Die Ideologie des westdeutschen Neobiedermeiers kollidiert derzeit mit dem Wunsch der Ostdeutschen nach einem einigen und demokratischen Deutschland. Für diese war die Wiedervereinigung eine Heimkehr. Um zu verstehen, wie gross das Unverständnis ist, muss man Ostdeutschland als geistigen Raum begreifen.
Etwas ganz und gar Überraschendes geschieht: Ostdeutschland entwickelt sich immer stärker zur Land gewordenen Provokation, zum Gegenentwurf gentrifizierter Hochburgen des westdeutschen Juste-Milieu. Für die Bundesrepublik wird das «rückständige» Ostdeutschland zum Motor der Modernisierung. Bereits aus der Ahnung dieser Rolle der Region zwischen Oder und Elbe, zwischen Rügen und Thüringer Wald wächst das Unbehagen des linksliberalen Establishments; die deutsche Presse von der «TAZ» bis zur «Süddeutschen Zeitung» wie auch die öffentlichrechtlichen Sender ARD und ZDF kämpfen gegen den Verlust ihrer Deutungshoheit mit immer gröberen Mitteln an.
Ostdeutsche kennen das, haben genügend Erfahrung damit gesammelt, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern propagieren, motivieren und erziehen wollen. Aus der Art der Darstellung vermögen Ostdeutsche herauszulesen, was die Mächtigen möchten, hoffen oder befürchten. Denn der Ostdeutsche bleibt im Grunde seiner Seele ein Plebejer, einer, der bei aller Kultur und Bildung den Fuss nicht vom Boden bekommt.
Als das DDR-Fernsehen 1989 ausführlich über die Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens in Peking berichtete, die Filmbilder wie in einer Endlosschleife gesendet wurden, wusste jeder in der DDR, dass das eine Warnung an das eigene Volk und an die Opposition darstellte.
Ostdeutschland war immer zugleich Region der Grenzen und der Grenzüberschreitungen. Die Grenzen machten die DDR zu einem Raum, sowohl die geschlossene nach Westen als auch die bewachten, aber passierbaren zur CSSR und zu Polen im Süden und Osten – was dem Homo sapiens ostrozonalis häufig die Verachtung, zuweilen die Schmähung der deutschen Linksliberalen einbringt. Diese träumen vom Aufgehen der Bundesrepublik in der EU, davon, sich endlich Deutschlands zu entledigen und in einem grenzenlosen Gebilde anzukommen, von dem niemand so recht weiss, wie es aussehen soll. Der Ostdeutsche dagegen besteht auf der Existenz Deutschlands. Er empfindet sich als Deutscher wie der Franzose als Franzose, der Italiener als Italiener und der Portugiese als Portugiese. Es käme ihm nicht in den Sinn, Deutschland aufzugeben, hat er doch im Gegensatz zum Westdeutschen gerade in einer räumlichen Abtrennung für diese Vergangenheit gebüsst.
In der Wende stürzte der Ostdeutsche die SED-Diktatur und wurde befreit von der sowjetischen Besetzung des Landes. Endlich konnte die Wiedervereinigung stattfinden, lebte «Deutschland einig Vaterland», wie es in der Nationalhymne der DDR hiess, wieder auf. Nein, Deutschland nicht im nationalistischen Sinne, sondern als Herkunft, als Selbstverständnis, als Heimat ist ihm tief ins Herz geschreint. Armselig und daseinsblind erscheinen ihm deshalb diejenigen, die Patriotismus, die Liebe zur Heimat, mit der jede Zivilisation beginnt, als Nationalchauvinismus abtun.
Die Ostdeutschen wissen auch ohne etymologische Herleitung, dass Nation ein organisatorischer Ausdruck von Herkunft ist, denn er leitet sich sprachhistorisch von «Geborenwerden», «Geburt», von dem lateinischen Verbalabstraktum zu nasci (natus sum) her. Das Eigene zu verachten, so wird niemand gross. Das Eigene zu erkennen, bleibt Aufgabe, solange man lebt. Es klingt fast tautologisch, zu sagen, alles beginnt mit Herkunft. Aber wenn das Offensichtliche vergessen wird, darf man die Tautologie nicht scheuen, zumal in ihr die Logik besonders zwingend wird. Herkunft findet immer in konkreten Räumen statt, sozial, geistig, kulturell, topografisch. Besitzt zudem dieser geistig-topografische Raum noch eine anhaltende Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes, wird er sogar zum Residuum, zum Widerstand und letztlich zum Impulsgeber der Res publica.
Mit der deutschen Vereinigung ging für viele Ostdeutsche ein langgehegter Traum in Erfüllung, ein Traum, für den die Linksliberalen, die Toskana-Fraktion und die Kaviar-Linken keinerlei Verständnis aufbrachten. Doch für die Ostdeutschen war die Wiedervereinigung eine Heimkehr, eine Heimkehr nach Deutschland, ein Abschütteln der Fremdherrschaft.
Die Ideologie des westdeutschen Neobiedermeiers kollidiert mit dem Wunsch der Ostdeutschen nach einem einigen und demokratischen Deutschland. Um zu verstehen, wie gross das Unverständnis ist, muss man Ostdeutschland als geistigen Raum begreifen. Aber Raumordnung ist den Linksliberalen ein Greuel. Geopolitik ohnehin. In ihre elysischen Phantasien dringt der simple Fakt nicht ein, dass niemand in Europa seinen Staat aufgeben möchte und dass selbst in der globalisierten Welt in Räumen und geopolitisch gedacht wird.
In ihrer Raumvergessenheit, in ihrer Vorstellung einer grenzenlosen Entgrenzung sind die deutschen Linksliberalen weltfremd und sogar europafremd. Sie sehen nicht einmal das Offenkundige, dass, wenn Frankreich Europa sagt, Frankreich Frankreich meint und Italien nicht minder und dass überdies die Staaten Osteuropas, Polen, Tschechien, Ungarn, nach jahrzehntelanger Fremdherrschaft endlich Herr im eigenen Haus sein wollen und es nicht dulden, von einer Handvoll Eurokraten im fernen Brüssel geschurigelt zu werden.
Die Ostdeutschen haben übrigens ein grosses Verständnis für ihre ehemaligen Leidensgenossen im früheren Ostblock. Die Ostdeutschen wissen sehr genau, dass Deutschland als Mittelmacht auch immer Anwalt der osteuropäischen Staaten zu sein hat. Doch unter Angela Merkel wurde der deutsche Staat vom Anwalt zum Ankläger der Osteuropäer. In diesem wie auch in anderen Punkten ist Angela Merkel eben nicht ostdeutsch, was man in Ostdeutschland sehr deutlich registriert, gehört sie geistig zum linksliberalen, westdeutschen Juste-Milieu.
Um Ostdeutschland zu verstehen, muss man als Erstes begreifen, dass Ostdeutschland gar nicht Ostdeutschland ist, sondern das alte Mitteldeutschland. Das alte Ostdeutschland ist längst polnisch oder litauisch. Mitteldeutsche Querköpfigkeit ist für mich ein anderer Ausdruck für Heimat. Aus ihr heraus schleuderte Martin Luther dem Reichstag in Worms sein berühmtes «Hier stehe ich und kann nicht anders» entgegen, aus ihr heraus berief er sich auf das Gewissen, denn «das Gewissen ist im Wort Gottes gefangen, und ich kann und ich will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln».
Um den Bogen über die Jahrhunderte zu spannen, stellt doch Martin Luthers Widerstand gegen das Reichsoberhaupt auf dem Reichstag nur eine andere Form des machtvollen Rufes «Wir sind das Volk» dar, der 1989 durch Leipzig, durch Dresden, durch Halle und Magdeburg, durch ganz Ostdeutschland schallte. Es ist die gleiche mitteldeutsche Querköpfigkeit, die sich in Luthers Sätzen widerspiegelt, die Jahrhunderte später unbewaffnete Demonstranten gegen eine bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht auf die Strassen trieb. Allen, die den Zusammenbruch der DDR erlebten, wird das in Erinnerung bleiben.
Die DDR hinterlässt bis heute Wirkungen im Leben derer, die in Ostdeutschland geboren wurden, übrigens auch bei denjenigen, die kurz vor oder nach der Wende zwischen Elbe und Oder auf die Welt kamen. Sie erlebten geforderte, überforderte, frohe, frustrierte, ratlose, glückliche Eltern. Eltern, die um Orientierung rangen und sich eine neue Existenz aufbauten. Ihre früheste Erfahrung bestand darin, ihre Eltern im Umgang mit einem Weltenbruch zu erleben. Aber nicht nur ihre Eltern, auch ihre Lehrer, Erzieher, die Menschen ihrer Umgebung.
Heimat ist etwas, das man immer dann spürt, wenn es droht, verloren zu gehen. Der Herbst 2015 und die Öffnung der Grenzen veränderten vieles. Die Propagierung der Willkommenskultur mit Schärfe, die einherging mit der Ausgrenzung und Diffamierung von deren Kritikern, und der Konformitätsdruck, der in den Medien erzeugt wurde und wird, erinnerten viele an die DDR.
Die Ostdeutschen lernten erstaunt, dass westdeutsche Eliten gar nicht so liberal waren, wie sie zu sein vorgaben. Ihnen zeigte sich wieder das hässliche Gesicht des Klassenkampfes. Wie aus der DDR bestens bekannt, bezieht das linksliberale Neobiedermeier seine Rechtfertigung aus der vermeintlich guten Sache, aus einer höheren Moral, aus Weltoffenheit, aus Fortschrittlichkeit. Der Kritiker, der Andersdenkende war plötzlich der Klassenfeind. Dass eine realistische Problemanalyse mit einem apodiktischen «Wir schaffen das» obsolet gemacht wurde, dass eine Regierung angesichts der tiefgreifenden Veränderung keine Antworten anbietet, wird in ganz Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen wie jüngst in Chemnitz führen. Denn die Stärkung der Ränder kann man nicht nur in Chemnitz oder in Sachsen, sondern im ganzen Land beobachten, zumal «Demonstranten» des linksextremen und des rechtsextremen Spektrums auch aus anderen Bundesländern anreisten, um in der sächsischen Stadt ihre Kämpfe auszutragen.
Die Probleme liegen tief, und sie müssen zum Gegenstand des demokratischen Diskurses werden, will man eine Radikalisierung vermeiden. Die Bürger spüren, dass sie das, was für sie Herkunft, Heimat, Identität ist, verlieren. Sie erkennen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen sie keiner gefragt hat, ob sie das wollen. Die Erinnerung an die DDR kehrt mit Macht zurück, weil die Geschichte der DDR eine unerlöste ist.
Die Ostdeutschen stellen mit Erschrecken fest, dass das neue Deutschland der alten DDR immer ähnlicher wird, wenn die Eliten auf obrigkeitsstaatliche Mittel und Strukturen setzen, weil sie der Probleme nicht mehr Herr werden. Der Klassenfeind, der Rechte, der Populist, der Reaktionär ist vor allem die Gestalt des eigenen Versagens. Fiel in der DDR die Kartoffelernte schlecht aus, war der Klassenfeind, die Bonner Ultras und Reaktionäre, die heimlich Kartoffelkäfer ausgesetzt hatten, schuld.
Die Erfahrung der Diktatur, der fehlenden Meinungsfreiheit, der fehlenden Demokratie, der Allgewalt der Propaganda, der Verteufelung und Diskriminierung des politisch Andersdenkenden wird in einer Situation aktiviert, in der die Gegenwart Züge der Vergangenheit annimmt. Die unerlöste Geschichte Ostdeutschlands wird zum Wiedergänger und drängt auf ihre Erlösung. Diese Erlösung wird die Gesellschaft modernisieren. Der Dichter Heiner Müller sprach von der Befreiung der Toten. Geschichte ist zurückgekehrt – das ist eigentlich alles.