Eine Mehrheit der Deutschen ist inzwischen der Meinung, man müsse aufpassen, was man öffentlich sage. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Eine Mehrheit der Deutschen ist inzwischen der Meinung, man müsse aufpassen, was man öffentlich sage. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Es gilt, die Meinung des anderen zu ertragen, auch wenn sie mir nicht passt

Die deutschen Universitäten haben durch die Transformation in «unternehmerische Universitäten» ihren intellektuellen Eigensinn aufgegeben, während die hypermoralische Kultur des Regenbogens totalitäre Züge entwickelt. Kein Wunder, dass eine Mehrheit der Deutschen inzwischen der Meinung sei, man müsse aufpassen, was man öffentlich sage, so der Historiker Andreas Rödder.

Andreas Rödder
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Professoren sind selten Helden. Und Universitäten waren selten Widerstandsnester gegen den herrschenden Zeitgeist. Ausnahmen bestätigen die Regel. 1837 nahmen die «Göttinger sieben» ihre Entlassung und Verbannung in Kauf, um gegen die Aufhebung der Verfassung durch den König von Hannover zu protestieren. Und gegen den «linken Faschismus» (Jürgen Habermas) radikaler Teile der Studentenbewegung gründeten Professoren Anfang der siebziger Jahre den «Bund Freiheit der Wissenschaft». Im Nationalsozialismus aber zählte die Freiheit der Wissenschaft an den Universitäten weniger als Konformismus und Opportunismus, wenn Juden und Unliebsame entfernt wurden oder wenn es um lukrative Forschungsaufträge zur Rassenhygiene oder zur Ostforschung ging.

Insofern hat es Tradition, dass Kollegen, Universitätsleitungen und Kultusminister sich windelweich aus der Affäre ziehen, wenn Bernd Lucke in Hamburg, Herfried Münkler, Jörg Baberowski und Ruud Koopmans in Berlin von Studenten diffamiert oder daran gehindert werden, öffentlich zu reden, so wie es auch andernorts zunehmend geschieht. Darüber hinaus aber ist es die Verbindung von zwei jüngeren Entwicklungen, die der Situation anno 2019 ihren eigenen Charakter verleiht: der Konformisierung der Universitäten durch die Reformen im frühen 21. Jahrhundert und der Kultur des Regenbogens, die in den vergangenen Jahren Dominanz im öffentlichen Raum gewonnen hat.

Wettbewerb um Staatsknete

Die Universitätsreformen des frühen 21. Jahrhunderts folgten der marktökonomischen Idee, Leistung durch Wettbewerb zu steigern und auf diesem Wege Exzellenz hervorzubringen. Leitbild war die «unternehmerische Universität» mit Vorstand und Aufsichtsrat, die auf leistungs- und erfolgsabhängige Mittelvergabe umstellte. So weit, so marktlogisch. Wie aber bemisst man Erfolg und Leistung in ursprünglich nichtkommerziellen Systemen? Zum neuen, ökonomisch messbaren Kriterium wurden Drittmittel, das heisst ausseruniversitäre Forschungsgelder, die von Wissenschaftern eingeworben werden.

Das Problem ist nur: Zumindest in den Humanwissenschaften handelt es sich dabei ganz überwiegend um staatliche Gelder, die vor allem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) verteilt werden. Wettbewerb um Staatsknete ist aber kein echter Wettbewerb. Vielmehr bildete sich ein selbstreferenzieller, kartellartiger Kreislauf von Antragstellern, Gutachtern und Entscheidern heraus, in dem der Antragsteller von heute der Gutachter von morgen und der Entscheider von gestern der Antragsteller von heute ist. Weil dieses System auf Zustimmung angewiesen ist, schreibt jeder, was der jeweils andere vermutlich lesen will – es beruht darauf, vorgegebene Erwartungen zu erfüllen.

Das gilt auch für das Nachwuchsformat der Juniorprofessoren, das eingeführt wurde, um den wissenschaftlichen Nachwuchs aus den Ketten einer vermeintlich willkürlichen Ordinarienherrschaft zu befreien. Während Assistenten in den Humanwissenschaften früher ein begrenztes Deputat an Lehre erfüllen mussten und sonst ihr zweites Buch schreiben konnten, schliessen Juniorprofessoren heute Zielvereinbarungen mit ihrem Fachbereich: Sie verpflichten sich, Doktoranden zu betreuen, Vorlesungen zu halten, Drittmittelanträge zu stellen, Studiengänge aufzubauen, Aufsätze in internationalen Journals zu veröffentlichen, Tagungen zu organisieren, bei denen sie die DFG-Standards zur Gleichstellung beachten – und auch ein zweites Buch wird nach wie vor erwartet.

Was will jemand in dieser Situation anderes tun, als To-do-Listen vorgegebener Erwartungen abzuarbeiten, zumal von der allfälligen Evaluation die Entscheidung über eine unbefristete Stelle abhängt? Eine eigenständig-kritische, kantige Persönlichkeit entwickelt sich unter diesen Bedingungen jedenfalls nicht so leicht. Vielmehr werden systematisch Anreize für die Ausprägung eines Managertyps von Wissenschaftern gesetzt. Und das hat System: An den Universitäten hat marktgängige Konformisierung die interesselose Autonomie abgelöst, in der allein Pierre Bourdieu den Legitimationsgrund des intellektuellen Feldes sah.

Der Wirtschaftswissenschafter und AfD-Gründer Bernd Lucke versucht an der Universität Hamburg seine Antritts-Vorlesung zu halten, was von Protestierenden verhindert wird. (Bild: Markus Scholz / DPA / Keystone)

Der Wirtschaftswissenschafter und AfD-Gründer Bernd Lucke versucht an der Universität Hamburg seine Antritts-Vorlesung zu halten, was von Protestierenden verhindert wird. (Bild: Markus Scholz / DPA / Keystone)

Dach über dem Kopf

Dieses Feld ist unterdessen von der Kultur des Regenbogens begossen worden, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten zur Leitkultur westlicher Gesellschaften aufgestiegen ist. Sie beruht auf den Leitvorstellungen von Diversität, Antidiskriminierung, Inklusion und Gleichstellung. Ihr Anliegen ist emanzipatorisch, indem es auf Ausgleich für Benachteiligungen zielt: von Frauen, Migranten, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen oder Menschen mit anderen Identitätsmerkmalen. Wie so oft aber wird auch diese Idee immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst und zur Ideologie wird.

Im Fall des Regenbogens geht diese Ideologisierung davon aus, dass Benachteiligung zur Legitimation für politische Forderungen nach Ausgleich, Bevorzugung oder Schutz wird – und der öffentlich anerkannte Opferstatus mithin zum scharfen politischen Instrument. Auf diese Weise lässt sich sogar offensiv damit argumentieren, der argumentativen Auseinandersetzung nicht gewachsen zu sein. So hat es der deutsche FDP-Vorsitzende Christian Lindner erlebt: Als er während eines Vortrags von Demonstranten gestört wurde, gab er den Störern Gelegenheit zu reden. Die aber lehnten sein Gesprächsangebot ab, weil sie sich Lindner unterlegen fühlten. Der wiederum wurde nicht nur von den Demonstranten, sondern auch von Teilen des Publikums als arrogant kritisiert.

Schutz vor solch kränkenden Zumutungen verschaffen demgegenüber «safe spaces» – signalisiert durch ein mit beiden Händen über dem Kopf gebildetes Dach, wie es bei manchen Fridays-for-Future-Treffen praktiziert wird: Sprich nicht weiter! Das Praktische daran: Die Betroffenen bestimmen selbst, was unzumutbar und was zulässig ist. Sie sind somit Kläger und Richter zugleich. Diese Aufhebung der Gewaltenteilung wird auch bei der Verwendung des Etiketts «Nazi» angewendet, mit dem sich alles Unliebsame aus dem Kreis des Zulässigen exkludieren lässt.

Die neue Ordnung

Die Postmoderne frisst ihre Kinder. Die Kultur des Regenbogens ist aus der postmodernen Dekonstruktion traditioneller westlich-bürgerlicher Ordnungsvorstellungen in den achtziger Jahren hervorgegangen: der Geschlechterordnung, der Vorstellung von der Nation oder des Westens an sich. Was als befreiende Dekonstruktion begann, führte indessen zur Konstruktion einer neuen Ordnung. Dabei wusste Jean-François Lyotard, dass der Konsens immer auch ein Instrument ist, um das Dissente zu unterdrücken – mit Tendenz zum Terror, wie er schrieb.

Inzwischen haben sich die Herrschaftsverhältnisse umgekehrt. Heute zeichnet sich eine Meinungsdiktatur des Regenbogens und damit die Verkehrung seiner emanzipatorischen Anliegen ab. Jedenfalls besagen Allensbach-Umfragen, dass eine Mehrheit der Deutschen inzwischen der Meinung sei, man müsse aufpassen, was man öffentlich sage – womit nicht die Einhaltung elementarer Höflichkeitsregeln gemeint ist.

Auch an den Universitäten wird Dissens zunehmend unterdrückt. Die Institutionen werden damit Teil, ja Partei in einer zunehmenden Polarisierung der Öffentlichkeit. Konformisiert gegenüber dem herrschenden Zeitgeist, entwickeln sie sich, jedenfalls in Teilen, zur Bühne, wenn nicht gar zum Gehilfen einer zunehmend repressiven Einengung des öffentlich Sagbaren. Dies widerspricht ihrem Legitimationsgrund der intellektuellen Autonomie. Es widerspricht dem wissenschaftlichen Grundprinzip der permanenten Bereitschaft, Gewissheiten infrage zu stellen. Und es widerspricht der demokratischen Voraussetzung einer «robusten Zivilität» in der argumentativen Auseinandersetzung (Timothy Garton Ash): die Meinung des anderen – solange sie die Grundsätze einer freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht verletzt – zu ertragen, auch wenn sie mir nicht passt.

Auf dem Spiel steht nicht weniger als der westliche Way of Life, der die Kultur des Regenbogens erst möglich gemacht hat. Nun aber gefährden die zunehmenden Repressionen des Regenbogens die pluralistische Demokratie der offenen Gesellschaft, indem sie das Meinungsspektrum einengen, das reagierende Ressentiment von rechts nähren und die demokratische Mitte zerreiben. Und sie spielen denjenigen in die Hände, die auf die Selbstabdankung des Westens und seiner liberalen Leistungsgesellschaften warten.

Andreas Rödder lehrt in Mainz neueste Geschichte. Jüngst von ihm erschienen: «Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems» (2018) und «Konservativ 21.0 – Eine Agenda für Deutschland» (2019).