Im November 1918 endete der Erste Weltkrieg. Doch die anschliessende Neuordnung der politischen Landschaft an der Pariser Friedenskonferenz brachte weder Stabilität noch Versöhnung.
Der französische Premierminister Georges Clemenceau hatte einen Sinn für Symbolik. Fünf Soldaten mit entstellten Gesichtern beorderte er am 28. Juni 1919 in den Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, wo Deutschland den Friedensvertrag unterzeichnen sollte – exakt fünf Jahre nachdem das Attentat auf den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand die Welt in Brand gesteckt hatte. Diese grauenvoll zugerichteten «Gueules cassées» – ohne Münder oder Augen – standen nicht für Versöhnung. Sie waren eine lebendige moralische Anklage, ein Mahnmal für die Millionen von Toten und Krüppeln, die Verwüstungen und Verheerungen des «Grossen Kriegs».
Rund tausend Politiker, Diplomaten, Militärs und Journalisten hatten sich im Prunksaal zur Zeremonie eingefunden, die auch auf Film festgehalten wurde. Kurz nach 15 Uhr erhob sich Clemenceau und befahl: «Bringen Sie die Deutschen herein!» Hermann Müller, gerade erst Reichsaussenminister geworden, und Verkehrsminister Johannes Bell betraten daraufhin die «Galerie des Glaces» und schritten zu einem Tisch, auf dem das Vertragswerk lag, ein dickes Buch mit dem Text auf Französisch und Englisch. Sie zückten ihre Füllfederhalter und unterschrieben – wenn auch unter Protest – das Dokument, in dem nicht nur die Alleinschuld der Deutschen und ihrer Verbündeten am Ausbruch des Weltkriegs festgehalten war, sondern auch eine Reparationszahlung in noch ungenannter Höhe, Abrüstung sowie die Abtretung aller Kolonien und eines Siebtels des deutschen Staatsgebiets.
Der Triumph der alliierten Mächte im Ersten Weltkrieg war damit besiegelt. Draussen donnerten Salutschüsse, die Menschenmasse im Schlosspark feierte. Die Deutschen empfanden den Friedensvertrag von Versailles über alle Parteigräben hinweg als schwere Demütigung, als «Schandfriede». Doch auch unter den Siegern gab es schon Bedenkenträger, als die Tinte eben erst getrocknet war. Der alliierte Oberbefehlshaber Ferdinand Foch prophezeite: «Das ist kein Friede, das ist ein Waffenstillstand für 20 Jahre.»
Nach dem Ende des Blutvergiessens an der Westfront und anderen Kriegsabschnitten im November 1918 war die Stimmung eine andere gewesen. Die Welt atmete auf, der lange herbeigesehnte Friede war greifbar. Selbst die Deutschen befanden sich noch im «Traumland der Waffenstillstandsperiode, wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Sachfolgen des bevorstehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte», wie der Theologe Ernst Troeltsch damals schrieb. Sie hatten zwar nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet, der einer Kapitulation gleichkam, wollten dies aber nicht wahrhaben. Das zur parlamentarischen Demokratie mutierte Deutschland blieb im Glauben, «im Felde unbesiegt» gewesen zu sein, obwohl die Oberste Heeresleitung – wenn auch nie öffentlich – die militärische Ausweglosigkeit eingestanden hatte. Ihre Hoffnungen setzten die Deutschen fortan auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der einen fairen Frieden auf der Basis seines 14-Punkte-Programms in Aussicht gestellt hatte.
Wilson, ehemaliger Professor für Politologie und Rektor der Universität Princeton, hatte die USA 1917 an der Seite der Alliierten in den Krieg geführt, was die Kräfteverhältnisse entscheidend zuungunsten der Mittelmächte um Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich veränderte. Gemeinsam mit seinen Verbündeten oblag ihm nun die herkulische Aufgabe, eine zerrüttete Welt zu ordnen. Bei seiner Ankunft in Paris, wo ab Januar 1919 die Friedenskonferenz stattfand, löste Wilson Euphorie aus. Die Menschen begrüssten ihn frenetisch als Architekten einer neuen Ära, als eine Art Heilsbringer, als «Gott der Gerechtigkeit».
Die Stadt an der Seine wurde für sechs Monate zur Hauptstadt der Welt, zum Ort des Traums von einem dauerhaften Frieden. Präsidenten, Regierungschefs, Könige, Prinzen und Aussenminister reisten an, begleitet von einem Heer aus Diplomaten, Juristen, Ökonomen, Historikern oder Geografen. Alle wollten sie sich in die Verhandlungen einbringen, bei den Siegermächten vorstellig werden, ihre Ansprüche geltend machen. Das Sagen an der Konferenz hatte der «Rat der Vier», bestehend aus Wilson, dem Franzosen Clemenceau, der den Vorsitz führte, dem britischen Premierminister David Lloyd George sowie dem italienischen Regierungschef Vittorio Orlando. 58 Expertenkommissionen sowie eigene Stäbe, insgesamt um die 10 000 Personen, unterstützten sie bei ihrer Arbeit.
Die «Friedensmacher», die sich zeitweise mehrmals täglich trafen, orientierten sich an den Staatsmännern, die 1815 am Wiener Kongress ein neues Mächtegleichgewicht geschaffen hatten. Doch das historische Studium der Vorgänger taugte wenig: Damals hatten am Verhandlungstisch auch die Verlierer Platz genommen, was in Paris nicht der Fall war (auch das bolschewistische Russland wurde nicht eingeladen). Damals hatten auch noch keine demokratisch gewählten Politiker verhandelt, die auf die Stimmungslage in ihren Ländern Rücksicht nehmen mussten. Und damals war die Aufgabe weit weniger komplex gewesen: Es waren keine riesigen, im Krieg implodierten Landimperien neu zu gliedern, wie nun jene der Habsburger, Romanows und Osmanen.
Von Beginn an kam es zu Unstimmigkeiten und Spannungen am Quai d’Orsay, wo im Aussenministerium der Frieden verhandelt wurde. Einigkeit herrschte unter den «grossen Vier» nur darin, die Mittelmächte für den von ihnen begonnenen Krieg und die verursachten Schäden und Opfer zur Rechenschaft zu ziehen. Aber in welcher Form? Und vor allem: Wie schliesst man einen stabilen Frieden nach einem mehr als vier Jahre dauernden totalen Krieg mit fast 20 Millionen Toten, verwüsteten Landstrichen, unermesslichem Leid und unermüdlich geschürtem Hass?
Wilson, der puritanische Idealist, trieb vor allem die Gründung des Völkerbundes voran, um eine universale Staatenordnung zu schaffen, die auf internationalem Recht und der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten basierte. Einen Pfeiler der neuen Ordnung sah er im Selbstbestimmungsrecht der Völker: So sollte etwa den Nationen der untergegangenen Grossreiche «freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung» zugestanden werden. Der 77-jährige Georges Clemenceau, den die Franzosen ehrfurchtsvoll «Tiger» nannten, verlangte eine möglichst weitgehende ökonomische, territoriale und militärische Schwächung Deutschlands. Nie wieder sollte Frankreich der Aggression des Nachbars ausgesetzt sein.
Die Briten um den charmant-gerissenen Lloyd George wollten indes ihr Empire konsolidieren sowie verhindern, dass Frankreich gegenüber Deutschland zu dominant würde. Gleichzeitig hatte der Premierminister seinen Wählern angekündigt, die Deutschen für die britischen Kriegskosten bezahlen zu lassen. Die Italiener schliesslich, die sich erst 1915 und nach grosszügigen territorialen Versprechungen den Alliierten angeschlossen hatten, pochten nun auf Gebietserweiterungen, insbesondere an der Adriaküste. Als Orlando nicht wie erhofft die Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) zugesprochen erhielt, zog er sich aus Protest aus dem Gremium zurück. Auch danach blieben Konflikte an der Tagesordnung. Ein bissiges Bonmot Clemenceaus machte bald die Runde in Paris: «Ich sitze zwischen Jesus Christus auf der einen Seite und Napoleon auf der anderen.»
Dabei drängte die Zeit. Zum einen wollten die Alliierten endlich ihre kriegsmüden Truppen demobilisieren. Zum anderen drohten auf dem Gebiet der niedergerungenen Grossmächte Revolutionen und Räterepubliken. Wilson sprach von einem regelrechten «Wettlauf zwischen Frieden und Anarchie». Die Satzung des Völkerbunds konnte gleich zu Beginn der Konferenz verabschiedet werden, was den amerikanischen Präsidenten zufriedenstellte. In der ebenfalls prioritär behandelten «deutschen Frage» setzten sich nach langem Ringen Clemenceau und Lloyd George mit einem «harten» Frieden samt strafendem Charakter durch. Anfang Mai wurden der nach Paris gerufenen deutschen Delegation die Konditionen des Friedensvertrags diktiert – sie hatte sich vergeblich auf Verhandlungen mit den Siegermächten vorbereitet. Die Empörung der Deutschen war riesig. Doch um einer Besetzung der Alliierten zu entgehen, blieb ihnen am Schluss nur die Unterzeichnung im Schloss von Versailles.
Der Frieden mit Deutschland war aber nur das gewichtigste von vielen Problemen, die innert weniger Monaten in verschiedenen weiteren Verträgen geregelt werden mussten. Aus der Auflösung von Österreich-Ungarn, Russland und dem Osmanischen Reich, die zuvor während Jahrhunderten Stabilität garantiert hatten, resultierten unzählige territoriale Forderungen, angeregt auch von Wilsons Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Hunderte von Bittstellern tauchten bei den Siegermächten auf, erhoben Gebietsansprüche oder stellten die Alliierten vor vollendete Tatsachen. Sie argumentierten ethnisch, religiös und ökonomisch; oft stützten sie sich auf historische Dokumente, Statistiken und Landkarten, von denen nicht wenige Fälschungen waren. Die überforderten Siegermächte entschieden den Länderschacher meist mit einer Mischung aus Idealismus, Interessenpolitik und Irrtum.
In der Folge entstanden allein in Nord-, Ostmittel- und Südosteuropa – und alles andere als konfliktfrei – zehn neue Staaten: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechoslowakei, Deutsch-Österreich, Ungarn, Jugoslawien und die Türkei, deren Staatsgebiet nun fast ausschliesslich in Asien lag. Das von den Alliierten verfolgte Ziel, damit ethnisch homogene Staaten zu schaffen, scheiterte trotz allen kartografischen Künsten und führte zu neuer Unzufriedenheit und Gewalt. Der Historiker Robert Gerwarth bilanzierte in seinem Standardwerk über das blutige Ende des Kriegs: «Die Anwendung des Konzepts nationaler Selbstbestimmung auf Gebiete mit einer komplizierten ethnischen Zusammensetzung war bestenfalls naiv und faktisch meist eine Einladung, die Gewalt des Ersten Weltkriegs in eine Vielzahl von Bürgerkriegen zu überführen.» Zwar sahen die «Friedensmacher» von 1919 einen Minderheitenschutz in den neu geschaffenen Staaten vor, der aber kaum Wirkung entfaltete – und eine Verschlechterung brachte im Vergleich zu den Zuständen in den vormaligen Vielvölkerstaaten.
In den vor allem arabisch besiedelten Gebieten des Nahen und des Mittleren Ostens, die unter osmanischer Herrschaft gestanden hatten, «erfanden» die Briten und Franzosen überdies eine Reihe von Staaten wie Palästina, Transjordanien, Syrien, Libanon und den Irak. Sie alle wurden – wie auch die deutschen Kolonien – als sogenannte Mandatsgebiete des Völkerbunds unter britische oder französische Verwaltung gestellt, bis sie irgendwann reif für die Unabhängigkeit sein würden, so die paternalistisch-rassistische Begründung der Alliierten. Bitter enttäuscht von dieser Praxis waren die Araber, die mit Prinz Faisal und T. E. Lawrence («Lawrence von Arabien») in Paris vergeblich jenen selbständigen Staat einforderten, der ihnen von den Briten für den Aufstand gegen das Osmanische Reich versprochen worden war. Faisal wäre auch bereit gewesen, zionistischen Einwanderern in Palästina eine «jüdische Heimstätte» zu gewähren, wie es die Balfour-Deklaration von 1917 vorsah. Doch die Briten und Franzosen hatten das Erbe des Osmanischen Reiches bereits 1916 im geheimen Sykes-Picot-Abkommen unter sich aufgeteilt. Eine der desillusionierenden Botschaften von Paris war denn auch, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht für alle galt. Vor allem zeigten Grossbritannien und Frankreich kein Interesse, es auf Völker im eigenen kolonialen Machtbereich anzuwenden. Vielmehr setzten sie sich gegen die erwachten antiimperialen Kräfte gewaltsam zur Wehr, in Ägypten oder Afghanistan, Indien oder Indochina.
Aus den Pariser Verhandlungen resultierte ein Kompromissfrieden zwischen den Siegermächten, mit dem schliesslich alle haderten. In Italien war schnell die Rede von einem verstümmelten Sieg («vittoria mutilata»), aus dem besonders die Faschisten um Mussolini politisches Kapital schlugen. In Frankreich wurde Clemenceau wegen einer als zu «mild» wahrgenommenen Behandlung Deutschlands angegriffen: Er habe den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren, hiess es. In den USA verweigerte der Kongress die Ratifizierung des Versailler Vertrags und die Mitgliedschaft der Amerikaner im Völkerbund, was dessen Durchschlagskraft bei der internationalen Friedenssicherung stark beeinträchtigte. Vernichtend war die Kritik in den Verliererstaaten, denen nur die demütigende Unterschrift unter einem «Diktatfrieden» geblieben war.
Bald wurden allenthalben revisionistische Stimmen laut. Die Türken erreichten unter der kriegerischen Führung Mustafa Kemals bereits 1923 Verbesserungen ihres Vertrags. Das wurde auch in Deutschland registriert, wo die «Dolchstosslegende» und die Klage über den «Schmachfrieden» das politische Klima der Weimarer Republik vergifteten. Wie ein Grossteil der am Kriegsende entstandenen Demokratien verwandelte auch sie sich schliesslich in eine Diktatur. Doch daran hatte die Wirtschaftskrise, die ab 1929 über die kapitalistische Welt hereinbrach, einen massgeblichen Anteil. Es führt kein direkter Weg von Versailles zu Hitler, wenn auch der Aufstieg Hitlers ohne Versailles undenkbar ist.
Dass nur 20 Jahre nach dem Friedensschluss ein zweiter, noch katastrophalerer Weltkrieg losgetreten wurde, stellt den Akteuren der Pariser Konferenz indes kein gutes Zeugnis aus. Tatsächlich gelang es ihnen nicht, eine dauerhafte friedliche Weltordnung zu schaffen und den Krieg in den Köpfen zu beenden. Sie erzeugten mit ihren Grenzziehungen sogar neue Konflikte, die etwa im Nahen und Mittleren Osten sowie im Balkan bis heute nachwirken. Die Welt war zwar 1919 nicht mehr aus den Fugen – aber sie kam auch nicht zur Ruhe.
Eckart Conze: Die grosse Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Siedler-Verlag, 2018. Hier bestellen*.
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Siedler-Verlag, 2017. Hier bestellen*.
Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Ullstein-Verlag, 2015. Hier bestellen*.
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