Die Kosenamen sind ein Taufakt der Liebe. Und häufig auch eine Zumutung an den guten Geschmack.
Wir haben ihn den «Schlepper» genannt. Er kam jeden Morgen zur gleichen Zeit und formte vor unserem Fenster ein fast lautloses «Miau». Der kleine Tiger bekam diesen Namen, weil in seinem Schlepptau stets die ganze Sippe kam, er machte den Vorreiter, und innerhalb kurzer Zeit stellte sich seine gesamte Verwandtschaft zum Füttern ein. Doch eigentlich hiess er so, weil wir ihm keinen richtigen Namen geben wollten. Ein Taufakt bindet uns an ein Wesen; es gehört dann zu uns.
Der Schlepper wuchs uns trotzdem ans Herz – und mit ihm die vielen streunenden Insel-Katzen in seinem Gefolge. Ab einem bestimmten Punkt aber entsteht die Notwendigkeit zur Distinktion. Die Katzen bekamen Spitznamen. «Die Giacometti-Katze ist da», pflegten wir etwa zu einer surrealistisch dünnen Katze mit viel zu langen Beinen zu sagen, oder «das Vögelchen sitzt vor der Tür», die winzige Katze, die wie ein Spatz tschirpt. Eine runde Schwarz-Weisse haben wir ihrer Matronenhaftigkeit wegen «Mutti» genannt, doch hörte sich das bald zu spöttisch an. Mutti wurde umgetauft, da ihr Maunzen sich wie eine schlecht geölte Tür anhörte, hiess sie fortan «Porta».
Im 1. Buch Mose hat Gott nach Vollendung der Schöpfung die Taufe der Tiere an Adam delegiert. Das ist lange her, verrät aber trotzdem etwas über die Psychologie der Namensgebung. Der Taufakt ist eine Form der Machtausübung – auch wenn er, wie etwa das Benennen der Tiere beziehungsweise der streunenden Katzen, vor allem dem Zweck der Unterscheidung entspringt. Jede Benennung ist auch eine Form der Anerkennung, die der Namenlosigkeit, aus der wir kommen, etwas entgegenhält. Der Name bindet uns an die Welt.
Nicht jeder freilich mag den Namen, der durch einen – offiziell verordneten – Akt der Willkür für ihn oder sie erkoren wird. Ganz willkürlich ist die Wahl der Namen allerdings nicht. Zwar studieren junge Eltern meist stundenlang Vornamens-Hitlisten, um auf Ideen zu kommen, doch führen eben diese Listen auch zu einer gewissen Konformität. Vornamen unterliegen, wie alles, dem Zeitgeschmack – nur dass man das meistens erst später merkt. Gleichwohl sagen sie viel über die Zeiten aus. Unsere Enkel heissen heute wie unsere Urgrosseltern Karl und Emilie. Tradition ist wieder gefragt.
Man kann darüber streiten, ob der Name uns prägt oder uns äusserlich bleibt, für beides gibt es gute Argumente. Ein bisschen verhält es sich mit dem Eigennamen wie mit dem eigenen Gesicht, dessen Züge wir nur im Spiegel sehen: Er ist uns immer ein wenig fremd. Anders als unser Gesicht aber können wir ihn ersetzen. Sich einen Namen zu geben, ist darum auch eine Form der Selbstermächtigung.
Als Kind habe ich mich ständig umgetauft, die Namen waren Kostüme, ich selbst eine andere Person. Künstlernamen haben dieselbe Funktion, es sei denn, sie sind Programm. Will man die Namensänderung amtlich beglaubigen lassen, braucht es dafür allerdings «einen triftigen Grund». Wer einen Namen hat, der zum Spott einlädt, hat gute Chancen. Doch was als «triftig» gilt, entscheiden zuletzt die Behörden.
Vielleicht ist die Liebe darum ein Taufbecken voller Kosenamen – sie befreit von der Bürde der amtlichen Identität. Das Paradoxe ist: Je einzigartiger unsere Zuneigung ist, desto austauschbarer wird der Ausdruck dafür. Kosenamen sind Instant-Produkte der Zärtlichkeit; wie Redensarten neigen sie zur Floskelhaftigkeit und Banalität. Anders als Spitznamen, die durch eine bestimmte Eigenschaft oder die Verballhornung des Eigennamens angeregt werden, sind Kosenamen von individuellen Zuschreibungen meistens frei. Elefanten im Zoo beispielsweise werden von ihren Pflegern am liebsten mit «kleine Maus» begrüsst.
Weiterhin hat man herausgefunden, dass die Wahl des Hypokoristikums, wie das Kosewort sprachwissenschaftlich heisst, klassenspezifisch ausfällt: Die Unterschicht bevorzugt Tiere, derweil dem gebildeten Bürgertum die Preziosenform «Schatz» nähersteht. Eine Frage der Bildung ist auch, ob sich Paare mit «Mutti» und «Vati» anreden oder die Kinder die Eltern beim Vornamen rufen. Bei Babys und Tieren, vor denen man sich seiner Albernheit nicht zu schämen braucht, haben dagegen die Freuden der Lautpoesie freie Bahn. Je vernarrter, desto üppiger schiesst der Unsinnsfaktor ins Kraut. Die Streichelanrede funktioniert dann wie einer jener Entzückenslaute, die der Mensch reflexhaft bei allem Kleinen und Runden ausstösst: O wie süüüsss!
Insgesamt aber neigt der Taufakt der Liebe dazu, sich ins Kollektiv einzureihen. Laut Wikipedia wird die Mehrheit der Deutschen zu Hause «Schatz» genannt. Wer sich im Netz die mögliche Bandbreite zärtlicher Anrufungen zu Gemüte führt, kann darin nur einen Vorteil sehen. Von «Schnullerbacke» und «Quaki» bis «Pupskartoffel» sind der Zuneigung keine Grenzen des guten Geschmacks gesetzt. Doch auch sonst kann der ostentative Gebrauch von Kosenamen ausserhalb der eigenen vier Wände schnell peinlich werden: Die erhöhte Tonlage des Diminutivs klingt coram publico nun mal infantil.
Im Englischen dagegen ist der Gebrauch von Koseformen wie «darling» und «honey» auch in der Öffentlichkeit opportun – und zwar in Grossbritannien ebenso wie in den USA. Kassiererinnen im Supermarkt oder sogenannte Baristas im Coffee-Shop reden einen, je älter man ist, desto emphatischer, mit «sweetheart» oder mit «darling» an. Das ist in den meisten Fällen sicherlich nett gemeint. Nicht immer aber kommt die Schmuseofferte gut an.
So hat sich unlängst ein Heer älterer Frauen in der «New York Times» bitter beschwert. Die Verniedlichung der betagteren Generation, klagte eine ältere Dame in einem der vielen Leserbriefe, unterschlage, wie zänkisch und böse ihresgleichen oft sei. «Unser weisses, graues oder fehlendes Haar aber scheint unweigerlich Begriffe zu provozieren, die normalerweise Kleinkindern oder winzigen Designer-Hündchen vorbehalten sind.»
Leider nämlich reiht sich der wohlmeinende Wunsch, Fremdheit durch plumpe Vertraulichkeit abzubauen, oft nahtlos in jene Form der Altersdiskriminierung ein, die den Humor von Menschen ab fünfzig auch sonst strapaziert. Ob das junge Gemüse hinter der Theke die zärtliche Adressierung vom Firmenmanagement vorgeschrieben bekommt oder ob sie guter Absicht entspringt, bleibe dahingestellt. Die kandierte Rhetorik liegt jedenfalls im Trend.
Nicht ganz von ungefähr nämlich erinnert die überzuckerte Anrede älterer Menschen an die euphemistische Aufhübschung von Berufsbezeichnungen, die, apropos Baristas, heutzutage jenen Jobs zuteil wird, die niemand machen will. Wer, wie etwa die Verkäufer der Fast-Food-Kette Subway, auf die eingetragene Berufsbezeichnung «Sandwich Artist» hört, hat vermutlich Anlass, die Kundschaft dieser Künste emotional aufzuwerten.
Dass die Wohlfühlrhetorik aus der Intimsphäre in den öffentlichen Raum abgewandert ist, sind wir inzwischen gewohnt. Nicht nur wo es um den Abbau von Arbeitsplätzen, pardon: «Freisetzungen», oder um «fällige Preis-Korrekturen», sprich: Verteuerung, geht, ist die Beschönigungsrede en vogue. Ist es ein Zufall, dass das allgemeine Süssholzgeraspel, egal ob es die unterbezahlte Assistentin oder den als «darling» begrüssten Greis trifft, mit einer Zunahme und rüpelhaften Verhaltens einhergeht?
Doch zurück zu den Kosenamen: «What’s in a name?», fragt Julia ihren geliebten Romeo und will damit sagen, dass die Macht der Liebe die Zugehörigkeit zum Namen einer verfeindeten Sippe besiegt. Shakespeares Drama lehrt uns freilich das Gegenteil – der Name ist Schicksal, dem man nur durch den Tod entkommt. Es sei denn, man wählt das Inkognito.
«Mein Name ist Niemand», liess Odysseus darum den einäugigen Zyklopen wissen und entkam mit dieser ersten List der Weltliteratur der kannibalistischen Gier. Niemand kann man nicht fressen. Einen Namen zu haben, bedeutet also nicht zuletzt, ein Jemand für jemand anders zu sein – und ein Kosename sagt: Du bist dieser besondere Jemand für mich. Ein Kosename ist wie eine Umarmung gegen die Zumutungen der amtlich beglaubigten Existenz – sofern er nicht selbst eine Zumutung ist.