Adolf Hitler wollte die Wiege der russischen Revolution aushungern. Leningrad widerstand seinem Vernichtungswahn – zum Preis von bis zu einer Million Toten.
Fünf Millionen Ausländer sind letztes Jahr nach St. Petersburg gekommen. Am Newski-Prospekt ist kaum ein Durchkommen zwischen den weltberühmten Museen, Cafés und Stadtpalästen aus dem 19. Jahrhundert. Dass die Flaniermeile aber vor acht Jahrzehnten vom Krieg verheert wurde, ist inmitten ihrer heutigen Pracht nur schwer vorstellbar – es sei denn, man steht vor dem Haus mit der Nummer 14. Die frischen Blumen an der Fassade und der weisse Schriftzug sind leicht zu übersehen, doch die Botschaft ist eindringlich: «Bürger!», steht da, «bei Artilleriebeschuss ist diese Seite der Strasse am gefährlichsten.»
Die Warnung, so unscheinbar sie im Gewusel der Petersburger Hauptachse wirkt, ist ein Memento aus der Zeit der Blockade, als 2,5 Millionen Bewohner im Herbst 1941 in der Stadt eingeschlossen waren. Im Süden und im Westen standen die Deutschen, im Norden deren finnische Verbündete. 872 Tage lang war das damalige Leningrad vom Rest der Sowjetunion abgeschnitten. Als Versorgungsweg blieb einzig der Ladogasee, dessen Ostufer in den Händen der Roten Armee blieb. Auf seiner zugefrorener Oberfläche entstand im ersten Hungerwinter die «Strasse des Lebens», die wegen der Bombardements des Feindes und des tückischen Eises den Übernamen «Strasse des Todes» erhielt.
In den Monaten davor hatte die Wehrmacht die Sowjetunion überrollt; Josef Stalin schlug im Frühsommer 1941 alle Warnungen vor einer unmittelbar bevorstehenden deutschen Invasion in den Wind. Doch am 22. Juni überquerten 3,8 Millionen feindliche Soldaten die Grenze und drängten die Rote Armee zurück. Anfang September standen sie an der Nordfront vor den Toren Leningrads.
Für Hitler hatte die nach dem Führer der Oktoberrevolution benannte Stadt eine ähnlich grosse symbolische Bedeutung wie Stalingrad. Beseelt von Rassenhass gegen die Slawen und seinem Antikommunismus, wollte er die ehemalige Hauptstadt des Zarenreichs und die Wiege der Revolution von 1917 aushungern. «Feststehender Entschluss des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten», schrieb der deutsche Generalstabschef Franz Halder bereits im Juli 1941. Eine Eroberung schloss Hitler aus; die Invasionsarmee hatte grosse Probleme, die eigenen Einheiten zu versorgen. Die sowjetischen Zivilisten und Kriegsgefangenen in besetzten Gebieten litten Hunger. Dieser, so das zynische Kalkül der Nationalsozialisten, würde auch Leningrad in die Knie zwingen. Einer der ersten Bombenangriffe zerstörte denn auch das städtische Lebensmittellager vollständig.
Verantwortlich für die katastrophale Versorgungslage waren aber nicht nur die Deutschen, sondern auch die sowjetischen Behörden. Diese hatten kaum Vorräte angelegt und bis kurz vor Kriegsbeginn noch grosse Mengen an Lebensmitteln nach Deutschland exportiert. Im Rahmen des 1939 geschlossenen Nichtangriffspaktes zwischen Moskau und Berlin waren diese Lieferungen eine Gegenleistung für den Import von deutschen Industrieprodukten und Waffen.
Aus ideologischer Verblendung vermochte das Stalin-Regime zudem die Gefahr nicht realistisch einzuschätzen. Der Generalissimus hatte verkündet, die Sowjetunion werde jeden Feind sofort zurückschlagen. Evakuierungen waren nicht vorgesehen; entsprechende Pläne wurden erst während der Belagerung Leningrads ausgearbeitet und nur improvisiert umgesetzt. Zudem genossen Militär und Industrie bei der Versorgung Vorrang. Der Rest der Zivilbevölkerung fror und hungerte, zumal Strom und Heizmaterial in der blockierten Stadt rasch zur Mangelware wurden.
Als die Kommunistische Partei das Ausmass der Katastrophe im Dezember 1941 realisierte, war es schon zu spät. Über Monate waren die Essensrationen für den Grossteil der Bevölkerung reduziert worden – Ende November standen pro Tag und Person noch 125 Gramm Brot zur Verfügung, meist angereichert mit Sägespänen. 50 000 Menschen waren in dem besonders kalten Winter bereits verhungert. Den Höhepunkt erreichte das Sterben aber erst Ende Januar mit bis zu 10 000 Toten pro Tag.
Tagebücher von Leningradern vermitteln einen Eindruck der Hölle, in der diese lebten. Essen ist ein ständiges Thema. So schreibt der Ingenieur Gesel Gelfer stolz: «Ich habe eine neue Proteinquelle erfunden!», und meint damit einen Gelee aus Leim. Andere ernährten sich von Grassuppe und «Pfannkuchen» aus gemahlenem Kaffee. Die Behörden registrierten 2000 Fälle von Kannibalismus.
Assen die Erwachsenen nicht genug, wurden sie zu schwach zum Arbeiten und verloren ihren privilegierten Status bei den Rationen. Gaben sie ihren Kindern nicht genug davon ab, verhungerten diese.
Eindrücklich schildern die Leningrader ihren «Krieg mit dem Magen», der ihr gesamtes Verhalten diktierte. Familien, eigentlich Bastionen der Geborgenheit und Solidarität, sahen sich mit unmenschlichen Entscheidungen konfrontiert: Assen die Erwachsenen nicht genug, wurden sie zu schwach zum Arbeiten und verloren ihren privilegierten Status bei den Rationen. Gaben sie ihren Kindern nicht genug davon ab, verhungerten diese. Für alle reichte es nicht.
In einer jüngst von der Historikerin Alexis Peri publizierten Tagebuchsammlung beschreibt der damals 16-jährige Jura Rjabinkin die Tragödie seiner Familie. Er schildert, wie er mit seiner Mutter und seiner Schwester um jede Brosame streitet und, vom Hunger getrieben, heimlich deren Rationen isst. «Mutter schlägt mich jetzt manchmal, und sie verflucht mich ständig. Aber ich bin nicht wütend auf sie. Ich sehe, dass ich ein Parasit bin. Ja, der Tod, der Tod ist nahe. Und es gibt keine Hoffnung, nur die Angst, dass ich meine Mutter und meine Schwester dazu zwinge, mit mir unterzugehen.» Als die beiden im Dezember 1941 evakuiert werden, ist Jura zu schwach, um mitzugehen.
Er verhungerte, zusammen mit Hunderttausenden. Die Gesamtzahl der während der Belagerung und Evakuierung durch Hunger und Krieg Getöteten beträgt zwischen 800 000 und einer Million. Die Historiker Richard Bidlack und Nikita Lomagin nennen die Blockade Leningrads denn auch den grössten Völkermord im Zweiten Weltkrieg nach dem Holocaust. Erst im zweiten Jahr der Belagerung verbesserte sich die Lage der Zivilbevölkerung. Die Behörden trafen Vorkehrungen, liessen die Stadt reinigen, schufen Grünflächen und sorgten für die Kremation der Leichen.
Am 5. April 1942 befahl Hitler, Leningrad einzunehmen. Das Patt im Norden, wo die Wehrmacht 32 Prozent ihrer Truppen an der Ostfront stationiert hatte, schwächte die Offensive im Süden, wo sie in Richtung Stalingrad marschierte. Stalin hingegen wollte Leningrad nun endlich befreien. Das Oberkommando befahl deshalb 1942 mehrere Offensiven, die teilweise katastrophal scheiterten. Die Kämpfe in den Wäldern und Sümpfen des Nordens waren enorm opferreich für beide Seiten, brachten aber keinen entscheidenden Durchbruch. Die Rote Armee verlor an der Leningrad-Front über eine Million Mann an Gefallenen, Gefangenen und Vermissten. Etwa 580 000 Angehörige der Wehrmacht kehrten nie aus dem Nordwesten der Sowjetunion zurück.
Erst 1943 errangen die sowjetischen Truppen einen wichtigen Erfolg: Am südlichen Ufer des Ladogasees kämpften sie einen kleinen Korridor frei und beendeten so die Isolierung Leningrads auf dem Landweg. Am 7. Februar, dem 517. Tag der Belagerung, erreichte der erste Zug die Stadt. Mehrere tausend Züge folgten ihm auf dem «Spiessrutenlauf des Todes»: Die deutsche Artillerie beschoss die Strecke ständig, weshalb Arbeiter die Schienen im Verlauf des Jahres 1200 Mal reparieren mussten. Die Luftangriffe auf die Stadt erreichten im Herbst gar eine neue Intensität.
Auf ihre Befreiung wartete die nördliche Hauptstadt bis zum 27. Januar 1944, als die Rote Armee im Rahmen der Leningrad-Nowgorod-Operation den Belagerungsring sprengte. Laut dem Militärhistoriker David Glantz stellte diese Offensive den Auftakt zum Vorstoss ins Baltikum und zur Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Mitte in Weissrussland dar. Über Leningrad stiegen Raketen in den Himmel, aber keine todbringenden, sondern solche, die mit einem Salut den Sieg feierten. Am 1. Mai 1945, kurz vor Kriegsende, erhielt die Metropole als erste den Ehrentitel «Heldenstadt». Bis heute erinnert daran ein Obelisk beim Platz des Aufstandes.
Wie keine andere Stadt mit Ausnahme Stalingrads war Leningrad am Ende des Krieges zu einem fast religiös aufgeladenen Symbol geworden für den Widerstandswillen und den Sieg über Hitler-Deutschland. Doch für Stalin wurde sie auch zur Konkurrenz, da die Stadtväter über Jahre ausserhalb von Moskaus Kontrolle politische Loyalitäten aufgebaut hatten. Populäre Stadtväter wie Alexei Kusnezow, der Erste Sekretär der Leningrader Partei, vertraten zudem eigene Ideen über eine wirtschaftlich-ideologische Öffnung der Stadt und wussten Bescheid über die Fehler des Kremls bei der Versorgung Leningrads, die zur Hungerkatastrophe geführt hatten. Ende der vierziger Jahre fiel die Stadtführung im Zuge der «Leningrader Affäre» einer Intrige zum Opfer. Zahlreiche Parteimitglieder wurden wegen angeblichen Verrats verhaftet, 23 Führungsfiguren hingerichtet.
Die «Leningrader Affäre» war auch eine symbolpolitische Zäsur. Das Leiden der Leningrader durfte nicht länger einen einzigartigen Status haben, es wurde Teil des gesamtsowjetischen Heldenmythos. Die Parteiführung schloss das während des Krieges eingerichtete Museum der Blockade. Erst nach Stalins Tod wurde das Kriegsgedenken wieder öffentlich zelebriert, und unter Leonid Breschnew entwickelte sich ab den sechziger Jahren ein eigentlicher Kult. Für Leningrad gipfelte dieser in der Eröffnung des pompösen Kriegsdenkmals an der Strasse zum Flughafen am 9. Mai 1975, dem dreissigsten Jahrestag des Sieges.
Doch es blieben Tabus: Die zivilen Opfer passten nicht ohne weiteres ins starre Korsett des Heldenmythos. Erst gegen Ende der Sowjetzeit rückten sie wieder ins nationale Bewusstsein, wobei die Publikation des «Blockadebuchs» 1979 einen Meilenstein darstellte. In St. Petersburg blieb die Erinnerung aber stets lebendig, hatte doch fast jede Familie Opfer zu beklagen. An Gedenktagen treffen sich die Petersburger zu Trauerfeiern, legen Blumen auf dem Piskarjowskoje-Friedhof nieder oder putzen die Gräber ihrer Vorfahren.
Seit Wladimir Putins Machtantritt prägt wieder militärisches Heldentum die Gedenkkultur; auch zum 75. Jahrestag der Befreiung Leningrads darf die pompöse Parade nicht fehlen. Doch im Gegensatz zu den oft formal wirkenden Ritualen zeigt sich der meist emotionslos wirkende Präsident bei der Erinnerung an die Blockade von einer persönlichen Seite: 2004 erzählte er erstmals die Geschichte seiner Familie, die Helden und Opfer in sich vereint: Sein Vater wurde bei Leningrad schwer verwundet, sein älterer Bruder verhungerte während der Blockade. Seine Mutter überlebte nur knapp. Sie erholte sich, weil ihr Mann und ihr Bruder die Lebensmittelrationen mit ihr teilten. Erst 1952 gebar sie ein weiteres Kind – Wladimir Putin.
Anm. d. Red.: Eine frühere Version des Artikels enthielt folgendes Zitat: «Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen.» Dessen Datum und genaue Formulierung lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei bestätigen. Klar ist aber, dass Adolf Hitler im Herbst 1941 mehrfach seine Absicht äusserte, Leningrad auszuhungern, so etwa im November 1941. An die Stelle des alten Zitats wurde deshalb folgende Aussage des deutschen Generalstabschefs Franz Halder gesetzt: «Feststehender Entschluss des Führers ist es, Leningrad dem Erdboden gleich zu machen».