Der Mensch hat die Natur zu seinem Gott gemacht. Doch die Natur ist nicht für den Menschen gemacht. Er sollte sich vor ihr in acht nehmen.
Wenn Michelangelo sein «Jüngstes Gericht» in der Sixtinischen Kapelle heute zu malen hätte, nach den Vorgaben des Zeitgeistes, wäre das Bild nicht wiederzuerkennen. An die Stelle des apollinisch schönen Christus, der die einen zu Recht verdammt und die anderen unverdientermassen, aus gratis gewährter Gnade, freispricht, träte ein kombiniertes Stickstoffoxyd-Feinstaub-Messgerät, dessen Display der mehr oder weniger abgassündigen Menschheit ihr Urteil anzeigen würde.
Umringt wäre dieser neue, unfehlbar gerechte Weltenrichter nicht mehr von der Schar der Apostel, sondern von den Umweltheiligen der letzten Tage: denen, die als Ausweis ihrer Gerechtigkeit lebenslange Diesel-Abstinenz und weniger als ein Dutzend Flugreisen vorweisen können und daher ins schadstofffreie Paradies aufsteigen können. Und den anderen, die in eine Hölle abstürzen, in der die Verworfenen nicht mehr sadistisch veranlagten Teufeln mit glühenden Dreispitzen ausgeliefert sind, sondern für alle Ewigkeit in endlosen Verkehrsstaus CO2-umnebelt ausharren und, statt der seligen Schau frühlingsgrüner Wälder und blühender Wiesen teilhaftig zu werden, öde Landschaften mit absterbenden Bäumen und horizontfüllenden Braunkohlehalden betrachten müssen.
Eine geschmacklose Travestie des Sakralen, die den Helfern der Menschheit anno 2019 perfide in den Rücken fällt? Mitnichten: Hinter dem veränderten Bild steht, nüchtern betrachtet, eine neue Theologie, die sich als Ökologie ausgibt: Der Mensch ist nicht mehr einem Gott, wie immer man sich ihn auch vorstellen mag, sondern der Urmutter Natur Rechenschaft schuldig. Mehr noch: Die Natur ist selbst Gottheit geworden.
Das ist an sich keine neue Idee. Schon für den grossen jüdischen Philosophen Spinoza fielen vor mehr als dreihundert Jahren Natur und Gott weitestgehend in eins. Für die Theologen aller christlichen Konfessionen war das eine ungeheure Provokation, denn in ihren Augen war die Natur durch den Sündenfall irreparabel beschädigt – in ihr lauerte die «concupiscentia», der unheilbare und unstillbare Trieb des Menschen zum Bösen, so dass der Mensch von der Natur erlöst werden musste, statt in ihr seine Seligkeit zu finden.
Der Mensch ist nicht mehr einem Gott, wie immer man sich ihn auch vorstellen mag, sondern der Urmutter Natur Rechenschaft schuldig.
Doch von dieser komplexen Synthese, die Spinoza mit den damals aktuellsten Erkenntnissen der Mathematik und Physik in Übereinstimmung zu bringen suchte, ist die heutige Vergöttlichung der Natur weit entfernt. Sie läuft auf eine fade Romantisierung, ja auf eine heillose Verkitschung hinaus. Und dieser neue Kult wird so hemmungslos betrieben, dass man sich darüber wundert, dass die etablierten Kirchen gegen diese Ersatzgott-Anbetung nicht Widerspruch einlegen.
Wie weit dieser Prozess vorangeschritten ist, zeigte sich Ende Dezember 2004, als ein gigantischer Tsunami an Asiens und Afrikas Küsten 230 000 Menschen das Leben kostete. Danach konzentrierte sich die nachfolgende «Wer ist schuld?»-Debatte fast ausschliesslich darauf, was die «politisch Verantwortlichen» alles falsch gemacht hätten: fehlende Warnsysteme, zu viele Hotelbauten zu nah an der Küste und so weiter; die «Natur» aber wurde nicht ernsthaft in die Fahndung nach Ursachen und Missetätern einbezogen.
Völlig verloren ging dabei, dass diese Diskussion 249 Jahre zuvor schon einmal, allerdings auf sehr viel höherem Niveau und vor allem sehr viel differenzierter, geführt worden war – mit Ergebnissen, die als heilsames Sedativum für den akut grassierenden Natur-Enthusiasmus des Jahres 2019 dienen können. In den Morgenstunden des 1. November 1755 erschütterte ein heftiges Erdbeben die portugiesische Hauptstadt Lissabon. Viele, vor allem ältere Bauten stürzten ein, Grossbrände zerstörten ganze Strassenzüge, doch die eigentliche Katastrophe liess noch etwas auf sich warten; sie kam kurz darauf in Gestalt einer gewaltigen Flutwelle, die die tiefer gelegenen Quartiere am Tejo-Ufer mit einer Urgewalt überschwemmte, der Zehntausende von Menschen zum Opfer fielen.
In der nachfolgenden Schockstarre wartete das intellektuelle Europa darauf, dass sich Voltaire, der Meinungsführer der europäischen Aufklärung, mit einer Erklärung des unfassbaren Geschehens zu Wort meldete. Seine Deutung liess denn auch nicht lange auf sich warten. Überraschend war allein, dass sich der bis heute unübertroffene Meister der ironisch subversiven Prosa in Versform äusserte, und zwar aus gutem Grund, wie sich den Lesenden schnell erschliesst.
Sein «Poème sur le désastre de Lisbonne» (Gedicht über das Unglück von Lissabon) zieht alle sprachlichen und emotionalen Register: von Mitleid und Trauer bis zu Empörung, Wut und Auflehnung, ist also bei allem bitteren Sarkasmus, der es auch durchtränkt, passagenweise von pathetischer Feierlichkeit und insgesamt von der unerbittlich bohrenden Suche nach dem Sinn geprägt – nicht nur dem Sinn der Katastrophe, sondern der menschlichen Existenz überhaupt.
Im Mittelpunkt steht naturgemäss die Schuldfrage: Warum diese Vernichtung, warum diese Stadt, warum dieser Tag? Dabei hätte es sich der grosse Spötter über das Christentum und Feind aller Monopolreligionen, also speziell des Katholizismus in Frankreich, leichtmachen können: Erdbeben und Tsunami schlugen ja gerade zu dem Zeitpunkt unerbittlich zu, als sich die Gläubigen am Allerheiligentag zum Gottesdienst in die Kirchen drängten.
Wie kann eine Welt gut sein, die darauf beruht, dass das Leben der einen Geschöpfe auf der Vernichtung der anderen beruht?
Die sarkastische Pointe hätte also gelautet: So straft der Herr seine Gläubigen. Doch diese naheliegende Wendung ist nicht das letzte Wort. Stattdessen dekliniert Voltaire das gesamte Sinnangebot durch, das Philosophie und Gottesgelehrsamkeit ab der Antike zur Verfügung stellten, als da waren: Strafe für die sündige Menschheit im Allgemeinen und für die Lissabonner im Besonderen; heilsame Warnung zur sittlichen Besserung; Vorherbestimmung seit Anbeginn der Zeiten; Erschaffung der Welt durch den Teufel oder durch einen ohnmächtigen Gott, dem die Schöpfung durch seinen bösen Gegenspieler aus den Händen gewunden wurde.
Alle diese Deutungen werden geprüft und verworfen. Blieb noch die These, dass die Welt, so wie sie ist, die beste aller Welten ist, gegen deren grosse Vorzüge kleine Störfälle wie der Untergang Lissabons nicht wirklich ins Gewicht fallen. Speziell an dieser letzten These, die Voltaire im Werk des deutschen Philosophen Leibniz fand (und gegen die er seinen nachtschwarzen Kurzroman «Candide» schreiben wird), arbeitet er sich genussvoll ab.
Dabei gerät ihm die Natur ins Fahndungsvisier: Was tut sie uns nicht alles an – vom 1. November 1755 ganz abgesehen. Diese vermeintlich liebe Mutter schenkt uns die grausigsten Krankheiten aller Art und beglückt uns mit dem erbarmungslosen Kampf ums Dasein, das vom Prinzip des «Fressens und Gefressenwerdens» beherrscht wird. Wie kann eine Welt gut sein, die sich darauf gründet, dass das Leben der einen Geschöpfe auf der Vernichtung der anderen beruht? Und, zentrale Frage, wie verträgt sich diese Weltordnung mit der Vorstellung eines gütigen Schöpfers und einer den Menschen bergenden und behausenden Natur?
Am Ende seines Gedichtes gibt Voltaire keine Antwort auf diese Fragen, doch gerade deshalb bleibt die Idee eines lieben Gottes und einer für den Menschen geschaffenen Natur auf der Strecke: Der Mensch wird in ein Dasein geworfen, das er nicht versteht, und Kräften ausgeliefert, die ihn vernichten, ohne dass er weiss, warum – der «Mythos von Sisyphos» klingt hier an, zweihundert Jahre vor Camus. Doch dominiert unter dem Strich das Prinzip Widerstand: In einer Welt mit einer wahllos zeugenden und vernichtenden Natur, in einem Dasein zum Tod sind die Menschen dazu aufgerufen, sich solidarisch zusammenzuschliessen und ohne Glaubenskriege das Licht der Vernunft, das ihnen als alleinige Orientierung in der Finsternis dient, weiter auszubilden.
Mit dieser Tabula rasa aller Lebensbehübschungen erregte Voltaire heftigen Unwillen bei den Wohlgesinnten, vor allem bei Jean-Jacques Rousseau, seinem ideologischen Widerpart schlechthin. Rousseau machte eine Gegenbilanz zum 1. November 1755 auf: Hätten die Menschen im besten Stadium ihrer geschichtlichen Entwicklung, nämlich im einfachen Leben in einfachen Dörfern mit einfachen Hütten, verharrt, wären ihnen nicht stuckverzierte Marmordecken, sondern nur Strohballen auf den Kopf gefallen; und hätten sie Gott, wie es sich gehörte, statt in Kirchen in freier Natur unter freiem Himmel verehrt, hätten sie auch der Flutwelle entkommen können. Mit anderen Worten: Die Überzivilisation war schuld und damit der Mensch. Mit diesem Votum bestimmt Rousseau die Sicht der Dinge bis heute.
Dabei wäre – wie überhaupt in sehr vieler Hinsicht – mehr Voltaire für unsere Gegenwart von grossem Nutzen. Und damit mehr Differenzierung: Natürlich ist es 2019 dringend geboten, die Klimaerwärmung mit allen Mitteln, durch staatliche Massnahmen wie durch Umdenken im persönlichen Lebensstil, zu bekämpfen. Doch sollte dieses uneingeschränkt gültige Prinzip nicht zur Religion und damit zum Fanatismus eskalieren. Die Natur als Idylle aus Blümlein und Bienlein (die es natürlich trotzdem zu schützen gilt) ist eine Erfindung von Philosophen, die nie einem Huhn den Kopf abgeschlagen haben. Die Welt, in der der Mensch lebt, ist nicht für ihn gemacht. Daraus folgt eine Doppelstrategie: die Natur schützen – und sich vor ihr in acht nehmen.
Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. 2018 ist bei C. H. Beck sein neues Buch «Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt» erschienen.