Gastkommentar

Wieviel Russisch darf’s denn sein? – In der Ukraine wird Sprache zur Waffe gemacht

Die Sprachenfrage ist in der Ukraine ein heikles und kompliziertes Feld. An ihr hing der Kreml den von ihm gesteuerten hybriden Krieg im Donbass auf. Viele Politiker in Kiew sehen das Ukrainische als identitätsstiftend für den neuen postsowjetischen Staat, gleichzeitig spricht eine Mehrheit der Ukrainer noch immer vorrangig russisch.

Kateryna Botanova
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«Vorsicht! Ukrainische Staatsgrenze. Durchgang verboten» heisst es auf Ukrainisch an der ukrainisch-russischen Grenze bei Milove. (Bild: Evgeniy Maloletka / ap)

«Vorsicht! Ukrainische Staatsgrenze. Durchgang verboten» heisst es auf Ukrainisch an der ukrainisch-russischen Grenze bei Milove. (Bild: Evgeniy Maloletka / ap)

«Auf den Bäumen an der Haltestelle sitzen Vögel. Scharen von Vögeln. Träge, nasse, reglose. Als ob sie auf den Bus warteten. Vielleicht sind sie aus der Stadt hierher geflogen, zu ihren Artgenossen in die Nähe, da fühlen sie sich sicherer.» Das ist die letzte Szene von Serhij Zhadans Roman «Internat», dessen deutsche Übersetzung in diesem Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Der leere Himmel ohne Vögel, die die ständigen Schusswechsel nicht ertragen, sagte Zhadan, das ist eines der wichtigsten Bilder des Krieges, der im Osten der Ukraine immer noch andauert. «Internat» ist ein Roman über Menschen und Tiere diesseits und jenseits der Frontlinie. Auf der allerletzten Seite kehren die Vögel dann doch zu den Menschen zurück, und das nährt die Hoffnung darauf, dass der Krieg bald zu Ende geht.

Aber der Krieg geht nicht zu Ende. Die Maidan-Revolution, die den politischen Kurs des Landes geändert hat und in deren Folge es zur Annexion der Krim und zum russischen Überfall auf den Osten des Landes gekommen ist, jährt sich in diesen Tagen zum fünften Mal. 2019 stehen Wahlen an: Der Präsident, das Parlament und die lokalen Selbstverwaltungsorgane werden neu gewählt. In diesen Wahlen wird der Krieg eine Schlüsselrolle spielen. Weil er für die Sicherheit im Land ein entscheidender Faktor ist und ständig im Hintergrund mitschwingt. Weil sich mit ihm mühelos die versandenden und nicht begonnenen Reformen, die nicht aufgeklärten Morde an Aktivisten und viele andere Probleme bemänteln lassen.

Munition für den Wahlkampf

Der Krieg als reale Gegenwart und der Krieg als Vorwand für Manipulationen, diese Ambivalenz muss man immer mitdenken, wenn man über das politische Klima in der Ukraine spricht. Themen der Sicherheit, des Schutzes also, die der Krieg notgedrungen mit sich bringt, werden im Vorfeld der Wahlen erwartungsgemäss zugespitzt. Die Frage ist nur, wer wen vor wem zu schützen gedenkt?

Das Russische ist nicht nur eine Waffe im Hybridkrieg, es gehört auch zur Identität und Lebenswirklichkeit eines Teils der ukrainischen Bürger.

Der jetzige ukrainische Präsident Petro Poroschenko zieht mit dem Slogan «Armee. Sprache. Glaube» in den Wahlkampf. Gleich nach dessen Verkündung veröffentlichten drei Gebietsparlamente fast identische Beschlüsse, die ein Moratorium für den Einsatz «russischsprachiger kultureller Erzeugnisse» im öffentlichen Raum zum Inhalt hatten. Die Beschlüsse sind zwar verfassungswidrig und können nicht umgesetzt werden, sind aber bisher auch nicht geahndet worden. Die (ukrainische) Sprache wird von vielen Politikern in ihren Wahlkampfreden beschworen. Im letzten Monat ist das neue Sprachgesetz vom Parlament in erster Lesung angenommen worden. Es setzt auf die Stärkung und Erweiterung des Gebrauchs der ukrainischen Sprache. Die konkreten Regelungen sehen eine starke Beschränkung und Strafen für den Gebrauch des Russischen vor.

Gemäss diesem Gesetz muss zum Beispiel der Film zu Zhadans «Internat», dessen Drehbuch bereits fertig ist, zu 85 Prozent auf Ukrainisch gedreht werden, in einer Sprache, die in Wirklichkeit dort, wo der Krieg stattfindet, gar nicht gesprochen wird. Der Film «Donbass» des wohl bekanntesten ukrainischen Regisseurs Serhij Losnyzja, der in diesem Jahr als ukrainischer Film für den Oskar nominiert wurde und Lebensgeschichten von Menschen dies- und jenseits der Front erzählt, ist wegen seiner angeblich zu ausgiebigen Verwendung des Russischen bereits in die öffentliche Kritik geraten.

In der komplizierten Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert spielt die Sprache ähnlich wie in anderen osteuropäischen Ländern für die Herausbildung der Identität eine wichtige Rolle. Sie war ein Identitätsfaktor für eine bedrohte, verfolgte und auf verschiedene Imperien und Länder aufgeteilte Gemeinschaft. Das Ukrainische war Objekt der Unterdrückung, des Verbots und der Zensur, angefangen beim vollständigen Verbot unter dem Zaren bis zur Umwandlung in ein Schmuckelement oder Zeichen der kulturellen Minderwertigkeit in der Sowjetzeit.

Überwiegend russisch

Im Unterschied zu anderen Ländern in diesem Teil Europas sind die russische Sprache und die russische Kultur in der Ukraine allerdings nicht nur ein Teil des repressiven Erbes eines früheren Imperiums. Sie sind auch Teil der eigenen Geschichte, Teil der komplexen Geschichte der östlichen Regionen. Das Russische ist nicht nur eine Waffe im Hybridkrieg, es gehört auch zur Identität und Lebenswirklichkeit eines Teils der ukrainischen Bürger.

Serhij Plokhyj, Professor für osteuropäische Geschichte an der Harvard-Universität, betont, durch den Krieg sei der Teil derer, die sich der russischen Kultur zugehörig fühlen, erstmals in der Minderheit. «Es ist eine Minderheit, aber die Minderheit ist ausserordentlich gross und bedeutend, sie lässt sich weder ignorieren noch marginalisieren. Das ist eine Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft, die jetzt allerdings über eine Mehrheit verfügt, die sie früher nicht hatte. Bisher hatten wir es mit etwa ausgeglichenen Teilen zu tun, die sich intellektuell und kulturell bekämpft und sich dabei die Köpfe eingeschlagen haben. Jetzt besteht die Chance auf eine neue Qualität.»

Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass Serhij Plokhyjs Einschätzungen, was das Gleichgewicht der beiden Sprachen angeht, nicht der Wirklichkeit entsprechen. Zwar geben in Umfragen zwischen 67 und 69 Prozent der Befragten an, Ukrainisch sei ihre Muttersprache und die vorrangige Sprache ihrer Kommunikation, aber in den Medien, auf dem Buchmarkt, im Kino und in den anderen Bereichen der Kultur überwiegen russischsprachige Erzeugnisse, die auch zumeist aus Russland kommen.

In einem hat sich Serhij Plokhyj aber nicht getäuscht: mit den Ereignissen der Jahre 2013/14 hat sich das Verhältnis der Sprachen zueinander tatsächlich geändert, und zwar weniger bezüglich des Sprachgebrauchs als vielmehr hin zu einer wertschätzenden gegenseitigen Wahrnehmung auf Augenhöhe. Kehrt man heute in Odessa in ein Restaurant ein und spricht ukrainisch, wechselt auch das Personal bereitwillig ins Ukrainische, ebenso werden russischsprachige Gäste in Lemberger Restaurants auch auf Russisch bedient. Aktivisten aus der Zentral- und Westukraine halfen nach den militärischen Auseinandersetzungen im Osten beim Wiederaufbau zerstörter Städte. Dabei entstanden auch neue Kulturorte, an denen die dortigen Jugendlichen ihre russischsprachige Musik hören und ihre russischen Lieder singen können.

Der Buchmarkt in der Ukraine wächst, und das auf vielfältige Art und Weise. Veröffentlicht werden russische Bücher ukrainischer Autoren im Original, ihre ukrainischen Übersetzungen oder gesammelte Werke, in denen sich die Autoren in unterschiedlichen Texten mal der einen, mal der anderen Sprache bedienen.

Polykulturelle Gesellschaft

Das Ukrainische wird nicht länger als bäuerliche Sprache diskreditiert oder belächelt, wie das noch vor 10 bis 15 Jahren der Fall war. Allerdings gibt es in den Städten noch immer viele Menschen, die das Ukrainische nicht aktiv beherrschen.

Das neue, gleichberechtigte Miteinander der beiden Sprachen ist allerdings nur zu erreichen, wenn man sich von der durch den Krieg legitimierten und sehr bequemen Opferrolle verabschiedet und sich der Wirklichkeit stellt, in der sich die Ukraine als politische Nation mit einer turbulenten Geschichte, einer polyethnischen und polykulturellen Gesellschaft begreift.

So paradox es auch klingen mag: Der Krieg hat etliche demokratische Prozesse in Gang gesetzt, gleichzeitig aber die Intoleranz gegenüber dem anderen verschärft. Die Sprache als Waffe ist ein allzu leichter und populistischer Schachzug der Politiker. Wie jeder Populismus ist er kurzsichtig und gefährlich, denn er eröffnet eine zweite Front im Land, indem er die Waffen gegen die eigenen Landsleute richtet, sie damit in eine Feindesrolle drängt und der russischen Propaganda Tür und Tor öffnet. Anstatt nach Mitteln und Wegen zu suchen, um Verständnis herbeizuführen und dem Land den Frieden zu verschaffen, den es so dringend braucht.

Die ukrainische Gesellschaft ist um einiges komplexer und vielschichtiger, interessanter und reicher als die flache Farce, welche die ukrainischen Politiker im Wahlkampfmodus bieten.

Die Ukrainerin Kateryna Botanova ist Kulturwissenschafterin. Sie arbeitet als Journalistin und kuratiert das Festival Culturescapes in Basel. – Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.

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