Super-GAU in der Weltgeschichte der Pressekonferenzen: Günter Schabowski (Mitte) am 9. November 1989. (Bild: SZ / Giribas Jose / Keystone)

Super-GAU in der Weltgeschichte der Pressekonferenzen: Günter Schabowski (Mitte) am 9. November 1989. (Bild: SZ / Giribas Jose / Keystone)

Schabowskis Zettel oder der Fall der Berliner Mauer

Am 9. November 1989 führten die Medien ein welthistorisches Ereignis herbei. Eine Chronologie der Ereignisse.

Hans-Hermann Hertle
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Am frühen Morgen des 10. November 1989, noch vor 8 Uhr, liefen die Telefone in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden in Ostberlin heiss. «Was ist bei euch eigentlich los?», wollte das Aussenministerium in Moskau wissen. «Alle Presseagenturen der Welt sind wie von Sinnen. Sie behaupten, die Mauer sei weg!» Und dann fragend: «War das denn alles mit uns abgestimmt?» Sofortige Nachforschungen in Moskau und Ostberlin hätten zu einem negativen Ergebnis geführt, berichtete Igor Maximytschew, der erste Gesandte in der Botschaft, später. Deshalb sei der sowjetische Botschafter in der DDR beauftragt worden, eiligst bei den deutschen Genossen nachzufragen, wer eigentlich der SED-Führung erlaubt habe, die Grenze zu öffnen.

Nur einige hundert Meter von der sowjetischen Botschaft entfernt kamen im Gebäude des SED-Zentralkomitees gegen 9 Uhr die Mitglieder des Politbüros zu einer Beratung zusammen. Politische Katzenjammerstimmung lag über dem Gremium. Es wurde gerätselt, wie das Missgeschick hatte passieren können. «Wer hat uns das bloss eingebrockt?», fragte Honecker-Nachfolger Egon Krenz verzweifelt in die Runde. Und dann rief auch schon der sowjetische Botschafter an.

Gerade drei Wochen waren vergangen, seit Günter Schabowski zusammen mit Egon Krenz die Verschwörung zum Sturz Erich Honeckers angeführt hatte. Seit zwei Tagen war er Pressesprecher der Partei. Am Abend des 9. November 1989, gegen 19 Uhr, hatte er auf einer live im DDR-Fernsehen übertragenen, internationalen Pressekonferenz über eine neue Reiseregelung informiert.

Der Trick mit dem Reisepass ging schief

Die DDR stand in der Reisefrage unter ungeheurem Druck. Nicht beabsichtigt war, die Mauer einzureissen. Beabsichtigt war vielmehr, beginnend mit dem 10. November 1989, ständige Ausreisen – also die Übersiedlung in die Bundesrepublik – nun auch über die deutsch-deutsche Grenze zu genehmigen, aber erst nach einem entsprechenden Antrag. Besuchsreisen sollten – ebenfalls auf Antrag – für bis zu dreissig Tage pro Jahr genehmigt werden, jedoch an die Erteilung eines Visums und den Besitz eines Reisepasses gekoppelt werden.

Der Trick dabei war: Einen Reisepass besassen nur etwa vier Millionen DDR-Bürger, nämlich die Rentner; alle anderen, so das Kalkül, mussten zunächst einen Pass beantragen und sich dann noch einmal mindestens vier Wochen gedulden. Einem sofortigen Aufbruch aller Bürger, so meinte man, war damit ein Riegel vorgeschoben. Die neue Reiseverordnung sollte planmässig vom Regierungssprecher am 10. November ab 4 Uhr früh bekanntgegeben werden, um die Mitarbeiter des Pass- und Meldewesens auf den erwarteten Massenansturm vorzubereiten.

Über all diese Feinheiten war Günter Schabowski nicht informiert, als er die Reiseregelung von einem Zettel ablas, den ihm Egon Krenz kurz zuvor übergeben hatte. «Wann tritt das in Kraft?», riefen ihm mehrere Journalisten zu. Schabowski wirkte hilflos, denn «diese Frage», so das Politbüromitglied später, «war mit mir zuvor nie besprochen worden». Er kratzte sich am Kopf und überflog seine Papiere. Dann die knappe Antwort: «Sofort, unverzüglich!»

Wenige Minuten später, um 19 Uhr 01, war die Pressekonferenz beendet. Gemessen an den mit der Reiseverordnung verbundenen Absichten wurden seine Äusserungen zum Super-GAU in der Weltgeschichte der Pressekonferenzen.

Zu einem spontanen, sofortigen Ansturm auf die Berliner Grenzübergänge – wie es bis heute zumeist fälschlich dargestellt wird – führten Schabowskis Mitteilungen indes nicht. Vielmehr waren es die Westmedien, zunächst die Presseagenturen und auf deren Meldungen beruhend Hörfunk und Fernsehen, die den bürokratischen Verordnungstext als bedingungslose und sofortige Grenzöffnung interpretierten. So meldete AP bereits um 19 Uhr 05: «DDR öffnet Grenzen». Und DPA verbreitete um 19 Uhr 41 die «sensationelle Mitteilung»: «Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach Westberlin ist offen.» Die ARD-«Tagesschau» um 20 Uhr platzierte die Reiseregelung als Topmeldung und blendete dazu als Schrift ein: «DDR öffnet Grenze».

Dennoch: Um 20 Uhr 15, 75 Minuten nach der Pressekonferenz Schabowskis und unmittelbar nach dem Ende der «Tagesschau», hatten sich gerade einmal achtzig Ostberliner an den Grenzübergängen Sonnenallee (acht bis zehn), Invalidenstrasse (zwanzig) und Bornholmer Strasse (fünfzig) zur «Ausreise» eingefunden, wie der Lagebericht der Ostberliner Volkspolizei festhält.

Ohne jegliche Information und ohne Befehle ihrer militärischen Führung – die Fernsehberichterstattung hatte den Dienstweg überholt – sahen sich die Grenzposten auf Ostberliner Seite zunächst vor allem in der Bornholmer Strasse einer zwar wachsenden, aber immer noch überschaubaren Menschenansammlung gegenüber, die zwischen 21 Uhr und 21 Uhr 30 auf 500 bis 1000 Personen geschätzt wurde. Ganz wenige wollten ausreisen, fast alle die vermeintliche Reisefreiheit testen.

Gegen 21 Uhr 30 kam es in der Bornholmer Strasse zur sogenannten Ventillösung: Um den Druck abzubauen, wurde die Ausreiseabfertigung aufgenommen. Die Personalausweise der DDR-Bürger wurden mit einem Passkontrollstempel neben dem Lichtbild ungültig gestempelt; ohne es zu wissen, waren die ersten Ostberliner, die jubelnd über die Bornholmer Brücke nach Westberlin liefen, ausgebürgert worden.

Mit einem Ansturm auf alle Berliner Grenzübergänge rechnete man im Ministerium für Staatssicherheit, das für diese Entscheidung zuständig war, offenbar nicht: Ausser in der Bornholmer Strasse und am Übergang Heinrich-Heine-Strasse, an dem laut Volkspolizei-Bericht gegen 21 Uhr 30 120 Personen auf der Ostseite zusammengekommen waren, waren um diese Zeit «an den übrigen Güst (Grenzübergangsstellen) nur vereinzelt Personen festzustellen».

Stasi-Generalmajor Heinz Fiedler beruhigte sich und seine Genossen an den Übergängen mit den Worten: «Wie ich meine Berliner kenne, gehen die um 23 Uhr ins Bett.» Doch von dieser Gewohnheit sollten an diesem Abend zu viele Ostberliner Abstand nehmen.

Vorauseilende Ansagen

Höhepunkt der Fernsehberichterstattung waren die ARD-«Tagesthemen», die an diesem Abend leicht verspätet um 22 Uhr 42 begannen. Ein Einspielfilm zeigte die nahezu menschenleere Westseite des Brandenburger Tores. Der Chefmoderator Hanns Joachim Friedrichs verkündete dazu: «Das Brandenburger Tor heute Abend. Als Symbol für die Teilung Berlins hat es ausgedient. Ebenso die Mauer, die seit 28 Jahren Ost und West trennt. Die DDR hat dem Druck der Bevölkerung nachgegeben. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei.»

Dann kam Friedrichs ins Bild und beendete seine Anmoderation mit dem Satz: «Die Tore in der Mauer stehen weit offen

Friedrichs Ansage eilte den Ereignissen voraus: Aus Berlin meldete sich «Tagesthemen»-Reporter Robin Lautenbach live vom Grenzübergang Invalidenstrasse, dessen Tor unübersehbar geschlossen war. Doch drei Westberliner Augenzeugen, die zuvor am Grenzübergang Bornholmer Strasse gewesen waren und die Lautenbach dann interviewte, halfen ihm und Friedrichs aus der Patsche.

In Unkenntnis über die Ausbürgerungsabsichten der DDR-Seite berichtete ein Augenzeuge: «Ich habe erlebt, dass um 21 Uhr 25 das erste Pärchen tränenaufgelöst auf uns zugelaufen kam und die Berliner weisse Linie erreicht hat. Sie sind mir beide um den Hals gefallen, und wir haben alle gemeinsam geweint.» Und die beiden anderen Augenzeugen ergänzten unter anderem, Ostberliner gingen hin und her, sie brauchten nur den Personalausweis – in den es einen Stempel gebe!

Robin Lautenbach deklarierte umgehend den geschlossenen Übergang Invalidenstrasse zum Ausnahmefall: «Hier in der Invalidenstrasse auf der anderen Seite haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch nicht bekommen, oder sie haben sie nicht verstanden. Hier werden bis zu diesem Zeitpunkt offenbar die Leute auf der östlichen Seite weiter zurückgeschickt. Sie werden vertröstet auf morgen, 8 Uhr, dass sie sich dort ihren Stempel bei der Volkspolizei abholen können. Aber wie gesagt: An sehr vielen anderen Grenzübergängen, nicht nur in der Bornholmer Strasse – wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländergrenzübergang Checkpoint Charlie –, ist es offenbar bereits möglich, mit dieser neuen Regelung völlig komplikationslos nach Westberlin zu kommen.»

«Reiseverkehr frei»? – «Tore in der Mauer weit offen»? – «Völlig komplikationslos nach Westberlin»? Nach diesen Berichten gab es für Tausende, ja Zehntausende Ost- und Westberliner sowie Bewohner des Umlandes kein Halten mehr. Erst jetzt begann jener Ansturm von Ost und West auf die Grenzübergänge, der Passkontrolleure und Grenzsoldaten zwang, das Stempeln einzustellen, die Durchlässe freizugeben und den Rückzug anzutreten.

«Wir fluten jetzt!»

Am Grenzübergang Bornholmer Strasse, im dichtbesiedelten Stadtbezirk Prenzlauer Berg gelegen, war der Ansturm auf der Ostseite am stärksten. Zunächst reagierten die Grenzwächter abwartend, verwiesen die Menschen auf den nächsten Tag. Dann erlaubten sie Einzelnen die Ausreise, stempelten die Ausweise dabei aber ungültig. Doch schliesslich wurde der Druck vor dem Schlagbaum so stark, dass Passkontrolleure und Grenzsoldaten um ihr Leben fürchteten. Auf eigene Entscheidung stellten sie gegen 23 Uhr 30 alle Kontrollen ein. «Wir fluten jetzt!», kündigte der leitende Offizier der Passkontrolle an; dann wurden die Schlagbäume geöffnet.

An der Invalidenstrasse waren die Passkontrolleure zunächst entschlossen, sich die West- und Ostberliner vom Halse zu halten. Sie holten Verstärkung heran: 45 Mann mit Maschinenpistolen. Doch als die Lage eskalierte, entschieden sie: «Auf Unbewaffnete schiessen – das machen wir nicht.» Die Soldaten rückten ab, der Vorgesetzte befahl: «Lasst sie laufen!» Während es die Ostberliner in den Westteil der Stadt zog, drangen Hunderte Westberliner in den Ostteil ein und rückten zum Brandenburger Tor vor.

Auch am Checkpoint Charlie stürmten Ostberliner («Lasst uns raus!») und Westberliner («Lasst uns rein!») gemeinsam den Übergang und erzwangen die Einstellung aller Kontrollen – in beide Richtungen.

Um Mitternacht war die Grenze offen

Jene Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer, die den historischen Moment nicht verpassen und eigentlich den Wahrheitsgehalt der Meldungen nur «testen» wollten oder einfach nur mal «gucken» und dabei sein wollten und deshalb an die Grenzübergänge und zum Brandenburger Tor eilten, führten im Grunde das Ereignis erst herbei, das sonst gar nicht stattgefunden hätte. Eine von den Medien verbreitete Fiktion mobilisierte die Massen und wurde dadurch zur Realität.

Der Fall der Berliner Mauer ist damit das erste welthistorische Ereignis, das als Folge der vorauseilenden Verkündung durch Fernsehen und Hörfunk eintrat.

Wie sollte die KPdSU-Führung im fernen Moskau begreifen, wie es zum Fall der Mauer gekommen war, wenn selbst die ostdeutsche Führung darüber im Dunkeln tappte – und vor allem: Wie sollte sie darauf reagieren?

Mit Michail Gorbatschow zusammen habe er die Ereignisse als «Ergebnis einer grossen Volksbewegung (verstanden), die von keiner Regierung aufgehalten werden konnte», sagte der sowjetische Aussenminister Eduard Schewardnadse im Nachhinein – und deshalb hätten sie beide jegliche Gewaltanwendung abgelehnt. Die Frage, ob der alte Zustand wiederhergestellt werden solle, habe das KPdSU-Politbüro nicht einmal erörtert.

Gorbatschow, so Schewardnadse, habe auch der damaligen Führung der DDR dringend empfohlen, «keinesfalls Blut zu vergiessen».

Ohne Mauer und ohne sowjetischen militärischen Beistand konnte der «erste deutsche Arbeiter- und Bauernstaat» nicht existieren. Nur elf Monate nach dem Fall der Mauer war die DDR verschwunden und Deutschland vereinigt – und kein Schuss war gefallen.

Hans-Hermann Hertle, Zeithistoriker und Publizist, ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zuletzt von ihm erschienen: «Sofort, unverzüglich. Die Chronik des Mauerfalls» im Ch.-Links-Verlag, Berlin 2019.