Tierische Rechenkünstler: Subtrahieren und addieren kann überlebenswichtig sein

Im Zählen und Rechnen stehen manche Tiere Vorschulkindern in nichts nach. Manche erlernen sogar das Konzept der Null. Das wirft ein neues Licht auf die Beziehung zwischen Grösse und Leistung eines Gehirns.

Katharina Dellai-Schöbi
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Der Kluge Hans beim Rechnen mit seinem Besitzer Wilhelm von Osten; Bild von Anfang des 20. Jahrhunderts. (Bild: Okapia)

Der Kluge Hans beim Rechnen mit seinem Besitzer Wilhelm von Osten; Bild von Anfang des 20. Jahrhunderts. (Bild: Okapia)

Zwei Tiger gehen in eine Höhle, einer kommt wieder raus. Ist die Höhle sicher? Die Antwort auf diese Frage kann über Leben und Tod entscheiden – und zeigt, wie wichtig für Tiere zumindest ein rudimentäres Verständnis für Zahlen sein kann. Trotzdem waren selbst Forscher überrascht, als sie in den 1990er Jahren erste Belege dafür fanden, dass auch Bienen und nicht nur manche Wirbeltiere, wie Papageien oder Schimpansen, zählen können. Und nicht nur das: Nun haben Adrian Dyer von der RMIT University in Melbourne, Australien, und seine Kollegen herausgefunden, dass die Insekten sogar rechnen können.1 Das wirft ein neues Licht auf die Beziehung zwischen der Grösse eines Gehirns und seiner Leistung.

Das Konzept der Null

Der Kluge Hans aus Berlin war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Sensation: Das Pferd konnte offenbar rechnen. Seine Resultate stampfte Hans so treffsicher mit dem Huf auf den Boden, dass sogar die internationale Presse über ihn berichtete. Allerdings wurden seine numerischen Fähigkeiten bald als Resultat unbewusster nonverbaler Kommunikation entlarvt: Hans konnte nicht rechnen, sondern reagierte auf feinste, unbewusste Nuancen in Gesichtsausdruck und Körpersprache seines Besitzers – was zwar auch eine beeindruckende Leistung war, aber mit Mathematik nichts zu tun hatte. Die unbewusste Beeinflussung des Verhaltens von Versuchstieren ging als «Kluger-Hans-Effekt» in die Geschichte der Wissenschaft ein.

Mittlerweile konnten Wissenschafter aber bei Tieren tatsächlich numerische Fähigkeiten nachweisen. So können unter anderem Affen, Hunde, Pferde, Papageien, Fische oder Salamander aus zwei Mengen diejenige mit mehr (oder weniger) Elementen auswählen. Einige Arten können auch zählen oder sogar einfache Additionen und Subtraktionen lösen. Erste Hinweise darauf, dass auch Honigbienen zählen können, beobachteten Forscher in den 1990er Jahren. In einem Experiment verliessen sich manche der Insekten bei der Futtersuche nämlich nicht auf die zurückgelegte Distanz, sondern auf die Anzahl überflogener Orientierungshilfen.

Dyer und seine Kollegen zeigten dann 2018, dass Bienen auch das Konzept von «mehr als» und «weniger als» lernen und verstehen, dass eine leere Menge, also die Null, am unteren Ende einer Zahlensequenz liegt.2 Dass null nichts ist, mag uns logisch erscheinen, ist aber schwierig zu erlernen. Kinder benötigen dafür laut Dyer mehrere Jahre. Lange wurde diese Fähigkeit daher nur dem Menschen zugeschrieben – bis Studien zeigten, dass auch manche Affen, Graupapageien und eben auch Bienen das «Konzept der Null» verstehen.

Von Experimenten mit der Schimpansin Sheba und dem Graupapagei Alex weiss man, dass zumindest manche Affen und Vögel auch ein Verständnis von Symbolen erlernen können, also zum Beispiel die Ziffer 4 als «vier» interpretieren können. Sheba war in der Lage, zwei Sets mit Elementen bis zu einer Summe von vier zu addieren, Alex gar bis zu einem Total von sechs. Die Schimpansin konnte zudem zwei arabische Ziffern addieren. Das Resultat der Rechnung gaben die Tiere jeweils als Symbol an. Sheba wählte eine Karte mit der entsprechenden Ziffer, Alex sprach das Zahlwort aus.

Eine Million Neuronen

In ihrer neuen Arbeit haben Dyer und sein Team nun gezeigt, dass Bienen auch lernen können, eine Farbe als Symbol für eine Addition oder Subtraktion zu erkennen. Im Experiment mussten die Insekten durch einen Y-förmigen Kasten fliegen. In einer ersten Kammer sahen sie eine gewisse Anzahl blauer oder gelber Elemente – das konnten Quadrate sein, Kreise, Dreiecke oder Rhomben. In der nächsten Kammer mussten die Tiere sich für einen der beiden Y-Äste entscheiden: Waren die Elemente in der Kammer blau gewesen, mussten sie denjenigen Ast wählen, an dessen Eingang ein Element mehr zu sehen war als zuvor (Addition). Waren in der vorherigen Kammer gelbe Elemente gewesen, mussten sie in den Ast fliegen, an dessen Eingang ein Element weniger abgebildet war, als sie zuvor gesehen hatten (Subtraktion). Die Bienen mussten also lernen, blau mit einer Addition und gelb mit einer Subtraktion zu assoziieren. Die Elemente an beiden Ästen hatten dabei jeweils die gleiche Farbe wie die Elemente in der Kammer. Rechneten die Bienen richtig, erhielten sie eine Zuckerlösung, verrechneten sie sich, gab es eine bittere Flüssigkeit.

Die Arbeit zeigt laut Dyer, dass Honigbienen nicht nur die Regeln fürs Zählen, Addieren und Subtrahieren verstehen und im Langzeitgedächtnis abspeichern können, sondern auch mehrere Zahlen im Arbeitsgedächtnis verarbeiten können. Ausserdem war die zu addierende oder subtrahierende Zahl (1) nicht direkt sichtbar, sondern ein abstraktes Konzept, das die Bienen erst erlernen mussten.

Für diese numerischen Fähigkeiten braucht es offenbar kein grosses Gehirn: Ein Bienenhirn hat weniger als eine Million Nervenzellen. Ein menschliches Gehirn besitzt im Gegensatz dazu rund 86 000 Millionen Neuronen. Bei Primaten werden numerische Aufgaben laut Dyer hauptsächlich im hinteren Teil des Scheitellappens und im vorderen Teil des Frontallappens verarbeitet. Welche Gehirnregionen die Biene für ihre Rechenkünste benutzt, ist noch unklar.

Beute zählen

Besser erforscht ist die Frage, weshalb Tiere überhaupt einen Sinn für Zahlen entwickelten, wie ein Themenband der «Philosophical Transactions of the Royal Society B» aufzeigt.3 Kleine Fische zum Beispiel finden in einem Schwarm Schutz vor Raubtieren, und je grösser der Schwarm ist, desto besser ist jeder einzelne geschützt. Für die Fische ist es daher sinnvoll, die Zahl der Tiere eines Schwarms abschätzen zu können. Beutegreifer wiederum profitieren von der Fähigkeit, Mengen zu unterscheiden, wenn sie aus mehreren Beutegruppen auswählen. Zum Teil können sozial lebende Säuger wie etwa Löwen oder Wölfe zudem anhand der Anzahl Rufe abschätzen, wie gross eine rivalisierende Gruppe ist, und sich entsprechend für Kampf oder Flucht entscheiden.

Auch bei der Fortpflanzung können numerische Fähigkeiten helfen. Der in Süd- und Mittelamerika heimische Tungara-Frosch (Engystomops pustulosus) etwa versucht, seine Rivalen mit seinem Lockruf um mindestens einen Ton zu übertreffen und mehr Erfolg bei den Weibchen zu haben. Dafür fügt er dem Ruf flexibel bis zu sechs besonders attraktive Extratöne hinzu. Laut den Wissenschaftern ist das ein Hinweis darauf, dass der Frosch zumindest bis sechs zählen kann.

Auch Insekten dürften in freier Natur von der Fähigkeit, zu zählen, profitieren. Es ergibt beispielsweise keinen Sinn, bereits besuchte – und somit leere – Nektarblätter ein weiteres Mal anzufliegen. Eine Studie mit Hummeln zeigte, dass die Tiere tatsächlich nur sehr selten ein Nektarblatt zweimal anflogen. Dyer und seinen Kollegen räumen allerdings ein, dass der direkte Nutzen von Additionen und Subtraktionen für eine Honigbiene weniger offensichtlich ist. Die Fähigkeiten jedoch, die für das Lösen solcher Aufgaben nötig seien, also das Sammeln, Speichern und die Verarbeitung visueller Informationen, dürften sehr wohl nützlich sein. So können Bienen beispielsweise lernen, welche Blütenfarben, -formen oder -grössen gute Ressourcen versprechen und welche nicht.

¹Science Advances, Online-Publikation vom 6. Februar 2019; 2 Science 360, 1124–1126 (2018); Philosophical Transactions of the Royal Society B, Online-Publikation vom 1. Januar 2018.