Die Brücke von Remagen hat Gert Schellers Leben geprägt

Im März 1945 erhielt der Wehrmachtsmajor Scheller den Befehl, die Brücke von Remagen zu sprengen. Das geschah nicht. Mit den Folgen lebt sein Sohn Gert bis heute.

Axel Vogel
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Die Rheinbrücke bei Remagen - kurz bevor sie wegen Überbeanspruchung kollabierte. Auf dem Bild inspizieren amerikanische Genietruppen die Träger. (Bild: Franklin D. Roosevelt Library)

Die Rheinbrücke bei Remagen - kurz bevor sie wegen Überbeanspruchung kollabierte. Auf dem Bild inspizieren amerikanische Genietruppen die Träger. (Bild: Franklin D. Roosevelt Library)

Können ein Bauwerk und seine Geschichte ein Leben prägen? Mit der einstigen Ludendorff-Brücke von Remagen und der Biografie von Gert Scheller verhält es sich so. Wie ein dunkler Schatten liegt über dem 74-Jährigen mit dem kantigen Gesicht ein dramatisches Stück Kriegsgeschichte. Es ereignete sich am 7. März 1945 – und heute noch zeugen die Ruinen und festungsartigen Brückentürme links und rechts des Rheins bei Remagen und Erpel davon. Die Eisenbahnbrücke war 1916 bis 1918 gebaut worden und sollte im Ersten Weltkrieg dem schnellen Aufmarsch deutscher Truppen gegen Frankreich dienen.

Doch erst am Ende des Zweiten Weltkrieges geriet die Ludendorff-Brücke in den Fokus der Kriegsgeschichte: Es war Schellers Vater, Major Hans Scheller, ein hochdekorierter Wehrmachtsoffizier, der den Befehl hatte, die Brücke vor den heranrückenden amerikanischen Truppen zu sprengen – das misslang. Vor allem weil minderwertiger Industriesprengstoff verwendet wurde, wie der Sohn später herausfand, hob sich die 325 Meter lange Brücke damals nur leicht aus den Lagern – und blieb intakt.

Tod durch Genickschuss

Dass die Alliierten die einzige verbliebene Rheinbrücke im Handstreich einnehmen konnten, hatte Konsequenzen für den Kriegsverlauf, aber auch für Familie Scheller. Der Hauptschuldige auf deutscher Seite war schnell ausgemacht: Major Scheller, der den Auftrag erhalten hatte, die Brücke zu verteidigen – und notfalls rechtzeitig zu sprengen. Wegen seines «Versagens», das zum nationalen Ereignis hochgespielt wurde, richtete die Wehrmacht ihn hin. Die Familie des Offiziers inklusive des erst achtmonatigen Sohnes Gert wurde fortan gesellschaftlich geächtet. Um die Geschichte der legendären Brücke mit ihren weitreichenden Folgen wachzuhalten, engagiert sich Scheller seit Jahrzehnten im Verein «Friedensmuseum Brücke von Remagen». Ihm gehören die beiden Türme auf Remagener Seite, die das Museum beherbergen. Doch nun sorgt sich Scheller, der als Unternehmer in Bornheim bei Bonn lebt, um den Fortbestand des Friedensmuseums: Denn der Verein soll aufgelöst werden.

Der Offizier mit den akkurat zurückgekämmten Haaren blickt den Besuchern von der Fotogalerie im Museum ernst entgegen. Die Porträts sind Bestandteil der Ausstellung und zeigen Major Scheller mit vier weiteren Offizieren, die Hitler nach der handstreichartigen Einnahme der Brücke durch die Amerikaner zur Rechenschaft zog. Für Sohn Gert, Vorstandsmitglied im Trägerverein, wirkt der Gesichtsausdruck des Vaters, «als ob er das bevorstehende Unheil für sich und seine Familie geahnt hätte». Dass in dem Museum nicht nur der Brücke und ihrer Eroberung 1945 gedacht wird, sondern auch den individuellen Schicksalen ihrer unglücklichen Verteidiger, ist ihm ein Anliegen.

Eine Brücke in zwei Kriegen

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges, am 15. August 1918, wurde die zweigleisige Eisenbahnbrücke zwischen Remagen und Erpel offiziell in Betrieb genommen. Anlass für den Bau der Brücke, die nach dem faktischen Militärherrscher des Kaiserreiches, Erich Ludendorff, benannt wurde, waren Pläne des Generalstabs eines Aufmarsches in Richtung Westen gewesen. Diesen Zweck erfüllte die Brücke nie. Nach dem Waffenstillstand 1918 gehörten heimkehrende deutsche Soldaten zu den ersten Brückengängern. Und am 7. März 1945 nutzten US-Truppen das nach einer Sprengung unversehrt gebliebene Bauwerk zum Vorstossen ins Ruhrgebiet. 40 Rheinbrücken hatte die Wehrmacht rechtzeitig zerstören können, doch die notdürftig reparierte Ludendorff-Brücke blieb zehn Tage lang intakt. Genug Zeit, damit Tausende von GI und etliche Panzer den Rhein überqueren konnten. In den achtziger Jahren erwarb der Verein «Friedensmuseum Brücke von Remagen» die noch stehenden Brückentürme auf Remagener Seite und richtete dort ein Museum ein. Auf Erpeler Seite sind die Türme im Besitz des Bundeseisenbahnvermögens (BEV) und sollen laut ihrem Sprecher Michael Abels in einem Bieterverfahren veräussert werden. 

Nur 40 Kilometer vom Schicksalsbauwerk entfernt, endete 1945 das Leben des Vaters. An einem Waldrand oberhalb des Dorfes Rimbach im Westerwald fand am 13. März 1945 das Nachspiel jener weltberühmt gewordenen Brückeneroberung statt: Der 32-jährige Hans Scheller und ein weiterer Offizier wurden per Genickschuss hingerichtet. Statt sich den Alliierten zu ergeben, hatte Scheller sich von Remagen zum Hauptquartier des vorgesetzten Generalfeldmarschalls Walter Model durchgeschlagen, der bis zuletzt ein überzeugter Nazi war. «Mein Vater wollte sich rechtfertigen», sagt der Sohn.

Diese Chance bekam er nicht, denn Hitler witterte Verrat. Scheller landete vor dem «Fliegenden Standgericht West» der Wehrmacht, das ihn wegen Verletzung der Dienstpflicht und Feigheit vor dem Feind zum Tod verurteilte. Die Leichen der Hingerichteten verwesten laut Zeitzeugen an Ort und Stelle, erst später bekamen sie ein Grab in der Nähe von Rimbach. Zwei weitere Offiziere wurden im Nachbarort erschossen. Der fünfte Angeklagte, Hauptmann Wilhelm Bratge, der Kampfkommandant von Remagen, ergab sich den Amerikanern.

Ächtung über den Krieg hinaus

Wie lebte es sich als Angehöriger eines wegen «Feigheit» hingerichteten Offiziers? Man merkt es Scheller an, das Erlebte belastet ihn bis heute. «Meine Familie musste sich gegen Ende des Krieges in einem Alltag zurechtfinden, der unverändert von nationalsozialistischem Gedankengut und Führerkult durchdrungen war.» Nachhaltig wirkte, «dass fast jeder im Dritten Reich das Urteil des Fliegenden Standgerichtes im Radio mitbekommen hatte».

Es war ein gesellschaftlicher Reflex: Lisel Scheller und die Kinder wurden in eine unausgesprochene Sippenhaftung genommen. Gert Scheller machte sich später einen Reim darauf: «Alle wollten damals noch den Krieg gewinnen und blendeten wider besseres Wissen aus, welche Schweinereien das NS-Regime beging.» Das ging so weit, dass der schwangeren Lisel, die mit dem acht Monate alten Sohn Gert und der älteren Schwester in Landshut lebte, der Zutritt zum Luftschutzbunker verwehrt wurde. Die Familie fürchtete, ins Konzentrationslager zu kommen. Auch der Untergang des «Dritten Reiches» im Mai 1945 beendete die Ächtung nicht.

Der Fall der Familie war tief. Der Berufsoffizier Hans Scheller hatte zur Kölner Gesellschaft gehört. Seine Frau Lisel entstammte der Familie des Kölner Schokoladenfabrikanten Ludwig Stollwerck. Doch mit dem Ansehen war es nach der Hinrichtung des Vaters jäh vorbei: «Meine Mutter wurde aus allen gesellschaftlichen Kreisen verbannt.» Professor Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, kennt dieses Verhaltensmuster. Offiziere, die sich gegen Hitler wandten oder sich weigerten, in den letzten Kriegswochen sinnlose Befehle auszuführen, aber auch Soldaten, die wegen verbrecherischer Befehle desertierten – sie alle galten noch lange nach 1945 als «Verräter». So stark sei die Identifikation der Deutschen mit dem Nationalsozialismus gewesen.

Rehabilitation nach 22 Jahren

Aus blanker Not kehrte Familie Scheller nach Köln zurück. Zu Hause wurde das Thema totgeschwiegen. Mutter und Sohn vereinte jedoch der Glaube daran, dass der Vater zu Unrecht bestraft worden sei. Ein Besuch beim ehemaligen Wehrmachtsgeneral Otto Maximilian Hitzfeld bestärkte Gert Scheller 1959 darin. Es war Hitzfeld gewesen, der seinem Adjutanten Hans Scheller im März 1945 den Auftrag gegeben hatte, die Brücke von Remagen für die zurückflutenden deutsche Verbände möglichst lange offen zu halten. «Mit Landkarten erklärte er, wie die Situation in Remagen damals aussah», erinnert sich Gert Scheller. «Aussichtslos!»

Wissenschaftlich ist längst belegt, dass Schellers Vater dann aber rechtzeitig vor der Ankunft amerikanischer Truppen vergeblich versuchte, die Brücke zu sprengen. So blieb das Bauwerk zehn Tage lang intakt, was die erstaunten Amerikaner sofort zur Überquerung mit Kampftruppen nutzten. Die Ludendorff-Brücke überstand in der Folge etliche Zerstörungsversuche der Wehrmacht, bei denen «Wunderwaffen» wie die V2-Raketen und Düsenstrahlbomber zum Einsatz kamen. Erst am 17. März stürzte sie ein, vermutlich aus Überlastung.

Es sollte 22 Jahre dauern, bis sich die Familie Scheller einen Revisionsprozess erkämpft hatte. Am 2. Februar 1967 hob ein Gericht in Landshut das Urteil des Fliegenden Standgerichtes auf: Gert Scheller, damals Bundeswehrsoldat, sass mit der Mutter und dem Bruder im Gerichtssaal. Massgeblich waren die Zeugenaussagen von 1945 in Remagen beteiligten Offizieren. Laut Scheller junior habe der Landshuter Richter daraufhin klargestellt, «dass mein Vater nach der 1945 gültigen Militärgerichtsbarkeit nicht hätte verurteilt werden dürfen. Das war reine Willkür.»

Individuelle Vergangenheitsbewältigung

Die beste Möglichkeit, fortan Verunglimpfungen gegen den Vater entgegenzutreten, bot Scheller die Erinnerungsarbeit. 1981 gründete der damalige Bürgermeister Hans Peter Kürten das Friedensmuseum in den trutzigen Brückentürmen. Für Scheller war die Mitarbeit ein Segen: «Dort erfuhr man oft als Erster, wenn es etwas Neues zu dem Thema gab.» Und folglich auch, wenn der Vater wieder kompromittiert wurde. Gegen den Autor eines Buches ging der Sohn anwaltlich vor: «Der Autor hatte unkommentiert die menschenverachtende Beschreibung eines Richters des Fliegenden Standgerichtes übernommen, der detailreich schilderte, wie angstvoll mein Vater vor dem Tribunal gestanden sein soll.»

Die Ausstellung wurde ein Publikumsmagnet. Rund 20 000 Besucher kommen jedes Jahr. Die beabsichtigte Überführung des Museums in den Besitz der Stadt hält Scheller denn auch für einen Fehler. Doch er hat bereits ein weiteres Projekt im Auge: Am andern Ufer, in einem Eisenbahntunnel tief im Basaltmassiv der Erpeler Ley inszeniert ein Theaterverein seit Jahren die Brückeneroberung. Scheller möchte am liebsten auf beiden Seiten der Brücke daran erinnern, dass die misslungene Brückensprengung am Ende ein Segen für seine Heimat war: «Wenn der Krieg noch lange gedauert hätte, wäre möglicherweise die erste Atombombe über Deutschland zum Einsatz gekommen.» War dann sein Vater am Ende ein Held? Scheller legt die Stirn in Falten: «Sicherlich nicht. Er war eine tragische Person, die nach damaligem soldatischem Verständnis glaubte, ihre Pflicht tun zu müssen – und sie auch tat.»