Warum wirtschaftliche Ungleichheit eine Gesellschaft lebendig hält | NZZ
Diskreter Reichtum: Wer ein schönes Automobil sein eigen nennt, kann, aber muss es nicht zur Schau stellen. (Bild Karin Hofer / NZZ)

Diskreter Reichtum: Wer ein schönes Automobil sein eigen nennt, kann, aber muss es nicht zur Schau stellen. (Bild Karin Hofer / NZZ)

Kommentar
René Scheu

Warum wirtschaftliche Ungleichheit eine Gesellschaft lebendig hält

Gleichheit ist unter allen Umständen gut, Ungleichheit stets begründungspflichtig. So lautet das Mantra vieler Politiker und Intellektueller auch in der Schweiz. Das ist zu kurz gedacht.

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Der frühere amerikanische Präsident Barack Obama nannte das Phänomen die grösste Herausforderung unserer Zeit. Joseph Stiglitz, sein Landsmann und Nobelpreisträger für Ökonomie, sprach von der grossen Kluft, die eine Gesellschaft zerrütte. Und das Oberhaupt der katholischen Kirche, der rhetorischen Aufrüstung nicht abgeneigt, erblickt darin eine Perversion und die Wurzel allen sozialen Übels. Ist die Rede von einer Plage, einer drohenden Naturkatastrophe oder gar dem nächsten Krieg? Nein, es geht um die Ungleichverteilung der Einkünfte in unserer Welt.

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Es zählt zur Ironie unserer fortgeschrittenen Moderne, dass sich wohlhabende und egalitäre Gesellschaften besonders stark mit Ungleichheitsfragen beschäftigen. Auch da, wo die Einkommensverhältnisse über die Jahrzehnte erstaunlich stabil sind, pflegen sich die Medien mit einschlägigen Umfragen und Rankings zu überbieten. Sie werden flankiert von einer ganzen Industrie der Ungleichheitsbewirtschaftung. Die Botschaft ist sattsam bekannt: Die Armut wächst, auch in unseren Breiten, auch in der Schweiz.

Schiefes Bild

Es gibt nicht nur den Populismus der Angst, sondern auch jenen des Neids, und gewiefte Politiker haben daraus längst eine eigene Kunstform gemacht. Sie klagen wahlweise über eine Umverteilung von unten nach oben, über eine neue Klassengesellschaft oder die Gier des oberen einen Prozents, das sich aus der demokratischen Gesellschaft der 99 Prozent verabschiedet habe und darum keine Schonung verdiene. Dabei wird immer das gleiche Sprachbild verwendet, in dem das Denken der egalitären Mitstreiter aller Parteien perfekt zum Ausdruck kommt: Die Schere zwischen «den» Reichen und «den» Armen öffnet sich immer weiter.

Auch wenn sich Marx im «Kapital» nicht haargenau so äussert, so bleibt die Formulierung dennoch marxistisch inspiriert. Sie suggeriert eine zweigeteilte Gesellschaft: Oben sind die modernen Rentner, die sich an ihrem leistungslosen Einkommen mästen, derweil sich die meisten unten abrackern, ohne doch der Armut entfliehen zu können. So gross die Popularität der Metapher auch sein mag, so falsch ist sie. Das Sprachbild ist in mehrfacher Hinsicht schief, wie einige jüngere Zahlen belegen, die im übrigen nicht in einem Bunker irgendwo gehortet werden, sondern im Netz leicht abrufbar sind.

Zunächst: Gerade die Armen sind die grössten Nutzniesser der Globalisierung. Armut auf absolutem Niveau – und also am äussersten Rand der Existenz – schwindet auf dem Globus ebenso rasant wie Ungleichheit – der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanovic hat die verfügbaren Statistiken in zahlreichen Publikationen in jüngerer Zeit ausgewertet.

Es verhält sich sogar so, dass in den letzten drei Jahrzehnten eine globale Mittelschicht entstanden ist, vor allem dank urbanen Chinesen und Indern, deren Einkünfte sich in diesem Zeitraum vervielfacht haben. So erstaunt es nicht, dass sich der Konsum auf der ganzen Welt radikal demokratisiert hat. Nicht nur wer als Tourist unterwegs ist, hat schon einschlägige Beobachtungen angestellt, es genügt ein Gang durchs Niederdorf: Während heute selbst die Ärmsten über ein Handy verfügen, neigen ärmere Menschen in Industriestaaten eher zu Übergewicht als zu Unterernährung.

Auch in den Industrieländern sind insgesamt Zugewinne zu verzeichnen, doch wuchsen die hohen Einkommen deutlich stärker als alle anderen. Es gibt also eine Kluft – aber nicht weil die Leute mit niedrigem Einkommen weniger verdienen würden, sondern weil die Gutverdiener überproportional zugelegt haben.

In der Schweiz bleiben die Verhältnisse über das 20. Jahrhundert hingegen erstaunlich stabil. Der Anteil der Topeinkommensbezüger am Gesamteinkommen hat in den letzten Jahrzehnten zwar moderat zugenommen, dagegen wirkt jedoch die ziemlich brutale Steuerprogression. Gegenwärtig bestreiten – gemäss neuen Zahlen des Ökonomen Christoph Schaltegger – die oberen zehn Prozent der Einkommensbezüger über die Hälfte der gesamten Einkommenssteuern, während die unteren fünfzig Prozent rund elf Prozent beitragen. Von wegen Umverteilung von unten nach oben.

Gleichheit contra Gerechtigkeit

Doch nach den Fakten die Argumente – warum soll überhaupt eine Gesellschaft mit möglichst gleicher Einkommensverteilung einer solchen mit mehr Ungleichheit vorzuziehen sein, wie es in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt, täglich zu lesen steht? Im gegenwärtigen politischen Diskurs werden alle Formen von Gleichheit wild durcheinandergeworfen. Was hingegen zu kurz kommt, ist die Arbeit des Unterscheidens.

Zu den Errungenschaften des Liberalismus gehört zweifellos die Verbriefung der doppelten Gleichheit des Menschen: Alle haben die gleiche Würde, und alle sind darum auch vor dem Gesetz gleich. Der moderne Rechtsstaat beruht auf der Abschaffung der Herrenvorrechte jedweder Art. Doch hat eine solche Gleichbehandlung durch den Staat nur Sinn, wenn er eben davon ausgeht, dass die Bürger in ihren Anlagen, Talenten, Vorlieben und Konstitutionen zugleich unterschiedlich sind – nichts anderes ja meint die Rede von Individuen, deren Würde sich ihrer je eigenen Einzigartigkeit verdankt.

Die gleiche Behandlung von ungleichen Individuen führt nun aber zu Ungleichheit nicht nur in den Konsumvorlieben und Lebensentwürfen, sondern eben auch in wirtschaftlicher Stellung und gesellschaftlichem Status. Und im Umkehrschluss kann solche ungleichen Resultate nur beseitigen, wer bereit ist, Gleiche ungleich zu behandeln, was ja im Namen der positiven Diskriminierung aller möglichen gesellschaftlichen Gruppen längst geschieht. Eine solche Ungleichbehandlung erzeugt jedoch ihrerseits ein Gefühl von Ungerechtigkeit unter all den Normalos, die der Privilegien nicht teilhaftig werden – und muss den Rechtsstaat auf die Dauer beschädigen.

Gleichheit contra Gerechtigkeit: Das ist genau der Unterschied, der im Zeichen des Allerweltbegriffs «soziale Gerechtigkeit» laufend verwischt wird. «Immer gleicher» heisst nicht «immer gerechter», weder in der philosophischen Tradition noch im moralischen Empfinden der Menschen.

Nicht nur Kinder erachten es als zutiefst ungerecht, wenn am Ende eines Spiels alle auf dem gleichen Platz landen oder alle Einsätze wieder gleich verteilt werden, ungeachtet von persönlichem Einsatz, Verdienst, Fleiss, Talent und Glück. Die klassische Gerechtigkeitsdefinition des Aristoteles weiss darum: Gerechtigkeit ist proportional – nicht für alle dasselbe, sondern für jeden das, was ihm im Spiel des Lebens zusteht.

Ungleichheit ist nicht gleich Armut

Diese Intuition, die kulturübergreifend gilt, wurde von der jüngeren Forschung bestätigt. Eine umfassende, über dreissig Jahre und mit 200 000 Personen aus 68 Ländern durchgeführte Studie der beiden Soziologen Jonathan Kelley und Mariah Evans kam zum Schluss, dass es keine Korrelation zwischen objektiver Ungleichheit und subjektivem Wohlbefinden gebe. Ganz im Gegenteil könne Ungleichheit sogar als Ansporn wirken, sofern die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt als fair beurteilt würden. Ganze Bibliotheken sozialistischer Literatur, die dem Gleichheitsimpuls der Menschen die grösste verändernde Kraft zuschreiben, wären damit hinfällig.

Ungleichheit und Armut sind unterschiedliche Dinge – die Ungleichheit kann auch dann zunehmen, wenn alle Klassen wohlhabender werden, und das ist es ja genau, was im Wesentlichen seit der industriellen Revolution im Westen geschieht. Als – zu Recht – stossend gelten den Menschen hingegen wohlhabende Gesellschaften, die Armut unter ihren Bürgern dulden – eine Grundsicherung des Lebensstandards trifft auf breite Zustimmung. Ebenso unbestritten ist das Konzept der Chancengleichheit, die über eine allen zugängliche Bildung zu gewährleisten ist.

Zu den Paradoxien einer guten öffentlichen Bildung gehört allerdings, dass sie beträchtliche Ungleichheitsfolgen zeitigt. Denn Bildung bedeutet ja nicht nur, Wissen zu vermitteln, sondern immer auch: die Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft der Menschen zu stärken. Gerade die Demokratisierung der Bildung führt zur Elitebildung. Allerdings gereicht dies wiederum allen Bewohnern eines Landes zum Vorteil – jedenfalls dann, wenn die Elite sich täglich bewähren muss und sich nicht in ihre Gated Community zurückzieht.

Une carrière ouverte aux talents – dies war ein Wahlspruch aus der Zeit der Französischen Revolution. Eine Gesellschaft, die auf Können, Fleiss und Glück setzt, wird stets Ungleichheit in Einkommen und Status hervorbringen, aller Umverteilungspolitik zum Trotz. Sie wird sich damit zugleich die Aufwärtsmobilität erhalten, die von all den Statistiken zu Einkommensverteilungen über die Zeit nicht erfasst wird. Wer in seinem beruflichen Umfeld beobachtet, wer es nach oben geschafft hat, trifft auf viele Leute, die aus einfachen Verhältnissen stammen und unten begonnen haben.

Woher das Problem rührt

Wenn nun jedoch immer mehr Menschen der herrschenden Ordnung zu misstrauen scheinen, so dürfte dies weniger mit der fehlenden Aufwärts- als mit der mangelnden Abwärtsmobilität zu tun haben. Denn wer es in unseren Breiten einmal an die Spitze der Managementkaste geschafft hat, bleibt für gewöhnlich im Klub.

Das wiederum ist ein Phänomen, das sich in vergesellschafteten Wirtschaften mit hoher Staatsquote – und dazu gehört längst auch die Schweiz – geradezu zwingend ergibt. Dann zählen nicht mehr Talent, Fleiss, Leistung und die Fortuna, sondern in erster Linie die richtigen Beziehungen und Bekanntschaften. Zur Verkrustung der Elite existieren leider keine Statistiken, wohl aber zur – geschichtlich gesehen – anhaltend hohen Staatsquote wohlhabender Gesellschaften von um die fünfzig Prozent.

Immanuel Kant nannte die «Ungleichheit unter Menschen» – anders und differenzierter als der amtierende Papst – einst eine «reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten». In der Ungleichheit liegt viel Kraft – in der Verknöcherung und eindimensionalen Gleichheitsfixierung unserer saturierten Gesellschaften aber liegt die grösste Gefahr für die Zukunft (und den Zusammenhalt der Gesellschaft).

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