Gastkommentar

Wege hin zur geldpolitischen Normalisierung

Die Zentralbanken sollten den Liquiditätsberg, den sie geschaffen haben, dem Markt wieder entziehen. Hierfür gibt es wirksame Instrumente. Die Frage ist nur, ob die Zentralbanken die nötige Unabhängigkeit haben, diese auch einzusetzen.

Ernst Baltensperger und Peter Kugler
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Je länger mit der Normalisierung der Geldpolitik zugewartet wird, desto schwieriger wird der Abschied von ihr werden. (Bild: Denis Balibouse / Reuters)

Je länger mit der Normalisierung der Geldpolitik zugewartet wird, desto schwieriger wird der Abschied von ihr werden. (Bild: Denis Balibouse / Reuters)

Die Notenbanken haben seit der Finanzkrise immense Mengen an Zentralbankgeld geschaffen, in den USA, Europa und anderswo, weil sie mit massiven Wertpapierkäufen die Wirtschaft stimulieren wollten, im Fall der SNB, weil sie mit ihren Devisenkäufen einer Überbewertung des Frankens entgegentreten wollte. Der Bestand an Zentralbankgeld, häufig auch «monetäre Basis» oder «Geldbasis» genannt, hat um ein Vielfaches zugenommen, in der Schweiz seit Ende 2008 etwa um den Faktor 7.

Die Gesamtgeldmenge hingegen, zu der auch das von den Banken geschaffene Depositengeld zählt, ist weit weniger stark gestiegen: die Geldmenge M1 rund um den Faktor 2, die etwas weiter gefasste Geldmenge M2, die im Gegensatz zu M1 auch die Spareinlagen einschliesst, geringfügig weniger. Der «Geldmultiplikator», der die Gesamtgeldmenge als Vielfaches der Geldbasis ausdrückt, ist also stark gefallen. Nicht zuletzt damit hat es zu tun, dass aus der Liquiditätsschwemme der Notenbanken bisher kein Inflationsschub geworden ist.

Dies wird häufig mit grosser Verwunderung festgestellt. In der Vergangenheit habe doch eine Zunahme der Geldbasis regelmässig und prompt zu einer vergleichbaren Zunahme der Gesamtgeldmenge, und etwas später dann zu einer Inflation, geführt, meinen viele.

Notorisch instabile Beziehung

Aber stimmt es denn wirklich, dass der Zusammenhang zwischen Zentralbankgeld und Gesamtgeldmenge früher so viel stabiler und zuverlässiger war als heute? Keine Spur. Wie häufig neigen auch hier viele dazu, die Vergangenheit idealisiert zu sehen. «Heute ist die gute alte Zeit von morgen», meinte Karl Valentin mit seinem verschrobenen Humor einmal dazu. Die Vorstellung vom stabilen Geldmultiplikator bis zur Finanzkrise von 2008 gehört ins Reich der Märchen. Der Weg von der Geldmenge zur Inflation ist zusätzlich noch einmal kompliziert. Mit diesen Schwierigkeiten musste die Geldpolitik schon immer fertigwerden.

Wir haben in unserem kürzlich erschienenen Buch über die Schweizer Währungsgeschichte den Zusammenhang zwischen Geldbasis und Geldmenge M1 von 1907 bis 2010 untersucht. Das Resultat: Diese Beziehung war notorisch instabil. In der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre ist der Geldmultiplikator förmlich zusammengebrochen, ähnlich wie nach der letzten Finanzkrise von 2008. Auch zwischendurch war er immer wieder beträchtlichen Schwankungen unterworfen, und im Verlauf der 1980er/90er Jahre stieg er scharf an. Verantwortlich für diese Instabilität war die Reservehaltung der Banken in der Form von Zentralbankgeld, die durch eine grosse Volatilität gekennzeichnet war.

Die SNB wurde sich dieser Volatilität nach dem Übergang zu einer Geldmengensteuerung in den 1970er Jahren rasch bewusst. Es erwies sich als sehr schwierig, den Geldmultiplikator zuverlässig zu prognostizieren, was mit ein Grund dafür war, dass die SNB bald einmal von Zielvorgaben für M1 zu solchen für die Zentralbankgeldmenge überging.

Die Vorstellung vom stabilen Geldmultiplikator bis zur Finanzkrise von 2008 gehört ins Reich der Märchen.

Auch wenn es schwierig ist, die Reservenachfrage der Banken exakt zu prognostizieren, so gibt es doch Einflussfaktoren, die relativ klar identifizierbar sind. So war der steile Anstieg des Geldmultiplikators nach 1980 bedingt durch die starke Abschwächung der Reservenachfrage der Banken, ausgelöst durch die kombinierte Einführung eines neuen Interbank-Clearing-Systems (SIC) und neuer (milderer) Liquiditätsvorschriften. Der Zusammenbruch andererseits, den der Geldmultiplikator im Zusammenhang mit der grossen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und dann wieder mit der grossen Finanzkrise von 2008 erfuhr, hat mit der krisenbedingten Verunsicherung aller Marktteilnehmer und den Niedrig- (oder gar Negativ-)Zinsen, die darauf folgten, zwei leicht erkennbare Gründe.

Verlorenes Vertrauen

Die Erschütterung des Banken- und Finanzsystems, die beide Perioden prägte, bewirkte eine starke Zunahme des Wunsches nach Sicherheit und Liquidität, nicht zuletzt auch bei den Banken. Die Banken verloren das Vertrauen zueinander, der Markt für Interbankkredite trocknete aus, und die Banken erhöhten ihre Bestände an Zentralbankgeld massiv. Diese Verunsicherung wirkt bis heute nach, in Europa nicht zuletzt auch, weil manche Banken nach wie vor labil und ungefestigt sind. Vertrauen, einmal erschüttert, lässt sich nur langsam wiedergewinnen.

Die Tiefzinspolitik, die auf die Krise folgte und von den Zentralbanken bis heute fortgeführt wird, hat die Ausdehnung der Zentralbankgeldbestände der Banken ihrerseits weiter verstärkt. In normalen Zeiten halten die Banken ihre Liquiditätsreserven knapp, weil sie auf anderen Anlagen deutlich höhere Renditen erwirtschaften können. Je geringer aber die Renditedifferenz zwischen zinstragenden Anlagen und Zentralbankgeld, desto grösser wird die Bereitschaft der Banken, Reserven in der Form von Giroguthaben bei der Zentralbank zu halten – sie also nicht in andere Aktiva zu tauschen –, nötigenfalls sogar zu (leicht) negativen Zinsen. Das ist genau, was die oft zitierte «Liquiditätsfalle» bedeutet.

Der Geldmultiplikator wird damit automatisch niedrig. Gegenwärtig bewegt er sich auf historischen Tiefstwerten (auch wenn er seit dem zweiten Quartal 2017 wieder leicht zugenommen hat). Aber historisch extrem sind ja auch das derzeitige Tiefzinsniveau und die Ausweitung der Geldbasis.

Anpassungsprozess absehbar

Wird dieser Zustand jetzt endlos fortbestehen und der Geldmultiplikator ewig so niedrig bleiben? Wohl kaum. Die krisenbedingte Verunsicherung wird irgendwann ein Ende nehmen, und die Zentralbanken werden früher oder später ihre Zinspolitik normalisieren. In den USA ist der Prozess der Zinserhöhung ja bereits im Gang, die anderen Zentralbanken werden folgen. Die Banken werden es dann bald einmal wieder vorteilhaft finden, ihre brachliegenden Mittel vermehrt auszuleihen und in zinstragende Anlagen zu investieren. Ihre Reservenachfrage wird fallen, und der Geldmultiplikator wird wieder steigen.

Dieser Anpassungsprozess muss nicht abrupt erfolgen und braucht nicht unbedingt zu den früher erreichten Niveaus zurückzuführen. Er kann immer wieder auch von technologischen und regulatorischen Einflüssen überlagert werden. Aber es wäre naiv, davon auszugehen, dass das Finanzsystem unbegrenzt im Modus der Gegenwart verharren wird.

Im Zuge einer solchen Normalisierung müssen die Zentralbanken den Liquiditätsberg, den sie geschaffen haben, wieder dem Markt entziehen oder immobilisieren, wenn sie verhindern wollen, dass er nachfragewirksam wird und zu einer Überhitzung der Wirtschaft und einem Inflationsschub führt. Die Instrumente dazu sind vorhanden und bekannt. Sie sind allerdings alle mit Nebenwirkungen verbunden, die starken politischen Widerstand auslösen dürften:

Vier Instrumente

Die Zentralbank kann erstens ihre Bilanz verkleinern, indem sie Assets aus ihrem Besitz verkauft und so dem Markt Liquidität entzieht. Dies trägt aber zum Rückgang der Preise dieser Assets und zum Zinsanstieg bei. Beifall von Politik und Publikum ist dabei nicht zu erwarten.

Zweitens kann die Zentralbank die Liquiditätsreserven der Banken verzinsen und die Banken so dazu bringen, diese Reserven freiwillig weiter zu halten. Das US Federal Reserve etwa geht diesen Weg schon heute. Es verzinst die Bankreserven mit einem Satz, der ihrem Leitzins (der sogenannten Federal Funds Rate) entspricht, zurzeit 2,4 Prozent.

Die SNB hat, drittens, die Option, Liquidität über die Ausgabe eigener verzinslicher Schuldtitel (SNB Bills) aus dem Markt zu nehmen. Die beiden letzten Möglichkeiten sind natürlich mit beträchtlichen (Zins-)Kosten für die Zentralbank verbunden – und letztlich für den Staat, der diese Kosten in Form geringerer Zentralbankgewinne tragen wird. Auch ihrem Einsatz könnte daher rasch einmal ein steifer politischer Wind entgegenwehen.

Viertens könnten die Mindestreserven auf Bankeinlagen angehoben werden, so dass bisher freiwillig gehaltene Reserven zu Pflichtreserven würden und dem Kreislauf entzogen wären. Dies hätte die Wirkung einer Zusatzsteuer auf Bankgeschäften. Banken und Bankkunden würden vermutlich Sturm dagegen laufen.

Die relevante Frage ist daher nicht, ob es technisch möglich ist, eine geldpolitische Normalisierung durchzuführen. Die entscheidende Frage lautet, ob die Zentralbanken die Kraft und Unabhängigkeit von Politik und Partikularinteressen haben werden, ihre verfügbaren Mittel gegen solche Widerstände rechtzeitig und adäquat einzusetzen. Hier ist ein grosses Fragezeichen angebracht.

Von selbst aber werden die Risiken nicht verschwinden, die mit der Politik der letzten zehn Jahre geschaffen worden sind. Je länger mit der Normalisierung der Geldpolitik zugewartet wird und je stärker die Zentralbankbilanzen im Zuge dieser Politik noch ausgeweitet werden, desto schwieriger wird der Abschied von ihr letztlich werden.

Ernst Baltensperger ist em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern; Peter Kugler ist em. Professor und ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Geld- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Basel. Sie sind Autoren von «Swiss Monetary History since the Early 19th Century», Cambridge University Press, 2017.