Interview

Niall Ferguson über die Kultur an Unis: «Als Rechter bist du ein potenzieller Nazi. Kommunisten hingegen sind moralisch einwandfreie Sozialdemokraten»

Er zählt zu den wichtigsten Historikern der Gegenwart. Im grossen Gespräch rechnet Niall Ferguson mit dem Wohlfühldenken vieler Kollegen ab: Er legt offen, wie die Linke die angelsächsischen Universitäten gekapert hat. Und wie jene, die ständig von Inklusion sprechen, Andersdenkende konsequent exkludieren.

René Scheu, Stanford
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Der in Harvard lehrende Historiker Niall Ferguson betrachtet die Gegenwart immer wieder durch die Linse der Vergangenheit. (Bild: Caro / Fotofinder)

Der in Harvard lehrende Historiker Niall Ferguson betrachtet die Gegenwart immer wieder durch die Linse der Vergangenheit. (Bild: Caro / Fotofinder)

Herr Ferguson, nicht erst jetzt debattieren die USA über die Freiheit des Denkens und Forschens an den Universitäten. Der Philosoph Allan Bloom beschrieb bereits 1987 eine Tendenz, die er «the closing of the American mind», das Sich-Verschliessen des amerikanischen Geistes, nannte. Seine Hauptthese könnte aktueller nicht sein: Ein kultureller Relativismus killt das kritische Denken und das anständige Verhalten. Erleben wir gegenwärtig die Wiederkehr einer alten Debatte?

Nicht ganz – Bloom bezog sich, wenn ich so sagen darf, auf die guten alten Zeiten. Und ich würde mich freuen, hätten wir es heute bloss mit seiner Sorge über einen wachsenden Relativismus zu tun. Dann hätten wir guten Grund, darüber zu lachen und uns zu entspannen. Doch es steht viel mehr auf dem Spiel.

Welches ist denn Ihre grosse Sorge?

Der Psychologe Jonathan Haidt hat jüngst ein Buch mit dem Titel «The Coddling of the American Mind» publiziert. Und das Kuscheln des amerikanischen Geistes ist zweifellos viel folgenschwerer als dessen Sich-Verschliessen. Es geht dabei nicht um ein intellektuelles, sondern um ein moralisches Problem – die Hypersensibilität von Studenten. Aus Angst, Ideen könnten schmerzen, wollen sich die jungen Leute mit ihren unangenehmen Ideen gar nicht mehr beschäftigen. Studenten sind zu Schneeflocken geworden, die man vor gefährlichen Gedanken beschützen muss – und das an Universitäten, die es letztlich nur zu dem einzigen Zweck gibt, dass ein freier Ideenaustausch stattfinden kann.

Die Korrektheit siegt über die Wahrheit. Aber es ist doch letztlich nur eine kleine Minderheit von Studenten, die diese Agenda publikumswirksam vorantreibt . . .

Sicherlich eine Minderheit, aber eine machtvolle. Viele Professoren und Verwalter sind längst eingeknickt. Und hier rühren wir an das eigentliche Problem, das ich – in Anspielung auf Bloom – gern das Sich-Verschliessen des amerikanischen Campus nennen möchte. Nicht nur die Geister einzelner Individuen machen dicht, nein, die Institutionen selbst beginnen sich abzuschotten.

Wie meinen Sie das genau?

Ich bin seit den 1980er Jahren in der Akademie unterwegs, ich habe seither an vielen Elite-Unis unterrichtet: Cambridge, Oxford, New York, Harvard. Der Stimmungswandel, der in den letzten dreissig Jahren stattgefunden hat, ist tiefgreifend. Ich muss es so direkt wie simpel sagen: Die Linken haben die Macht übernommen. Und sie, die sich in der Theorie für die Inklusion starkmachen, haben in der Praxis alle Andersdenkenden konsequent exkludiert.

In den 1980er Jahren hiess es: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heisst es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen.

Sie übertreiben. Das klingt ja fast schon nach einem Komplott – oder einer Verschwörungstheorie.

Es ist weder das eine noch das andere. Schauen Sie: In den 1980er Jahren gab es noch einige konservative Historiker. Sie waren zwar damals schon in der Minderheit, aber sie wurden ernst genommen, so wie alle, die etwas zu sagen hatten. Es gab in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten eine breit geteilte intellektuelle Neugierde, eine echte Vielfalt der Gebiete und Themenzugänge, es fanden richtige Debatten statt, die von Erzkonservativen bis hin zu Marxisten geführt wurden. Man konnte alles sagen, was Hand und Fuss hatte, alle Thesen waren debattierwürdig. Man schenkte sich nichts – aber man achtete sich. So war es damals in Oxford.

Und heute?

Heute herrscht ein Regime, das sich von einer solchen offenen akademischen Gesellschaft nicht stärker unterscheiden könnte. In diesem Regime sind Professorinnen von Gendergeschichte gefragt, ein neuer Professor für – sagen wir – Militärgeschichte ist im Gegenzug undenkbar geworden.

In den 1980er Jahren war ja noch die gute alte Elite an der Macht. Was genau ist seither geschehen?

Diese Elite war nicht so gut. Die konservativen und liberalen Akademiker sind chaotische Zeitgenossen und ziemlich mies in der akademischen Folgeplanung. Sie sind mit ihren Studien beschäftigt, schreiben Bücher und kümmern sich kaum um Machtpolitik. Anders die sogenannt Progressiven – sie sind oftmals die eigentlichen Karrieristen, und ihre Schriften dienen ihnen bloss als Mittel zum Zweck. Darum legen sie oftmals auch wirklich lausige Aufsätze und Bücher vor. Aber das spielt keine Rolle, denn auf die richtige Herkunft kommt es an. Wenn heute ein Professor für moderne deutsche Geschichte an einer amerikanischen Fakultät emeritiert wird, nun, dann wird er eben durch eine junge Professorin mit Schwerpunkt Geschichte der amerikanischen Ureinwohner ersetzt. Und es ist ja nicht so, dass ich mir das irgendwie zusammenreime – ich habe dreissig Jahre lang aus nächster Nähe beobachtet, was geschah. Der Begriff der Diversität hat sich fundamental gewandelt und in sein Gegenteil verkehrt.

Und wir tun in den USA nicht einmal mehr so, als wären wir ein meritokratisches System – was zählt, sind die richtigen ethnischen und sexuellen Merkmale.

Inwiefern?

In den 1980er Jahren hiess das: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heisst es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen. Die neue Diversität ist das Gegenteil von echter Vielfalt. In ihrem Namen werden all jene diskriminiert, die nicht der gewünschten Weltanschauung entsprechen.

Die Linke agiert Ihrer Ansicht nach also heute so, wie dies das konservative Establishment vor 1968 tat?

Gewiss. Nur – beides ist falsch. Man schafft einen Fehler nicht dadurch aus der Welt, dass man einen zweiten begeht. Das ist kein Fortschritt. Und wir tun in den USA nicht einmal mehr so, als wären wir ein meritokratisches System – was zählt, sind die richtigen ethnischen und sexuellen Merkmale. Was hier längst Standard ist, wird zum Standard in der ganzen angelsächsischen Welt – und zuletzt auch in Westeuropa. Das ist eine Bankrotterklärung des akademischen Betriebs, der Demokratie und der Marktwirtschaft.

Das sind harte Worte. Warum gibt es denn nicht mehr Widerstand gegen die neue Orthodoxie?

Nun, wer sich dagegen ausspricht, wird von den Vorkämpfern der sozialen Gerechtigkeit als Rassist hingestellt. Er wird vom Mob in den sozialen Netzwerken niedergeschrieben oder – wie James Damore bei Google – entlassen.

Aber Professoren haben ja nicht per se eine politische Agenda, sonst wären sie eher Parlamentarier als Professoren geworden. Nochmals, wen machen Sie für den Wandel verantwortlich?

Der Professor als Aktivist ist ein Vorbild, das sich durchgesetzt hat. Die Linke hat den ökonomischen Kampf in den 1980er Jahren verloren – und das wurde nach dem Fall der Mauer umso offensichtlicher. Aber was lange verborgen blieb, war die Tatsache, dass die Linke schon damals sehr erfolgreich einen kulturellen Kampf gegen das Establishment führte. Unterstützung dafür fand sie in der Frankfurter Schule, in Michel Foucault und der French Theory – und irgendwann wurden die Jammer- oder Beschwerdestudien als Disziplin erfunden.

Das ist polemisch formuliert. Das müssen Sie präzisieren.

Im Zentrum dieser Disziplinen stehen die Beleidigten und Empörten, also zusammengefasst: die Opfer. Die Palette reicht von Identity-Politics über Intersektionalität – womit die Überschneidung verschiedener Formen der Diskriminierung gemeint ist – bis hin zu Gender und African-American Studies. Dabei gibt es einen gemeinsamen Nenner: Es galt und gilt, den Kanon der toten weissen Männer zu dekonstruieren.

Der unterdrückende weisse Mann, der die Schuld trägt an allem Bösen in dieser Welt – das ist doch ein Klischee.

Klar. Aber der Topos hat sich in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten – jedenfalls der angelsächsischen Welt – durchgesetzt.

Sie schildern die Entwicklung, als ob sie ein unabwendbares Schicksal wäre. Aber offensichtlich fanden die neuen Studien grosse Resonanz unter den Studenten – also, was kritisieren Sie genau?

Es war keine Revolution von unten, sondern eine von oben. Es war die Revolution von Vertretern der Minderheiten und jener, die sie – aus Überzeugung oder Feigheit – anwaltschaftlich mittrugen. Und was in der akademischen Welt in den letzten dreissig Jahren stattgefunden hat, vollzieht sich nun in den staatlichen Verwaltungen und zunehmend auch in den börsenkotierten Unternehmungen.

Spricht aus Ihnen nicht einfach das Ressentiment eines Unterlegenen in diesem Kulturkampf?

Ich hege kein Ressentiment. Was mir Sorgen macht, ist die Verarmung des intellektuellen Diskurses. Nicht mehr die Geschichte der Eliten war seit den 1980er Jahren von Interesse, sondern nur noch die Geschichte der Unterdrückten oder jener, die sich selber dazu stilisierten. Und die neuen Akademiker verfolgten – machtpolitisch klug und sehr erfolgreich – ihren Eigennutz und ihre Karriere konsequent. Wer sich weiterhin für die Geschichte des Kanons interessierte, wurde ausgebootet.

Niall Ferguson unterrichtete und publizierte in seiner Karriere an den renommiertesten Universitäten. Hier im Gespräch mit Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds. (Bild: Lucas Jackson / Reuters)

Niall Ferguson unterrichtete und publizierte in seiner Karriere an den renommiertesten Universitäten. Hier im Gespräch mit Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds. (Bild: Lucas Jackson / Reuters)

Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?

Ganz ehrlich: Ich weiss es nicht. Der Rahmen des Sagbaren im akademischen und öffentlichen Raum hat sich in den letzten Jahren drastisch verengt. Evidenzbasierte Argumente spielen keine Rolle mehr. Es gewinnt, wer die lautesten Unterstützer hat, und es verliert, wer um seine Reputation fürchten muss.

Sie publizieren weiterhin in den besten Verlagen. Und Sie stehen mit Ihrer Sicht der Dinge auch nicht allein da.

Nein, natürlich nicht. Und es sind völlig unterschiedliche Menschen, die meine Ansichten teilen, Frauen, Männer, Leute mit heller und dunkler Hautfarbe, Junge und Alte. Es geht ja in der Tat um eine Frage der intellektuellen Integrität. Die meisten tun es im Stillen, und einige tun es auch öffentlich, zum Beispiel im Intellectual Dark Web. Aber jene, die es wagen, sich zu äussern, sind eindeutig in der Minderheit.

Ist das Intellectual Dark Web also ein Nest des Widerstands gegen Konformismus und Korrektheit?

In einem gewissen Sinne schon, auch wenn die Leute über einen niederen Organisationsgrad verfügen. Wir sind ein wilder Haufen und letztlich nichts anderes als Namen, die auf einem gemeinsamen Mailverteiler stehen. Aber ja, da herrscht echte Vielfalt, und was uns eint, ist der Wille, den neuen Konformismus nicht einfach hinzunehmen. Was uns jedoch fehlt, ist eine Art Pakt für den Ernstfall, in Anlehnung an den Artikels 5 des Nato-Vertrags, genannt Bündnisfall: Ein bewaffneter Angriff auf ein Land wird als Angriff auf alle Länder angesehen – und alle Länder schlagen mit vereinten Kräften zurück.

Damit war der moralische Sieg der Sozialisten und Sozialdemokraten über die Liberalen und Konservativen besiegelt.

Oder weniger martialisch ausgedrückt, frei nach den drei Musketieren: einer für alle, alle für einen. Warum wirkt es nicht?

Schön gesagt! Wenn eine Person attackiert und isoliert wird, dann wenden sich für gewöhnlich alle von ihr ab, auch die früheren Unterstützer, denn wer setzt schon gern seine eigene Reputation aufs Spiel? Sie ist unter Akademikern, Intellektuellen und Politikern das wohl höchste Gut. Die Logik geht so: Wer gegen die politisch korrekte Orthodoxie ist, ist ein Rassist. Und wer einen Rassisten unterstützt bzw. sich nicht deutlich von ihm abgrenzt, ist selber ein Rassist. Es braucht einigen Mut, um sich mit der eigenen Reputation gegen diese Logik der Verleumdung zu stellen.

Wann haben Sie es zuletzt getan?

Ich tue es immer wieder. Aber mir fällt ein besonders vergnüglicher Fall ein: Peter Boghossian, Professor für Philosophie an der Portland State University, publizierte zusammen mit zwei Kollegen rund zwanzig Fake-Artikel in geisteswissenschaftlichen Zeitschriften, um diese der ideologischen Unwissenschaftlichkeit zu überführen. Statt dass die Redaktionen der Zeitschriften unter Druck gerieten, wurde Boghossian angegriffen, auch von der eigenen Universität. Und so adressierten Steven Pinker, Jordan Peterson, ich und ein paar andere Unerschrockene einen Brief an die Universität von Portland zum Zweck von Boghossians Ehrenrettung.

So, wie Sie es schildern, tobt an der Akademie nicht nur ein Kultur-, sondern ein richtiggehender Machtkampf. Würden Sie das so sagen?

Ja. Ich brauchte ein paar Jahre, bis ich begriff, dass es nicht um die besten Ideen ging, sondern um die besten Tricks. Richtig klar wurde es mir 2003, als ich «Empire» publizierte, ein Buch über den Aufstieg und Fall der britischen Weltmacht. Eine meiner Thesen besagte, dass es Kosten und Nutzen eines Imperiums gibt – und diese Art der nüchternen Analyse wurde in der Akademie und den Mainstream-Medien fast unisono verrissen, ja eigentlich verdammt, nach dem Motto: Kolonialismus ist moralisch verwerflich, und darum ist jede Auseinandersetzung, die diese Prämisse infrage stellt, per se verwerflich. Der Inhalt des Buches spielte keine Rolle, vielmehr ging es plötzlich um den Autor, und der Autor wurde als Fürsprecher des Kolonialismus hingestellt. Und ein Kolonialist ist selbstredend ein Rassist.

Die diskursive Gleichung «Kolonialist = Rassist = Faschist = Nazi» ist fast schon zu einer Art Gemeinplatz geworden, während Stalinismus und Maoismus in diesem Zusammenhang kaum je genannt werden. Sie sind selbst Historiker – worauf führen Sie diese Asymmetrie in der Argumentation zurück?

Ich war Student, als der Historikerstreit 1986 und 1987 stattfand. Das war zweifellos ein entscheidender Moment, in dem sich eine Art Dogma verfestigte, das weit über Deutschland hinausreichte. Ernst Noltes Erörterung über das Verhältnis von Kommunismus und Nationalsozialismus hatte einiges für sich – dass nämlich Letzterer nur als Reaktion auf Ersteren wirklich zu begreifen war, oder noch einfacher: dass beide gleich schlimm waren. Dagegen wandte sich Jürgen Habermas, der diese Sicht der Dinge als revisionistisch abtat – und er gewann den Streit.

Wie bzw. warum gelang ihm das?

Weil in den 1980er Jahren in der Akademie bereits eine sozialdemokratische Mehrheit den Ton angab, besonders in der deutschen Historikerzunft. Ernst Nolte und Michael Stürmer unterlagen gegen Jürgen Habermas, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und all die anderen aufstrebenden Historiker. Diese Entwicklung war nur konsequent, denn denken Sie daran: Hitler hatte den Zweiten Weltkrieg verloren, und Stalin hatte ihn gewonnen. Die Sowjetunion war am Ende auf der Siegerseite, die während und nach dem Krieg nach einer positiveren Sicht verlangte. Uns allen wurde der Holocaust in Schulen und Medien eher nähergebracht als Stalins Verbrechen. Es reicht, daran zu erinnern, wie isoliert Robert Conquest war, als er seine Bücher über ihn schrieb.

Welches Resultat zeitigte diese Asymmetrie in der öffentlichen Wahrnehmung von Hitler und Stalin?

Erstens: Stalinismus und Nationalsozialismus lassen sich nicht vergleichen. Zweitens: Stalinismus – oder Maoismus – ist weniger schlimm als der Nationalsozialismus. Drittens: Der Konservativismus ist die Vorstufe des Nationalsozialismus, der seinerseits nichts mit dem Sozialismus zu tun hat, den er dennoch im Namen trägt – wer also als Rechter auf die schiefe Bahn gerät, endet zuletzt als Nazi. Das sind Glaubenssätze, die bis heute gelten. Wer – wie Hannah Arendt in ihrem Buch über die Ursprünge totalitärer Herrschaft – auf strukturelle Parallelen der beiden Totalitarismen hinwies, wurde fortan nicht mehr gehört oder schlechtgemacht. Damit war der moralische Sieg der Sozialisten und Sozialdemokraten über die Liberalen und Konservativen besiegelt.

Die Liberalen und Konservativen gewannen also den Kalten Krieg und bestimmten die Wirtschaftsordnung, die Sozialisten gewannen aber die kulturelle Hegemonie an den Universitäten und in den Medien. Ist das, maximal zugespitzt, Ihre These?

Das ist sie, kurz und knapp zusammengefasst. Ich stelle sie hiermit zur Debatte, und man möge mit Argumenten darauf entgegnen. Schauen Sie: Es gibt kaum Seminare, die sich mit dem Bösen am Sozialismus und Kommunismus auseinandersetzen – das gibt es in Stanford nicht, ebenso wenig in Oxford und wohl auch nicht in Zürich. Die Verbrechen der Sozialisten werden heruntergespielt, die Verbrechen der Faschisten hingegen dienen dauernd als universelle Vergleichsgrössen, wenn in neueren Geschichtsbüchern etwa von Genoziden der Kolonialherren die Rede ist.

Was folgt daraus?

Als Rechter bist du ein potenzieller Nazi. Sozialisten und Kommunisten hingegen sind moralisch einwandfreie Sozialdemokraten, die auf ihrem Weg zur Beglückung der Menschheit bloss ein paar folgenschwere Fehler begangen haben.

Sehen Sie sich selbst denn als Konservativen?

Meine linken akademischen Kollegen haben es sich zur Angewohnheit gemacht, mir dieses Prädikat anzuhängen. Und gemessen an ihnen bin ich zweifellos konservativ. Aber ich fürchte, ich bin kein Konservativer im eigentlichen Sinne. Vielmehr bin ich ein klassischer Liberaler, ein Kind der schottischen Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts.

Ich habe die Illusion aufgegeben, mit Büchern etwas verändern zu können.

Dann sagen Sie: Was ist das Charakteristikum im Denken eines Konservativen?

Er denkt erst einmal in grösseren Zeiträumen. Für ihn sind Institutionen, die sich bewährt haben, auch wenn wir sie vielleicht nie ganz verstehen, jenen Institutionen vorzuziehen, die der menschliche Geist sozusagen am Reissbrett entwirft. Der Konservative ist skeptisch gegenüber revolutionären Projekten, die aufgrund einer Theorie eine utopische Ordnung schaffen wollen, weil jede Revolution unbeabsichtigte Nebenwirkungen hat. Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution sind in dieser Hinsicht die vielleicht grossartigste Darstellung dieser konservativen Sicht.

Aber ist der Konservative im Herzen nicht ebenfalls ein Kollektivist, genauso wie die Sozialisten?

Nein, das denke ich nicht. Die Individualrechte – inklusive Eigentumsrechten – sind für den Konservativen die natürliche Grundlage einer freien Gesellschaft. Er setzt auf die sozialen Institutionen der Familie, der Kirche und der lokalen Gemeinschaft, um das menschliche Zusammenleben zu regeln, also auf dezentrale zivilgesellschaftliche Lösungen statt auf zentralplanerische staatliche Aktivitäten.

Wäre das nicht ein Buch wert – eine Rehabilitierung des Konservatismus?

Ich habe die Illusion aufgegeben, mit Büchern etwas verändern zu können. Aber selbst wenn: Sollte ich daran interessiert sein, konservatives Denken wieder zu stärken, müsste ich konservativen Köpfen in der Akademie zu Jobs verhelfen, statt Bücher über den Sex-Appeal des Konservativismus zu schreiben. Und das dauert zwanzig, vielleicht dreissig Jahre – und so viel Zeit habe ich nicht mehr.

Sie klingen – ehrlich gesagt – ziemlich resigniert.

Keineswegs. Ich analysiere bloss nüchtern. Ich habe es ja irgendwie geschafft, ich kann frei reden und Ihnen ein Interview geben. Aber jüngere konservative und liberale Kollegen werden es – so brillant und klug sie auch sein mögen – in der Akademie nicht mehr weit bringen. Und um sie tut es mir leid.

Identitäts- und Diversitätspolitik verstrickt sich immer stärker in Widersprüche – und es bilden sich innerhalb ihrer Vertreter sichtbare Fronten. Immer mehr asiatische Studenten klagen beispielsweise gegen amerikanische Universitäten, weil sie sich – aufgrund positiver Diskriminierung anderer Minderheiten – in der Zulassung diskriminiert fühlen. Ändert sich gerade etwas?

Widersprüche einer Ordnung führen nicht zu deren Kollaps – das war ja der grosse Irrtum der Marxisten, die bis heute glauben, der Kapitalismus würde an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. Darum: Nein, die Revolution hat nicht damit begonnen, ihre Kinder zu fressen – das ist reines Wunschdenken.

Also machen Sie sich keine Hoffnung auf einen schnellen Wandel?

Nein. Was bleibt, ist der Galgenhumor. Wir erzählen uns zu Hause eine kleine, witzige Geschichte, die den ganzen Irrsinn auf den Punkt bringt. Meine Frau, Ayaan Hirsi Ali, ist eine vehemente Kritikerin des Islam – wenn sie in Harvard auftritt, kann sie mit dem Widerstand der radikalen Muslime, genannt Islamisten, rechnen. Und vor einigen Jahren machte ich einen ziemlich unbedarften Scherz über John Maynard Keynes, der die Gay Community in Rage versetzte. Ayaan und ich stellen uns dann vor, wie die beiden Gruppen von Kritikern, die Islamisten und die LGBTQ-Personen, sich die Köpfe einschlagen würden, wenn sie nicht gegen den gemeinsamen Feind agierten, sondern miteinander reden müssten, vielleicht ausserhalb ihrer Komfortzone. Und ich gebe zu: Diese Szene amüsiert mich.

Gewichtige Bücher, Klartext und Spass

rs. Niall Ferguson ist gewissermassen der Bodybuilder unter den Historikern. In sehr sportlichem Rhythmus verfasst er alle zwei Jahre ein Buch von 400 Seiten oder mehr. Dabei sind seine Bücher nicht nur substanziell, sondern auch aussagekräftig, so dass sie zuverlässig zu reden geben. Seine Thesen verficht er auf allen möglichen Bühnen, von der Universität bis hin zum Fernsehstudio, in beachtlicher Pace. Und in bester britischer Tradition geht er keinem intellektuellen Fight aus dem Weg, im Gegenteil. Ferguson ist ein überzeugter Contrarian, dem es offensichtlich grossen Spass macht, die Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit zu betrachten.

Standardwerke schrieb er zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg, zur Familie der Rothschilds, zur Geschichte des Geldes und zu geopolitischen Fragestellungen. 2012 publizierte Ferguson «Der Westen und der Rest der Welt: Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen», in dem er anhand von sechs sogenannten Killer-Apps erklärt, wie die westliche Zivilisation nach 1500 die Welt zu beherrschen begann (Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum, Arbeit). 2014 kam auf Deutsch «Der Niedergang des Westens: Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben» heraus. Darin zeichnet der Autor akribisch nach, wie westliche Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft von innen her erodieren. Und eben erst, 2018, publizierte er «Türme und Plätze: Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht». In seinem neuesten Opus legt er auf 600 Seiten die Geschichte menschlicher Netzwerke dar, die sich von der Vertikale hin zur Horizontale entwickeln – mit disruptiven und bis zum heutigen Tag unabsehbaren Folgen.

Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der 1964 geborene Schotte ist mit der somalischen Schriftstellerin Ayaan Hirsi Ali verheiratet.

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