Es greift zu kurz, den Aufstieg des Nationalsozialismus auf die Revolutionsangst des Bürgertums zurückzuführen. Aber es gab in weiten Kreisen eine unheilvolle Verbindung von Antikommunismus und Antisemitismus.
Anfang November 1918, kurz nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches, hatte der erst 16-jährige Kadett Ernst von Salomon in Berlin seine erste Begegnung mit den «Kräften der Unordnung», die das Schicksal der Monarchie endgültig besiegelten: «Der (roten) Fahne nach wälzten sich müde Haufen, regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen . . . Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen, zermürbten Gesichtern . . . So zogen sie, die Streiter der Revolution . . . Unmöglich, vor denen da zu kapitulieren . . . Ich steifte mich und dachte ‹Kanaille› und ‹Pack› und ‹Mob› und kniff die Augen zusammen und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten; wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf ihren Rücken tragen . . .» In seiner stilisierten Erinnerungsschrift «Die Geächteten» bezeichnete er den Anblick der Menschenmenge als «Erweckungserlebnis».
ahn. · 1918 endete nicht nur der Erste Weltkrieg. Es war auch ein Jahr der Umbrüche, Zäsuren und Krisen. In Russland begann nach der Machtergreifung der Bolschewisten der gewaltsame Umbau des Riesenreiches. Das Deutsche Kaiserreich versank in revolutionären Wirren, und mit der Weimarer Republik startete Deutschland sein Experiment mit der Demokratie. Weiter östlich zerfielen die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich – sie machten mehrheitlich Nationalstaaten Platz.
Eine neue Zeit brach auch in Ostasien an, wo sich Japan als imperialistische Macht etablierte. Im Westen dagegen scheiterte der erste Anlauf der USA, sich als globale Ordnungsmacht zu etablieren. Dass die Welt in Europa 1918 plötzlich so anders aussah, hängt aber nicht nur mit dem Krieg zusammen, dieser «Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts» (George F. Kennan).
Die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels hatte schon zuvor eingesetzt: Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt, Massenkonsum, Urbanisierung, Arbeiterbewegung, Feminismus und auch die Psychoanalyse führten schon in den Vorkriegsgesellschaften zu einer Infragestellung der etablierten Ordnung. Freilich drückte der Krieg den verschiedenen Modernisierungsprozessen seinen Stempel auf, indem er sie teils beschleunigte, teils bremste oder auch pervertierte. In den kommenden Wochen wird eine lose Folge von Artikeln das Schicksalsjahr 1918 zum Ausgangspunkt nehmen. Der Schwerpunkt liegt auf den geostrategischen Veränderungen der Nachkriegszeit. Daneben werden auch die politischen und sozialen Innovationen jener Jahre zur Sprache kommen.
1922 beteiligte sich der rechtsradikale Spross einer Adelsfamilie an der Ermordung des jüdischen Aussenministers Walther Rathenau. Auch wenn die grosse Mehrheit der deutschen Revolutionäre von 1918 keineswegs Anhänger Lenins waren, sollte die vermeintliche Wahrnehmung einer bolschewistischen Bedrohung Europas eine zentrale Rolle beim Aufstieg des Faschismus spielen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien. Das lag in erster Linie an den politischen Entwicklungen in Russland, wo der Erste Weltkrieg zu massiven sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen geführt hatte.
1917 wurde zuerst das autokratische Regime des Zaren durch Massendemonstrationen in die Knie gezwungen. Die darauf eingesetzte demokratische provisorische Regierung war dann im Herbst 1917 von Lenins kleiner, aber entschlossener Bewegung der Bolschewiki hinweggefegt worden. Der Triumph des Bolschewismus sollte die Menschen weit über Russlands Grenzen hinaus mobilisieren, sei es als leuchtendes Fanal einer Revolution, die es in alle Welt zu exportieren galt, oder als Horrorszenario einer «Diktatur der Unterschichten», die es zu vereiteln galt.
Das Motiv einer allgegenwärtigen revolutionären Bedrohung, auf die notfalls mit Gewalt zu reagieren sei, entstand nicht erst 1918. Sie war ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert fest etabliert. In Reaktion auf die Französische Revolution von 1789 entwickelten ihre konservativen Gegner die Vorstellung einer permanenten Bedrohung: Urbane Unterschichten lehnten sich gegen die bourgeoisen Vorstellungen von Klasse, Eigentum und Geschlechterordnung auf. In Deutschland verkörperte vor 1918 die SPD die scheinbare Revolutionsgefahr. Allerdings wurde die SPD trotz wachsenden Wahlerfolgen immer weniger als Bedrohung wahrgenommen, auch wenn sie – zumindest theoretisch – den revolutionären Sturz des Kapitalismus und der politischen Strukturen zum Ziel hatte.
In Wirklichkeit setzte die SPD-Führung seit der Jahrhundertwende auf Reformen und stützte 1914 das Regime des Kaisers durch die Bewilligung der Kriegskredite. Dieser Krieg aber war es, der Revolutionen wie die in Russland 1917 oder jene in Mitteleuropa 1918 erst ermöglichte. Gerade die russische Revolution führte dazu, dass auch in anderen Ländern die Gefahr einer bolschewistischen Machtübernahme so akut wie nie erschien. Seit Lenin in Russland herrschte, erhob erstmals seit Napoleon Bonaparte wieder ein Regime den Anspruch, den Siegeszug der Revolution auf die übrige Welt auszudehnen.
Das geschah auch mithilfe der neu gegründeten, von Moskau sanktionierten kommunistischen Parteien in vielen europäischen Ländern. Nach vier Jahren Krieg waren viele Menschen offen für radikale politische Konzepte. Hinzu kam die Furcht vor Bürgerkriegen, die ebenfalls durch die Entwicklung in Russland angefacht wurde. Im Sommer 1918 machte die brutale Exekution des ehemaligen Zaren Nikolaus II. und seiner Familie in Jekaterinburg weltweit Schlagzeilen.
Die Spannung stieg, als sich am 1. November 1918 die Nachricht verbreitete, ungarische Revolutionäre hätten den liberal-konservativen Ministerpräsidenten der Kriegsregierung, Graf Tisza, getötet. Die Gefahr einer Ausbreitung von Gewalt und Revolution nach Westen schien noch realer. Dies gilt besonders für Länder, die wie Deutschland den Krieg verloren hatten, oder jene wie Italien, die zwar zu den Siegermächten gehörten, aber den Eindruck gewannen, bei den Friedensverhandlungen nicht ausreichend für die Opfer des Krieges kompensiert worden zu sein. Gewaltsame Landnahmen und eine militante Linke in Italien taten ein Übriges, um es Mussolini zu erleichtern, sich als Retter vor dem Bolschewismus zu inszenieren.
Anders als der Antikommunismus der Jahre vor 1917, der sich gegen die marxistisch-leninistische Theorie richtete, hatte der «Antibolschewismus» der politischen Rechten von Anfang an eine dezidiert rassistische Komponente und wandte sich gegen den vermeintlich «asiatischen Charakter» der Herrschaft Lenins. «Bolschewismus» stand für die Negierung aller Werte europäisch-westlicher Kultur, für das «Chaos des Ostens». Die Deutung des Bolschewismus als Ursache von Hunger, Krankheiten und Krieg wurde in Deutschland aufwendig verbreitet durch Filme wie «Sowjetrussland und die Hungerkatastrophe» (1921) oder den zeitgleich erschienenen Spielfilm «Der Todesreigen», ein Drama über die Zerstörung des Klassensystems und den Ruin der russischen Wirtschaft, das von weissrussischen Emigranten in Leipzig gedreht worden war.
Auch Plakate wurden propagandistisch eingesetzt, um den Bolschewismus mit Metaphern von Tod oder Kriminalität zu besetzen. In den Augen der Rechten wurde die Gefahr einer nach Deutschland überschwappenden «Weltrevolution» von niemandem mehr verkörpert als von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Letzterer hatte 1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt und war 1916 wegen einer Antikriegsrede auf dem Potsdamer Platz verhaftet worden. Als Liebknecht drei Wochen vor Kriegsende aus dem Gefängnis entlassen wurde, beflügelte er auch deshalb die Phantasien bürgerlich-konservativer Eliten in Deutschland, weil er eine Vielzahl von «Gefahren» verkörperte.
Er war angeblich Jude (was nicht stimmte), vertrat die Interessen des städtischen Proletariats und war ein kürzlich aus der Haft entlassener «Krimineller». Liebknecht tat wenig, um seinen Gegnern ihre Angst zu nehmen. Im Gegenteil: Nur Stunden nach seiner Haftentlassung führte er in Berlin eine Demonstration von sozialistischen Kriegsgegnern an. Sie endete vor der russischen Botschaft, wo die bolschewistischen Gesandten einen Empfang zur Feier seiner Freilassung gaben. Dies wurde von konservativen Kreisen umgehend als Beleg für Liebknechts Ambitionen ausgelegt, Deutschland nach russischem Beispiel revolutionieren zu wollen.
Als Liebknecht und Luxemburg nach dem gescheiterten «Spartakusaufstand» vom Januar 1919 verhaftet und von Freikorpssoldaten brutal ermordet wurden, feierte die extreme Rechte den Tod der «galizischen Hure» Luxemburg und zeigte so die enge Verzahnung von Antibolschewismus und Antisemitismus auf. Die gängige Assoziation von «Revolution» mit «Judentum» war nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Ländern Europas und den USA weit verbreitet. Der hohe Anteil von Juden in verschiedenen Parteien der Linken hatte zunächst in Russland dazu geführt, die Juden mit der Revolution in Verbindung zu bringen. Es dauerte nicht lange, bis sich der Mythos vom «jüdischen Bolschewismus» über die Grenzen Russlands hinaus verbreitete.
Die Tatsache, dass Juden eine herausragende Rolle in den mitteleuropäischen Revolutionen von 1918/19 spielte – Luxemburg in Berlin, Kurt Eisner in Bayern, Victor Adler in Wien, Béla Kun in Ungarn –, liess solche Vorwürfe selbst für Beobachter aus westlichen Ländern plausibel erscheinen. Antisemitische Verschwörungstheorien wurden durch die «Protokolle der Weisen von Zion» zusätzlich verbreitet. Sie waren eine Erfindung der zaristischen Polizei aus der Vorkriegszeit und wurden ab 1919 in westeuropäische Sprachen übersetzt. Die 1921 erfolgte Enthüllung, dass es sich um eine Fälschung handelte, änderte nichts an ihrem enormen Einfluss. Doch die unheilvolle Verknüpfung von Antisemitismus und Antibolschewismus zeitigte unter verschiedenen europäischen Rahmenbedingungen sehr unterschiedliche Ergebnisse.
In den Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs blieb sie, obwohl weit verbreitet, weitgehend gewaltfrei. Östlich der Elbe hingegen führte der «Anti-Judäo-Bolschewismus» zu Pogromen und Massenmorden an Juden, die ein grausames Merkmal europäischer Geschichte von 1918 bis 1945 werden sollten. In den imperialen Verwerfungszonen Ost- und Mitteleuropas lastete man den Juden die militärische Niederlage von 1918 ebenso an wie die nachfolgenden Revolutionen. Freilich wäre es unsinnig, die Geburt des militanten Rechtsextremismus oder gar des Nationalsozialismus allein als Reaktion auf den Bolschewismus zu deuten, wie es Ernst Nolte 1986 als Teil seiner These vom «kausalen Nexus» tat.
Der damit ausgelöste, emotional geführte «Historikerstreit» verbaute allerdings eine nüchterne Auseinandersetzung mit der schwer bestreitbaren dialektischen Beziehung zwischen den beiden Ideologien – zwei Ideologien, die unterschiedliche, radikale Antworten auf den Ersten Weltkrieg waren, ohne den weder Lenin noch Mussolini oder Hitler jemals an die Macht gelangt wären. Im Falle Hitlers allerdings bedurfte es einer weiteren Katastrophe – der Weltwirtschaftskrise ab 1929 –, um aus der kleinen NSDAP eine Massenpartei werden zu lassen.
Noch 1923, als er durch seinen Marsch auf die Feldherrnhalle seine «nationale Revolution» einzuleiten hoffte, scheiterte Hitler kläglich. Erst die einsetzende Massenarbeitslosigkeit und die Furcht vor sozialem Abstieg nach 1929, gekoppelt mit dem neuerlichen Erstarken der extremen Linken und einer weit verbreiteten Demokratiemüdigkeit, bereiteten den Boden für Hitlers Wahlerfolge. Dabei blieben Antibolschewismus und Antisemitismus die grossen Kontinuitäten in Hitlers Weltbild, wie es sich erst in den Jahren nach 1918 vollständig ausgeprägt hatte. Der Krieg, den Hitler ab 1941 gegen den «Judäo-Bolschewismus» führte, war in diesem Denken angelegt und sollte Europa in den Abgrund stürzen.
Robert Gerwarth ist Professor für Neueste Geschichte am University College Dublin. Sein neues Buch, «Die grösste aller Revolutionen: November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit», erscheint am kommenden Montag bei Siedler.