In 15 Schweizer Städten sind Schüler auf die Strasse gegangen, um der Politik Beine zu machen.
«Georg, Georg, Georg», schallt es euphorisch über den Claraplatz in Basel. Georg soll eine Rede halten für den Klimaschutz. Er ist aber nirgends auffindbar. Die Organisatoren des Basler Klimastreiks stört das wenig. Spontan wollen sie bleiben, horizontal aufgestellt, basisdemokratisch organisiert. Und so greift eine andere Schülerin kurzerhand nach dem Mikrofon und klettert auf die Parkbank, die den Demonstranten als Bühne dient. Ihr Ziel: Ganz Basel soll mitbekommen, wofür die Schüler demonstrieren und den Unterricht schwänzen. Fürs Klima.
Ihre Forderungen: die nationale Ausrufung des Klimanotstandes, netto null Treibhausgasemissionen im Inland bis 2030 und, falls nötig, einen Systemwandel. Dafür gehen die Schüler nicht zum ersten Mal auf die Strasse. Im Dezember fand in mehreren Schweizer Städten der erste Klimastreik statt. Seither ist die Bewegung rasant gewachsen. Was in Zürich begann, dann auf St. Gallen, Basel und Bern übergriff, ist in insgesamt 15 Schweizer Städten angekommen. Zum ersten Mal haben es die regionalen Teams nun geschafft, dass überall gleichzeitig gestreikt wird.
Das tun die Schülerinnen und Schüler mit Überzeugung. Eine bunte Menge von etwa 1000 Jugendlichen, geschätzt zwischen zwölf und Anfang zwanzig Jahren, schiebt sich durch die Basler Innenstadt. Die Schüler haben eine prominente Route gewählt, mitten durch die Einkaufspassagen. Und ziehen amüsierte, zum Teil aber auch bewundernde Blicke auf sich. Passanten bleiben stehen, um die selbstgemalten Plakate und Transparente zu entziffern. «System Change not Climate Change», steht darauf.
Lea Schibler und Helena Gutknecht umarmen ihre Freundinnen, die gerade dazugestossen sind. Für sie war es keine Frage, am Streik teilzunehmen. «Es geht hier um unsere Zukunft, darum, selbst für unsere Ziele einzustehen.» Aber sind die Ziele denn realistisch? Kann die Schweiz es schaffen, ihre Emissionen bis 2030 auf null zu reduzieren? Lea schiebt sich die bunte Wintermütze aus den Augen und sagt bestimmt: «Ich weiss nicht, ob wir es schaffen, gleich auf null zu kommen. Aber es ist ein tolles Ziel. Wir sollten es versuchen.»
Mittlerweile sind die Schüler auf ihrer Route durch die Innenstadt beim nächsten Fixpunkt angelangt. Livia Benedict organisiert, wer ans Mikrofon tritt. Die 16-Jährige ist von Anfang an dabei. Trotzdem will sie nicht als Sprecherin der Bewegung bezeichnet werden. Auch wenn sie das ist, irgendwie. Livia beantwortet Medienanfragen, organisiert Bewilligungen für die Kundgebungen, sitzt mit dem Erziehungsdepartement zusammen, um die Absenzregelung zu besprechen, und hilft dabei, andere Schüler zu mobilisieren – vor allem via Whatsapp, Facebook und Instagram. Auch auf Twitter ist die Bewegung vertreten. Unter #FridaysForFuture twittern Jugendliche aus der ganzen Welt. «Den Streik haben wir ganz bewusst auf einen Freitag gelegt, denn so hat es schon Greta Thunberg gemacht», sagt Livia.
Greta Thunberg, der Name ist mittlerweile vielen ein Begriff. Die 15-jährige Schülerin aus Schweden hat im vergangenen Sommer beschlossen, sich auf eigene Faust gegen den Klimawandel einzusetzen. Sie streikte erst die ganze Woche, später dann, um nicht den ganzen Schulstoff zu verpassen, jeden Freitag.
Und so beziehen sich viele Schweizer Klimastreikenden gerne auf Greta. Sie, die alles ins Rollen gebracht hat. Sie, die soeben vor Uno-Generalsekretär António Guterres eine Rede schwang, dabei die Politik als Ganzes nicht nur unverblümt kritisierte, sondern vor allem unmissverständlich zum Handeln aufforderte. Greta, die Millionen Klicks auf Youtube generiert. Und die nächste Woche in die Schweiz ans WEF kommt. Aus Schweden. Mit dem Zug. 65 Stunden lang. Denn wer lautstark nach null Treibhausgasemissionen schreit, der macht sich unglaubwürdig, wenn er um die Welt jettet.
Letzteres wissen auch die Basler Schüler. Trotzdem müssen sich viele von ihnen eingestehen, dass sie zu oft in ein Flugzeug steigen. Zwischen 2000 und 2017 hat die Zahl der Flugpassagiere in der Schweiz um 60% zugenommen. Das ist die Zeit, in der die jungen Klimastreikenden aufgewachsen sind. Ob ihre Generation tatsächlich am meisten fliegt – dazu haben weder das BFS noch das Bazl Statistiken. Klar ist aber: Im Schnitt fliegt jeder Schweizer – laut Zahlen aus dem Jahr 2015 – rund 9000 Kilometer jährlich. So auch viele der Schülerinnen und Schüler, die jetzt Transparente hochhalten, auf denen Dinge stehen wie «Ihr klaut uns unsere Zukunft». «Ich bin mir des Widerspruchs durchaus bewusst. Und ich will an meinem Lebensstil auch etwas ändern», sagt eine Schülerin. Denn es gehe ja nicht nur ums Fliegen, sondern ums Konsumverhalten im Allgemeinen.
Livia Benedict und ihre Mitstreiterinnen haben die Frage nach dem eigenen ökologischen Fussabdruck schon viel zu oft gehört, die leicht hochgezogenen Augenbrauen deuten es an. «Wir hören andauernd: ‹Was machst denn du fürs Klima?› Ich finde es wichtig, dass Klimaschutz beim Individuum anfängt, aber in unserer Bewegung geht es nicht primär darum.» Vielmehr wollen die Schüler die Politik zum Handeln zwingen. «Klar ist es für jeden Einzelnen gemütlicher, in die Ferien zu fliegen, als den Zug zu nehmen», sagt sie resigniert. «Genau deswegen muss sich die Politik einschalten und beispielsweise Abgaben auf Flugreisen verlangen.»
Joris Fricker stimmt ihr zu. Der 16-jährige Gymnasiast hält mit einem Freund ein riesiges Transparent in die Höhe. «Billigflüge sind einfach zu verlockend. Darum brauchen wir die Politik.» Aus eigenem Antrieb verzichte kaum jemand, das hätten die letzten Generationen ja gezeigt, fügt Livia an. «Ich hatte schon öfters Diskussionen mit meinen Eltern darüber, ob wir in die Ferien fliegen oder den Zug nehmen.»
Auch wenn sie die Politik in der Hauptverantwortung sehen: Die Schüler fangen auch bei sich selbst an. So hat das Schülerparlament des Gymnasiums am Münsterplatz kürzlich darüber diskutiert, Flugreisen für Klassenlager zu verbieten. Oder dass die Schüler gemeinnützige Arbeit leisten, wenn sich die Klasse entschliesst, für die Maturreise das Flugzeug zu nehmen. An einem anderen Basler Gymnasium ist das bereits Praxis.
Mittlerweile sind die Jugendlichen auf der Wettsteinbrücke angelangt, der Verkehr steht kurz still. Manche sind schon heiser vom vielen Rufen, trotzdem stimmen sie in die Sprechrufe ein. «Hopp, hopp, Klimawandel stopp!» Philippe wirft einen kurzen Blick aufs Handy, der Chat der Klimaaktivisten läuft auf Hochtouren. «Wir sind immer mit den anderen regionalen Bewegungen in der Schweiz in Kontakt», sagt er. Wie Livia ist auch er Teil des Basler Organisationsteams, steht via Whatsapp aber auch mit dem nationalen Team in Kontakt. Dort engagiert sich Patricia Kudrnac, die am Freitag in Zürich am Streik mitwirkt. Sie klingt am Telefon aufgekratzt, freut sich darüber, dass so viele Schüler sich der Bewegung anschliessen. Trotzdem macht sie klar, dass da noch Spielraum nach oben ist. «Wir sind uns einig, dass wir breiter abgestützt werden wollen, und hoffen, dass sich langfristig nicht nur Schüler und Studierende für das Thema interessieren.»
«Wir tauschen unsere Zukunft nicht gegen einen Billigflug nach Mallorca ein.»
Am 30. Dezember haben sich für das Klima Streikende aus der ganzen Schweiz in Bern getroffen. Auch Livia Benedict war dabei. «Wir waren rund 200 Leute, unter ihnen auch viele im Studienalter. In Arbeitsgruppen haben wir darüber diskutiert, wie die Bewegung aufgestellt werden soll.» Das nationale Team unterstützt die regionalen Organisationen bei Fragen. «Grundsätzlich ist aber jede regionale Gruppierung frei, ihre eigenen Veranstaltungen zu organisieren und auf kantonaler Ebene eigene Forderungen zu stellen.»
Dass das Thema ein breites Interesse findet, ist auch Philippe wichtig, der unterwegs ein Interview nach dem anderen gibt. «Die Krise muss jetzt als das behandelt werden, was es ist. Eine Krise». Die Forderung, dass die Schweiz den Klimanotstand ausrufen soll, ist ihm deshalb besonders wichtig. Das sei die Basis für das weitere Handeln der Politik. «Wir tauschen unsere Zukunft nicht gegen einen Billigflug nach Mallorca ein», ergänzt der 18-jährige Gymnasiast und schaut ernst in die Handykamera.
Medienwirksame Kommunikation beherrschen die Schüler. Das ist auch Bálint Csontos aufgefallen, dem Präsidenten der Grünen Baselland. «Die Aktivistinnen und Aktivisten sind Kommunikationsprofis, ausserdem sind sie teilweise besser informiert als ich.» Csontos hält sich am Rand des Demonstrationszugs, beobachtet und lacht ab und zu in sich hinein. Er freut sich über das Engagement der Schüler. Heute ist er nicht als Politiker vor Ort, sondern als Friedensstifter: Bei Bedarf soll er zwischen Demonstranten und Polizei vermitteln. Zu tun bekommt er nichts, die Stimmung ist gut, droht nie zu kippen.
Csontos ist beeindruckt von der Organisation, auch über die Grenzen hinweg. «Die Bewegung ist international, und genau das ist ihre Stärke.» Am 2. Februar ist in Basel die nächste Demonstration angesagt, dann wollen auch Studierende, Berufstätige und Eltern der Schüler auf die Strasse gehen, um sich mit der Bewegung zu solidarisieren. «Damit zeigen wir den Schülern, dass wir sie wo nötig unterstützen und dass sie weitermachen sollen. Aber es ist ihre Bewegung, und das soll auch so bleiben.»
Ihre Bewegung lassen sich die Schülerinnen auch nicht nehmen. Die Klimaseniorinnen, die einige Vertreterinnen an die Demo geschickt haben, erhalten zwar einmal das Wort am Mikrofon. Die Jugendlichen dominieren aber klar. «Von den Sekundarschulen sind ganze Klassen anwesend, manchmal sogar inklusive Lehrer», sagt Livia Benedict. Allgemein wünscht sich die 16-Jährige von der Schule und den Behörden aber mehr Unterstützung: «Wir haben schon mehrere Gespräche geführt und hoffen, dass wir fürs Streiken bald nicht mehr mit einer unentschuldigten Absenz bestraft werden.»
Aber warum demonstrieren sie nicht am Wochenende oder nach der Schule? Livia Benedict hat rasch eine Antwort parat: «Erstens hat schon Greta Thunberg den Streik als Mittel gewählt, um auf die Klimaproblematik aufmerksam zu machen. Und zweitens bekommen wir so viel mehr Aufmerksamkeit.» Und nach kurzem Überlegen schiebt Benedict nach, am 2. Februar würden die Klimaschützer erstmals an einem Samstag demonstrieren. «Man hat uns aber mitgeteilt, dass wir die Route durch die Innenstadt, die wir am Freitag jeweils nehmen, am Samstag nicht nehmen dürfen.»
Während sich der Zug der Schülerinnen und Schüler der letzten Station ihrer Route annähert, dem Münsterplatz, ist vom Justiz- und Sicherheitsdepartement zu hören, dass die Sache noch nicht entschieden sei: «Die Gespräche für die geplante Demonstration am 2. Februar sind noch im Gang», sagt Mediensprecher Toprak Yerguz. Jedes Gesuch für eine Demonstration werde einzeln geprüft. Diverse Faktoren müssten mit einbezogen werden – darunter auch Wochentag und Zeit.
Als schon niemand mehr mit ihm gerechnet hat, taucht Georg doch noch auf. Mitten auf dem Münsterplatz, der letzten Station der Demonstration. Livia hat ihn gefunden, und als sie ihn den wartenden Aktivisten ankündigt, erschallen wieder Rufe: «Georg, Georg, Georg!» Und dann beweist Georg mit seiner Rede, dass bei der Schülerbewegung zwar nicht immer alles durchgetaktet sein mag und ab und zu jemand nicht ist, wo er sein sollte. Dass die Jugendlichen aber gleichzeitig klare Forderungen haben. Mit den Klimastreikenden wird weiter zu rechnen sein.
ryn. Es wurden mehrere tausend Schülerinnen und Schüler gezählt, die am Freitag in 15 Schweizer Städten auf die Strasse gingen, darunter in Zürich, Luzern, St. Gallen, Aarau und mehreren Orten der Westschweiz. Allein in Lausanne zählte der jugendliche «Marsch für das Klima» rund 8000 Beteiligte. In St. Gallen stellte sich der für Umweltfragen zuständige Regierungsrat Marc Mächler (fdp.) in der Aula der Kantonsschule der Kritik der Schülerschaft.
Dort wie anderswo aber galt: Wer während der Schulzeit streikt, muss eine unentschuldigte Absenz in Kauf nehmen. Seit dem ersten Klimastreik im Dezember wurde die Absenzenfrage in mehreren Kantonen heiss diskutiert. Das Resultat: Die kantonalen Unterschiede sind gross, teilweise handhabt gar innerhalb eines Kantons jede Schule die Absenzen unterschiedlich. Option eins: der Freipass. In Genf, wo am Freitag erstmals gestreikt wurde, hatte das Bildungsdepartement den Lehrern empfohlen, im Unterricht morgens die Klimathematik zu behandeln. Sodann konnten die Schüler am Nachmittag am Streik teilnehmen – vorausgesetzt, ihre Eltern hatten im Vorfeld eine Absenz unterschrieben. Ob diese Regelung, die sich kurzfristig ergeben hatte, auch für künftige Streiks gilt, ist noch unklar.
Option zwei: Der Kompromiss. An einigen Kantonsschulen, wo Schüler einen freien Halbtag pro Semester beziehen können, plädierte die Schulleitung darauf, diesen für den Streik einzusetzen, beispielsweise in Zürich. Nicht alle Schüler wollten jedoch ihren freien Halbtag hergeben. Mit dem unentschuldigten Fehlen, so argumentierten sie, solle ein Zeichen gesetzt werden.
Option drei: die Sanktion in Form einer unentschuldigten Absenz, die im Zeugnis vermerkt wird. In Zürich erwartet die Schüler spätestens bei der zweiten Teilnahme am Klimastreik eine solche. Im Kanton St. Gallen, wo die Schulen zu Beginn noch Milde walten liessen, hat das Bildungsdepartement ebenfalls klargemacht, dass für Klimastreikende eine unentschuldigte Absenz eingetragen werde. Bereits wurden zwei politische Vorstösse dazu eingereicht. In Basel-Stadt gilt diese strikte Absenzenregelung seit dem ersten Streik. Conradin Cramer, der Vorsteher des Erziehungsdepartements, sagt, ihm sei das Anliegen der Streikenden zwar sympathisch, «doch gleichzeitig gibt es in unseren Schulen eine Absenzenordnung, die man nicht einfach ausser Kraft setzen kann».
Die Schüler wollen indes verhindern, dass sich ihr Engagement fürs Klima negativ auswirkt, indem unentschuldigte Absenzen später etwa bei der Stellensuche zum Problem werden. In Basel hat eine Schülerdelegation dem Erziehungsdepartement deshalb Vorschläge unterbreitet, Streik-Absenzen zu kompensieren – zum Beispiel mit gemeinnütziger Arbeit. «Wir schauen nun gemeinsam, ob es Möglichkeiten gibt, einen Mittelweg zu finden», sagt Departementsvorsteher Cramer.