Eine Verteidigungsstellung der revolutionären Arbeiter und Soldaten im Berliner Zeitungsviertel («Spartakusaufstand» 1919). (Bild: Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo)

Eine Verteidigungsstellung der revolutionären Arbeiter und Soldaten im Berliner Zeitungsviertel («Spartakusaufstand» 1919). (Bild: Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo)

1918: Welche Rolle die vermeintliche bolschewistische Bedrohung Europas beim Aufstieg des Faschismus spielte

Es greift zu kurz, den Aufstieg des Nationalsozialismus auf die Revolutionsangst des Bürgertums zurückzuführen. Aber es gab in weiten Kreisen eine unheilvolle Verbindung von Antikommunismus und Antisemitismus.

Robert Gerwarth
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Anfang November 1918, kurz nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches, hatte der erst 16-jährige Kadett Ernst von Salomon in Berlin seine erste Begegnung mit den «Kräften der Unordnung», die das Schicksal der Monarchie endgültig besiegelten: «Der (roten) Fahne nach wälzten sich müde Haufen, regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen . . . Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen, zermürbten Gesichtern . . . So zogen sie, die Streiter der Revolution . . . Unmöglich, vor denen da zu kapitulieren . . . Ich steifte mich und dachte ‹Kanaille› und ‹Pack› und ‹Mob› und kniff die Augen zusammen und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten; wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf ihren Rücken tragen . . .» In seiner stilisierten Erinnerungsschrift «Die Geächteten» bezeichnete er den Anblick der Menschenmenge als «Erweckungserlebnis».

Weichenstellungen für ein Jahrhundert

ahn. · 1918 endete nicht nur der Erste Weltkrieg. Es war auch ein Jahr der Umbrüche, Zäsuren und Krisen. In Russland begann nach der Machtergreifung der Bolschewisten der gewaltsame Umbau des Riesenreiches. Das Deutsche Kaiserreich versank in revolutionären Wirren, und mit der Weimarer Republik startete Deutschland sein Experiment mit der Demokratie. Weiter östlich zerfielen die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich – sie machten mehrheitlich Nationalstaaten Platz.

Eine neue Zeit brach auch in Ostasien an, wo sich Japan als imperialistische Macht etablierte. Im Westen dagegen scheiterte der erste Anlauf der USA, sich als globale Ordnungsmacht zu etablieren. Dass die Welt in Europa 1918 plötzlich so anders aussah, hängt aber nicht nur mit dem Krieg zusammen, dieser «Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts» (George F. Kennan).

Die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels hatte schon zuvor eingesetzt: Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt, Massenkonsum, Urbanisierung, Arbeiterbewegung, Feminismus und auch die Psychoanalyse führten schon in den Vorkriegsgesellschaften zu einer Infragestellung der etablierten Ordnung. Freilich drückte der Krieg den verschiedenen Modernisierungsprozessen seinen Stempel auf, indem er sie teils beschleunigte, teils bremste oder auch pervertierte. In den kommenden Wochen wird eine lose Folge von Artikeln das Schicksalsjahr 1918 zum Ausgangspunkt nehmen. Der Schwerpunkt liegt auf den geostrategischen Veränderungen der Nachkriegszeit. Daneben werden auch die politischen und sozialen Innovationen jener Jahre zur Sprache kommen.

1922 beteiligte sich der rechtsradikale Spross einer Adelsfamilie an der Ermordung des jüdischen Aussenministers Walther Rathenau. Auch wenn die grosse Mehrheit der deutschen Revolutionäre von 1918 keineswegs Anhänger Lenins waren, sollte die vermeintliche Wahrnehmung einer bolschewistischen Bedrohung Europas eine zentrale Rolle beim Aufstieg des Faschismus spielen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien. Das lag in erster Linie an den politischen Entwicklungen in Russland, wo der Erste Weltkrieg zu massiven sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen geführt hatte.

1917 wurde zuerst das autokratische Regime des Zaren durch Massendemonstrationen in die Knie gezwungen. Die darauf eingesetzte demokratische provisorische Regierung war dann im Herbst 1917 von Lenins kleiner, aber entschlossener Bewegung der Bolschewiki hinweggefegt worden. Der Triumph des Bolschewismus sollte die Menschen weit über Russlands Grenzen hinaus mobilisieren, sei es als leuchtendes Fanal einer Revolution, die es in alle Welt zu exportieren galt, oder als Horrorszenario einer «Diktatur der Unterschichten», die es zu vereiteln galt.

Angst vor der Revolution

Das Motiv einer allgegenwärtigen revolutionären Bedrohung, auf die notfalls mit Gewalt zu reagieren sei, entstand nicht erst 1918. Sie war ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert fest etabliert. In Reaktion auf die Französische Revolution von 1789 entwickelten ihre konservativen Gegner die Vorstellung einer permanenten Bedrohung: Urbane Unterschichten lehnten sich gegen die bourgeoisen Vorstellungen von Klasse, Eigentum und Geschlechterordnung auf. In Deutschland verkörperte vor 1918 die SPD die scheinbare Revolutionsgefahr. Allerdings wurde die SPD trotz wachsenden Wahlerfolgen immer weniger als Bedrohung wahrgenommen, auch wenn sie – zumindest theoretisch – den revolutionären Sturz des Kapitalismus und der politischen Strukturen zum Ziel hatte.

In Wirklichkeit setzte die SPD-Führung seit der Jahrhundertwende auf Reformen und stützte 1914 das Regime des Kaisers durch die Bewilligung der Kriegskredite. Dieser Krieg aber war es, der Revolutionen wie die in Russland 1917 oder jene in Mitteleuropa 1918 erst ermöglichte. Gerade die russische Revolution führte dazu, dass auch in anderen Ländern die Gefahr einer bolschewistischen Machtübernahme so akut wie nie erschien. Seit Lenin in Russland herrschte, erhob erstmals seit Napoleon Bonaparte wieder ein Regime den Anspruch, den Siegeszug der Revolution auf die übrige Welt auszudehnen.

Zehntausende Sozialdemokraten protestieren am Ende des Krieges gegen die Revolutionsversuche der extremen Linken und der extremen Rechten. (Bild: PD)

Zehntausende Sozialdemokraten protestieren am Ende des Krieges gegen die Revolutionsversuche der extremen Linken und der extremen Rechten. (Bild: PD)

Das geschah auch mithilfe der neu gegründeten, von Moskau sanktionierten kommunistischen Parteien in vielen europäischen Ländern. Nach vier Jahren Krieg waren viele Menschen offen für radikale politische Konzepte. Hinzu kam die Furcht vor Bürgerkriegen, die ebenfalls durch die Entwicklung in Russland angefacht wurde. Im Sommer 1918 machte die brutale Exekution des ehemaligen Zaren Nikolaus II. und seiner Familie in Jekaterinburg weltweit Schlagzeilen.

Die Spannung stieg, als sich am 1. November 1918 die Nachricht verbreitete, ungarische Revolutionäre hätten den liberal-konservativen Ministerpräsidenten der Kriegsregierung, Graf Tisza, getötet. Die Gefahr einer Ausbreitung von Gewalt und Revolution nach Westen schien noch realer. Dies gilt besonders für Länder, die wie Deutschland den Krieg verloren hatten, oder jene wie Italien, die zwar zu den Siegermächten gehörten, aber den Eindruck gewannen, bei den Friedensverhandlungen nicht ausreichend für die Opfer des Krieges kompensiert worden zu sein. Gewaltsame Landnahmen und eine militante Linke in Italien taten ein Übriges, um es Mussolini zu erleichtern, sich als Retter vor dem Bolschewismus zu inszenieren.

Gegen «Judeo-Bolschewismus»

Anders als der Antikommunismus der Jahre vor 1917, der sich gegen die marxistisch-leninistische Theorie richtete, hatte der «Antibolschewismus» der politischen Rechten von Anfang an eine dezidiert rassistische Komponente und wandte sich gegen den vermeintlich «asiatischen Charakter» der Herrschaft Lenins. «Bolschewismus» stand für die Negierung aller Werte europäisch-westlicher Kultur, für das «Chaos des Ostens». Die Deutung des Bolschewismus als Ursache von Hunger, Krankheiten und Krieg wurde in Deutschland aufwendig verbreitet durch Filme wie «Sowjetrussland und die Hungerkatastrophe» (1921) oder den zeitgleich erschienenen Spielfilm «Der Todesreigen», ein Drama über die Zerstörung des Klassensystems und den Ruin der russischen Wirtschaft, das von weissrussischen Emigranten in Leipzig gedreht worden war.

1918 endete nicht nur der Erste Weltkrieg. Es war auch ein Jahr der Umbrüche, Zäsuren und Krisen. Davon geben die folgenden Bilder einen Eindruck. Das deutsche Kaiserreich hatte den Ersten Weltkrieg verloren. Am 9. November rief der sozialdemokratische Politiker Philipp Scheidemann am Reichstag in Berlin die Republik aus: «Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen, der Militarismus ist erledigt!» (Bild: Hulton / Getty)
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Die revolutionären Arbeiter und Soldaten wollten keine parlamentarische Demokratie, sondern eine Räterepublik nach russischem Vorbild. Im «Spartakusaufstand» im Januar 1919 wurden sie von regierungstreuen Truppen (hier in der Charlottenstrasse) militärisch besiegt. (Bild: Imago)
Spartakisten haben hinter Papierrollen und Zeitungsbündeln Stellung genommen. Das Bild stammt aus dem Berliner Zeitungsviertel. (Bild: Imago)
Niederlage im November 1918: von der britischen Marine gekaperte deutsche U-Boote. (Bild: J. J. Lambe / Topical Press Agency / Getty)
Kinder bei der Suppenausgabe im Dezember 1918. (Bild: Hulton Archive / Getty)
Im März 1920 unternahmen reaktionäre Kräfte um General von Lüttwitz und Wolfgang Kapp einen Putsch. Sie versuchten die Weimarer Republik zu stürzen. Ein Generalstreik zwang sie zum Aufgeben. Jetzt war klar, dass die Republik von rechts mindestens so heftig wie von links angefeindet wurde. (Bild: Imago)
Als Frau, Sozialistin und Jüdin war Rosa Luxemburg (1870–1919) das Feindbild par excellence für die Rechte. Nach dem gescheiterten Spartakusaufstand wurde sie am 15. Januar 1919 stundenlang verhört, dann bewusstlos geschlagen, erschossen und in den Landwehrkanal geworfen. Die Leiche wurde erst am 31. Mai 1919 gefunden. (Bild: Henry Guttmann / Getty)
Die industrielle und militärische Macht der USA brachte mit dem Kriegseintritt die Wende. Vorbeimarsch von Infanteristen zirka 1917. (Bild: Henry Guttmann / Getty)
Die totale amerikanische Mobilisierung hatte zur Folge, dass auch Frauen Militärdienst leisteten. Das führte zu einem neuen Rollenverständnis und veränderte das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. (Bild: Topical Press Agency / Hulton Archive / Getty)
Der Krieg brachte in kurzer Zeit eine grosse Zahl von Frauen aus dem Haushalt in die Produktion. Hier zwei Amerikanerinnen beim Schweissen in einer Munitionsfabrik. (Bild: Imago)
Woodrow Wilson (r.), dem idealistischen amerikanischen Präsidenten, schwebte eine Nachkriegsordnung vor, die auf Ausgleich, Freihandel, Verzicht auf Annexionen gestützt sein sollte. Anders sahen das die Regierungschefs Grossbritanniens, David Lloyd George (l.), Italiens, Vittorio Emanuele Orlando (2. v. l.), und vor allem Frankreichs, Georges Clemenceau (2. v. r.). Der harte Diktatfriede von Versailles 1919 trug den Keim neuer Konflikte in sich. (Bild: Imago)
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte einen Emanzipationsschub für viele Frauen in Europa. Sie erhielten das Wahlrecht (z. B. in Deutschland, Österreich, Polen, Russland). In Frankreich – hier zwei Pariserinnen 1926 – erfolgte dies erst 1944. (Bild: Seeberger Frères / General Photographic Agency / Getty)
Körperbetonende Kleidung, das Steuern von Motorfahrzeugen, Sport, Rauchen waren Ausdruck eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins. Entscheidend blieb aber weiterhin, zu welcher sozialen Klasse Frauen gehörten (Grossbritannien, zirka 1920). (Bild: Hulton Archive / Getty)
Das Frauenstimmrecht war nicht einfach eine Folge der Mobilisierung weiblicher Kräfte im Krieg. Schon zuvor hatten «Suffragetten» dafür gekämpft. Hier eine Demonstration 1913 auf dem Weg zum Londoner Hyde Park. (Bild: Imago)
Mit der Integration in den Arbeitsprozess war auch eine stärkere Politisierung der Frauen verbunden. Hier eine britische Gewerkschaftszeitschrift, welche die Nominierung von «Miss McArthur» für das Unterhaus meldet und Bilder eines Arbeitskampfes publiziert. (Bild: Imago)
Die Niederlage der Deutschen besiegelte auch das Ende des verbündeten Osmanischen Reiches. Ab November 1918 besetzten die Siegermächte einen Grossteil des Reiches. Mehmed VI. ging auf alle Forderungen der Siegermächte ein. Doch die Widerstandsbewegung unter General Mustafa Kemal Pascha befreite das Land (rechts im Bild – Kemal wurde später Atatürk genannt, d. h. Vater der Türken). (Bild: Hulton Archive / Getty)
Das multiethnische Osmanische Reich zerfiel, und die Türkei begann sich zunehmend als Nationalstaat zu verstehen – nach den Massenmorden an Armeniern 1915 erfolgte 1923 ein Bevölkerungsaustausch mit Griechenland. Auf dem Bild feiern Türken die Wiedereroberung von Smyrna (Izmir) 1922. (Bild: Price / Topical Press Agency / Getty)
Sigmund Freud (1856–1939), einer der Gründungsväter der Psychoanalyse, hat das westliche Menschenbild vor und nach dem Weltkrieg stark geprägt. Die Bedeutung der Subjektivität (Gefühle, Konflikte), die neu definierte Rolle der Sexualität, aber auch seine Religionskritik waren Teil einer Kulturrevolution. (Bild: Imago)
Wien (hier um 1920) war die prächtige Hauptstadt eines riesigen Vielvölkerstaates. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns wirkte sie wie ein Wasserkopf am östlichen Ende des geschrumpften Landes. (Bild: Hulton Archive / Getty)
Die Friedensverträge von 1919 und 1920 begründeten neue Staaten auf dem Gebiet des untergegangenen Kaiserreichs: Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei sowie das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien). Grosse Gebiete mussten u. a. an Italien, Serbien und Rumänien abgetreten werden. Im Bild die Königshochzeit in Belgrad 1923. (Bild: Imago)
In Ostasien trieb der Krieg die Modernisierung der japanischen Armee voran. In der darauf folgenden Zwischenkriegszeit wurde der expansive Imperialismus von Kaiser Taisho (Bildmitte) Schritt um Schritt umgesetzt (zirka 1912). (Bild: Imago)

1918 endete nicht nur der Erste Weltkrieg. Es war auch ein Jahr der Umbrüche, Zäsuren und Krisen. Davon geben die folgenden Bilder einen Eindruck.
Das deutsche Kaiserreich hatte den Ersten Weltkrieg verloren. Am 9. November rief der sozialdemokratische Politiker Philipp Scheidemann am Reichstag in Berlin die Republik aus: «Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen, der Militarismus ist erledigt!» (Bild: Hulton / Getty)

Auch Plakate wurden propagandistisch eingesetzt, um den Bolschewismus mit Metaphern von Tod oder Kriminalität zu besetzen. In den Augen der Rechten wurde die Gefahr einer nach Deutschland überschwappenden «Weltrevolution» von niemandem mehr verkörpert als von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Letzterer hatte 1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt und war 1916 wegen einer Antikriegsrede auf dem Potsdamer Platz verhaftet worden. Als Liebknecht drei Wochen vor Kriegsende aus dem Gefängnis entlassen wurde, beflügelte er auch deshalb die Phantasien bürgerlich-konservativer Eliten in Deutschland, weil er eine Vielzahl von «Gefahren» verkörperte.

Er war angeblich Jude (was nicht stimmte), vertrat die Interessen des städtischen Proletariats und war ein kürzlich aus der Haft entlassener «Krimineller». Liebknecht tat wenig, um seinen Gegnern ihre Angst zu nehmen. Im Gegenteil: Nur Stunden nach seiner Haftentlassung führte er in Berlin eine Demonstration von sozialistischen Kriegsgegnern an. Sie endete vor der russischen Botschaft, wo die bolschewistischen Gesandten einen Empfang zur Feier seiner Freilassung gaben. Dies wurde von konservativen Kreisen umgehend als Beleg für Liebknechts Ambitionen ausgelegt, Deutschland nach russischem Beispiel revolutionieren zu wollen.

Die radikale Rechte wird stark

Als Liebknecht und Luxemburg nach dem gescheiterten «Spartakusaufstand» vom Januar 1919 verhaftet und von Freikorpssoldaten brutal ermordet wurden, feierte die extreme Rechte den Tod der «galizischen Hure» Luxemburg und zeigte so die enge Verzahnung von Antibolschewismus und Antisemitismus auf. Die gängige Assoziation von «Revolution» mit «Judentum» war nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Ländern Europas und den USA weit verbreitet. Der hohe Anteil von Juden in verschiedenen Parteien der Linken hatte zunächst in Russland dazu geführt, die Juden mit der Revolution in Verbindung zu bringen. Es dauerte nicht lange, bis sich der Mythos vom «jüdischen Bolschewismus» über die Grenzen Russlands hinaus verbreitete.

Rosa Luxemburg (1871-1919) war das Feindbild der Rechten par excellence: Sozialistin, Jüdin und Frau. Sie wurde zusammen mit Karl Liebknecht am 15. Januar in Berlin von Freikorpssoldaten ermordet. (Bild: Bundesarchiv)


Rosa Luxemburg (1871-1919) war das Feindbild der Rechten par excellence: Sozialistin, Jüdin und Frau. Sie wurde zusammen mit Karl Liebknecht am 15. Januar in Berlin von Freikorpssoldaten ermordet. (Bild: Bundesarchiv)

Die Tatsache, dass Juden eine herausragende Rolle in den mitteleuropäischen Revolutionen von 1918/19 spielte – Luxemburg in Berlin, Kurt Eisner in Bayern, Victor Adler in Wien, Béla Kun in Ungarn –, liess solche Vorwürfe selbst für Beobachter aus westlichen Ländern plausibel erscheinen. Antisemitische Verschwörungstheorien wurden durch die «Protokolle der Weisen von Zion» zusätzlich verbreitet. Sie waren eine Erfindung der zaristischen Polizei aus der Vorkriegszeit und wurden ab 1919 in westeuropäische Sprachen übersetzt. Die 1921 erfolgte Enthüllung, dass es sich um eine Fälschung handelte, änderte nichts an ihrem enormen Einfluss. Doch die unheilvolle Verknüpfung von Antisemitismus und Antibolschewismus zeitigte unter verschiedenen europäischen Rahmenbedingungen sehr unterschiedliche Ergebnisse.

In den Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs blieb sie, obwohl weit verbreitet, weitgehend gewaltfrei. Östlich der Elbe hingegen führte der «Anti-Judäo-Bolschewismus» zu Pogromen und Massenmorden an Juden, die ein grausames Merkmal europäischer Geschichte von 1918 bis 1945 werden sollten. In den imperialen Verwerfungszonen Ost- und Mitteleuropas lastete man den Juden die militärische Niederlage von 1918 ebenso an wie die nachfolgenden Revolutionen. Freilich wäre es unsinnig, die Geburt des militanten Rechtsextremismus oder gar des Nationalsozialismus allein als Reaktion auf den Bolschewismus zu deuten, wie es Ernst Nolte 1986 als Teil seiner These vom «kausalen Nexus» tat.

Der damit ausgelöste, emotional geführte «Historikerstreit» verbaute allerdings eine nüchterne Auseinandersetzung mit der schwer bestreitbaren dialektischen Beziehung zwischen den beiden Ideologien – zwei Ideologien, die unterschiedliche, radikale Antworten auf den Ersten Weltkrieg waren, ohne den weder Lenin noch Mussolini oder Hitler jemals an die Macht gelangt wären. Im Falle Hitlers allerdings bedurfte es einer weiteren Katastrophe – der Weltwirtschaftskrise ab 1929 –, um aus der kleinen NSDAP eine Massenpartei werden zu lassen.

Noch 1923, als er durch seinen Marsch auf die Feldherrnhalle seine «nationale Revolution» einzuleiten hoffte, scheiterte Hitler kläglich. Erst die einsetzende Massenarbeitslosigkeit und die Furcht vor sozialem Abstieg nach 1929, gekoppelt mit dem neuerlichen Erstarken der extremen Linken und einer weit verbreiteten Demokratiemüdigkeit, bereiteten den Boden für Hitlers Wahlerfolge. Dabei blieben Antibolschewismus und Antisemitismus die grossen Kontinuitäten in Hitlers Weltbild, wie es sich erst in den Jahren nach 1918 vollständig ausgeprägt hatte. Der Krieg, den Hitler ab 1941 gegen den «Judäo-Bolschewismus» führte, war in diesem Denken angelegt und sollte Europa in den Abgrund stürzen.

Robert Gerwarth ist Professor für Neueste Geschichte am University College Dublin. Sein neues Buch, «Die grösste aller Revolutionen: November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit», erscheint am kommenden Montag bei Siedler.