll Eurokraten im fernen Brüssel geschurigelt zu werden.

Die Ostdeutschen haben übrigens ein grosses Verständnis für ihre ehemaligen Leidensgenossen im früheren Ostblock. Die Ostdeutschen wissen sehr genau, dass Deutschland als Mittelmacht auch immer Anwalt der osteuropäischen Staaten zu sein hat. Doch unter Angela Merkel wurde der deutsche Staat vom Anwalt zum Ankläger der Osteuropäer. In diesem wie auch in anderen Punkten ist Angela Merkel eben nicht ostdeutsch, was man in Ostdeutschland sehr deutlich registriert, gehört sie geistig zum linksliberalen, westdeutschen Juste-Milieu.

Luthers Gewissen

Um Ostdeutschland zu verstehen, muss man als Erstes begreifen, dass Ostdeutschland gar nicht Ostdeutschland ist, sondern das alte Mitteldeutschland. Das alte Ostdeutschland ist längst polnisch oder litauisch. Mitteldeutsche Querköpfigkeit ist für mich ein anderer Ausdruck für Heimat. Aus ihr heraus schleuderte Martin Luther dem Reichstag in Worms sein berühmtes «Hier stehe ich und kann nicht anders» entgegen, aus ihr heraus berief er sich auf das Gewissen, denn «das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und ich will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln».

Um den Bogen über die Jahrhunderte zu spannen, stellt doch Martin Luthers Widerstand gegen das Reichsoberhaupt auf dem Reichstag nur eine andere Form des machtvollen Rufes «Wir sind das Volk» dar, der 1989 durch Leipzig, durch Dresden, durch Halle und Magdeburg, durch ganz Ostdeutschland schallte. Es ist die gleiche mitteldeutsche Querköpfigkeit, die sich in Luthers Sätzen widerspiegelt, die Jahrhunderte später unbewaffnete Demonstranten gegen eine bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht auf die Strassen trieb. Allen, die den Zusammenbruch der DDR erlebten, wird das in Erinnerung bleiben.

Die DDR hinterlässt bis heute Wirkungen im Leben derer, die in Ostdeutschland geboren wurden, übrigens auch bei denjenigen, die kurz vor oder nach der Wende zwischen Elbe und Oder auf die Welt kamen. Sie erlebten geforderte, überforderte, frohe, frustrierte, ratlose, glückliche Eltern. Eltern, die um Orientierung rangen und sich eine neue Existenz aufbauten. Ihre früheste Erfahrung bestand darin, ihre Eltern im Umgang mit einem Weltenbruch zu erleben. Aber nicht nur ihre Eltern, auch ihre Lehrer, Erzieher, die Menschen ihrer Umgebung.

Heimat ist etwas, das man immer dann spürt, wenn es droht, verloren zu gehen. Der Herbst 2015 und die Öffnung der Grenzen veränderten vieles. Die Propagierung der Willkommenskultur mit Schärfe, die einherging mit der Ausgrenzung und Diffamierung von deren Kritikern, und der Konformitätsdruck, der in den Medien erzeugt wurde und wird, erinnerten viele an die DDR.

Die Kämpfe in Chemnitz

Die Ostdeutschen lernten erstaunt, dass westdeutsche Eliten gar nicht so liberal waren, wie sie zu sein vorgaben. Ihnen zeigte sich wieder das hässliche Gesicht des Klassenkampfes. Wie aus der DDR bestens bekannt, bezieht das linksliberale Neobiedermeier seine Rechtfertigung aus der vermeintlich guten Sache, aus einer höheren Moral, aus Weltoffenheit, aus Fortschrittlichkeit. Der Kritiker, der Andersdenkende war plötzlich der Klassenfeind. Dass eine realistische Problemanalyse mit einem apodiktischen «Wir schaffen das» obsolet gemacht wurde, dass eine Regierung angesichts der tiefgreifenden Veränderung keine Antworten anbietet, wird in ganz Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen wie jüngst in Chemnitz führen. Denn die Stärkung der Ränder kann man nicht nur in Chemnitz oder in Sachsen, sondern im ganzen Land beobachten, zumal «Demonstranten» des linksextremen und des rechtsextremen Spektrums auch aus anderen Bundesländern anreisten, um in der sächsischen Stadt ihre Kämpfe auszutragen.

Die Probleme liegen tief, und sie müssen zum Gegenstand des demokratischen Diskurses werden, will man eine Radikalisierung vermeiden. Die Bürger spüren, dass sie das, was für sie Herkunft, Heimat, Identität ist, verlieren. Sie erkennen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen sie keiner gefragt hat, ob sie das wollen. Die Erinnerung an die DDR kehrt mit Macht zurück, weil die Geschichte der DDR eine unerlöste ist.

Die Ostdeutschen stellen mit Erschrecken fest, dass das neue Deutschland der alten DDR immer ähnlicher wird, wenn die Eliten auf obrigkeitsstaatliche Mittel und Strukturen setzen, weil sie der Probleme nicht mehr Herr werden. Der Klassenfeind, der Rechte, der Populist, der Reaktionär ist vor allem die Gestalt des eigenen Versagens. Fiel in der DDR die Kartoffelernte schlecht aus, war der Klassenfeind, die Bonner Ultras und Reaktionäre, die heimlich Kartoffelkäfer ausgesetzt hatten, schuld.

Die Erfahrung der Diktatur, der fehlenden Meinungsfreiheit, der fehlenden Demokratie, der Allgewalt der Propaganda, der Verteufelung und Diskriminierung des politisch Andersdenkenden wird in einer Situation aktiviert, in der die Gegenwart Züge der Vergangenheit annimmt. Die unerlöste Geschichte Ostdeutschlands wird zum Wiedergänger und drängt auf ihre Erlösung. Diese Erlösung wird die Gesellschaft modernisieren. Der Dichter Heiner Müller sprach von der Befreiung der Toten. Geschichte ist zurückgekehrt – das ist eigentlich alles.