Die kurze Stunde der Gerechtigkeitssucher – Kurt Eisner und Gustav Landauer sind auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München begraben

1918/19 gab es in Bayern eine Revolution, auf die zwei sogenannte Räterepubliken folgten. Viele ihrer führenden Köpfe waren Juden und kamen gewaltsam zu Tode. Einige liegen auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München begraben.

Judith Leister
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Am 21. Februar 1919 sammelt sich in München die Menge da, wo Kurt Eisner gleichtags ermordet worden ist. (Bild: Herbert Hoffmann / Getty)

Am 21. Februar 1919 sammelt sich in München die Menge da, wo Kurt Eisner gleichtags ermordet worden ist. (Bild: Herbert Hoffmann / Getty)

Der mehr als hundertjährige Neue Israelitische Friedhof im Münchner Stadtteil Freimann ist nicht einfach ein Ort der Stille und des Friedens. Eine benachbarte Schnellstrasse legt einen gleichmässigen Teppich aus Lärm über die Jugendstil-Gräber, efeuumrankten Bäume und geborstenen Sitzbänkchen. Dieser Friedhof erzählt Geschichten, Geschichten der Emanzipation und Assimilation der Münchner Juden, die sich Lina, Mimi und Pauline, Alfred, Paul und Fritz nannten, obwohl sie oft jüdische Vornamen trugen.

Nicht wenige der Toten stammten auch aus Osteuropa, aus Prag, Ostrovce oder Budapest, und legten ihre slawisch klingenden Namensendungen ab. Auf manchem Grabstein liest man «gestorben in New York», «überführt nach Israel» oder «deportiert und ermordet».

Sie suchten Gerechtigkeit

Im Zentrum der Anlage steht ein wuchtiges, von Löwen gestütztes Denkmal für die 180 Münchner jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Einmal im Jahr, am Volkstrauertag, findet eine Feierstunde statt. Die Bundeswehr kommt und einer der Münchner Bürgermeister. Sonst ist der Friedhof der orthodoxen Orel-Jakob-Gemeinde ein Ort der privaten Trauer. Doch gerade in diesen Tagen, da das Gedenken an die bayrische Revolution und die beiden Räterepubliken kumuliert, besuchen viele Fremde den Friedhof. Vier der Münchner Revolutionäre liegen hier begraben: Kurt Eisner und Gustav Landauer, die deutsch-jüdischer Herkunft waren, Sarah Sonja Lerch, geborene Rabinowitz, und Eugen Leviné, die im russischen Zarenreich zur Welt kamen.

Alle vier suchten Gerechtigkeit. Sie besiegelten das Schicksal der siebenhundertjährigen Wittelsbacher-Herrschaft in Bayern und setzten demokratische Reformen durch. Kurt Eisner, die zentrale Figur der bayrischen Revolution, war Journalist. Aus Protest gegen den patriotischen Kurs der SPD im Ersten Weltkrieg hatte er 1917 die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) gegründet. 1918 holte er den Schriftsteller und Anarchisten Gustav Landauer als Verbündeten bei der «Umbildung der Seelen» nach München. Sarah Sonja Rabinowitz agitierte im «Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund», dem grössten sozialistischen Verband im Zarenreich; in Deutschland schloss sie sich der USPD an. Dagegen ist der Name Eugen Levinés mit der zweiten, kommunistischen Räterepublik verknüpft. Im kurzen Frühling der Revolution kamen sie alle gewaltsam ums Leben.

Etwas verborgen, im hinteren Teil des Friedhofs, liegt das Doppelgrab von Kurt Eisner und Gustav Landauer. In diesen Tagen schmücken rote Blumengebinde und kleine Steine das Grab. Am 8. November 1918 hatte Eisner nach Massenprotesten auf der Theresienwiese den demokratischen Freistaat Bayern ausgerufen und wurde dessen erster Ministerpräsident – Errungenschaften wie die parlamentarische Demokratie mit Verhältniswahlrecht, das Frauenwahlrecht und die Pressefreiheit gehen auf seine Ägide zurück. Nur hundert Tage später, im Februar 1919, trafen ihn auf dem Weg zum Landtag, wo er wegen miserabler Wahlergebnisse seinen Rücktritt anbieten wollte, die tödlichen Schüsse des jungen Graf Arco-Valley. Arco-Valley war ein glühender Antisemit – und eine tragische Figur: Wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter war er von der völkischen Thule-Gesellschaft ausgeschlossen worden. Arco-Valley erhielt zunächst die Todesstrafe; noch im Gerichtssaal als Volksheld bejubelt, wurde er später begnadigt.

Bei Eisners Trauerfeier fand Heinrich Mann ergreifende Worte für dessen utopischen Geist: «Sein Glaube an die Kraft des Gedankens, sich in Wirklichkeit zu verwandeln, ergriff selbst Ungläubige.» Unter den Trauerrednern war auch Landauer. Nach der Verkündigung der ersten, wegen ihrer Anführer gern als «künstlerisch-anarchistisch» apostrophierten Räterepublik am 7. April 1919 übertrug man ihm das Amt des Volksbeauftragten für Kultur-, Schul- und Pressewesen. Als Erstes schaffte er die Prügelstrafe ab. Seine Ideen für das Bildungswesen sind noch heute erstaunlich progressiv. Längst nach der Niederlegung seines Amtes wurde er im Haus der Witwe Eisners verhaftet und am 2. Mai 1919 in der Haftanstalt Stadelheim von feixenden Soldaten geprügelt, angeschossen und totgetrampelt. Einer der Mörder musste 300 Reichsmark zahlen; der Rest kam straffrei davon.

Nur ein Fragment

Eisner und Landauer waren zunächst auf städtischen Friedhöfen beigesetzt. Doch 1933 erzwangen zwei NSDAP-Stadträte die Überführung auf den Neuen Israelitischen Friedhof. Der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, schon mit dem Rücken zur Wand, erwiderte in einem Brief, dass man «in das Bestimmungsrecht der Hinterbliebenen nicht eingreifen» könne, andererseits aber auch «keine Schwierigkeiten schaffen» wolle und deshalb «die Urnen entgegennehme». Nach dem Zweiten Weltkrieg liess eine Tochter Landauers ein Fragment des in der NS-Zeit gesprengten Denkmals für die Toten der Revolution am Kopfende des Grabes aufstellen. Auf dem groben Gesteinsbrocken sind die Namen Eisners und Landauers in roten Lettern eingraviert.

Noch vor Kurt Eisner starb Sarah Sonja Lerch. Ihr umgestürzter, kleiner Grabstein mit dem verwitterten Kranz aus Rosen wurde kürzlich auf private Initiative wieder aufgerichtet. «Dr. phil.» steht neben dem Namen; die Widmung ihres protestantischen Ehemanns erneuerte man nicht. Als Sarah Sonja Rabinowitz kam sie 1882 in Warschau zur Welt und besuchte dasselbe Gymnasium wie Rosa Luxemburg. 1907 war die Bundistin an einer Revolte in Odessa beteiligt, wurde inhaftiert und musste Russland für immer verlassen. Dass ihr Vater Zionist war, ihr Bruder und sie selbst Sozialisten wurden, ist nicht untypisch für die Lebenswege osteuropäischer Juden um 1900.

1908 ging sie – wie vor ihr Rosa Luxemburg – zum Studium in die Schweiz, weil Frauen dort schon zugelassen waren. Parallel dazu zog ihre Familie, wie viele andere jüdische Familien, wegen der Revolutionswirren und der Pogrome nach Deutschland um. Fünf Jahre später wurde sie in Giessen über die russische Arbeiterbewegung promoviert. In Deutschland arbeitete die Kriegsgegnerin erst mit der SPD zusammen, wo eine Genossin sie als «russische Steppenfurie» diffamierte, bevor sie zur USPD wechselte. Nach dem Januarstreik 1918, also noch im Krieg, kam sie wegen «Landesverrats» nach Stadelheim. Am 20. März wurde sie dort tot aufgefunden. Kurt Eisner schrieb: «Die arme Sonja hat sich (. . .) erhängt. Nicht wegen des ‹Landesverrats›, sondern um der tiefen Demütigung ihrer Frauenliebe zuvorzukommen.» Ihr Mann hatte während ihrer Haft die Scheidung eingereicht, «aus patriotischen Gründen».

Stolze Trauer

Nicht weit vom bescheidenen Grab Sarah Sonja Lerchs steht der übermannshohe Obelisk zur Erinnerung an Eugen Leviné, den Sebastian Haffner den «deutschen Lenin» genannt hat. Auf seiner spiegelnden schwarzen Oberfläche, von der eine stolze und einsame Trauer auszugehen scheint, findet sich nur der Name des in Stadelheim erschossenen Revolutionärs und das Datum seines Todes: 15. Juni 1919. Leviné wurde 1883 in St. Petersburg geboren. Sein vermögender Vater hatte den Namen «Levin» in «Leviné» abgeändert, weil der ausländische Name für ihn vornehmer klang. Kurz vor der Jahrhundertwende zog seine Familie nach Deutschland um, wo Leviné auch studierte und promoviert wurde. Spätestens bei einem Russland-Aufenthalt ab 1905 wurde er zum Revolutionär. Er kehrte nach Deutschland zurück und war von da an propagandistisch tätig.

Im März 1919 wurde Leviné von der KPD nach München geschickt und wurde zur Hauptfigur der zweiten, diesmal kommunistischen Räterepublik. Sein Vorbild war der Bolschewismus. Ob er Direktiven aus Moskau bekam? Lenin schrieb ihm ein Telegramm, eine Versäumnisliste der bayrischen Revolution, die mit den Worten endete: «Beste Grüsse und Wünsche wirklicher Erfolge». Da die Revolutionäre gegen die Freikorps- und Reichswehr-Truppen, die der geflohene bayrische SPD-Ministerpräsident Hoffmann zu Hilfe gerufen hatte, keine Chance hatten, trat Leviné Ende April 1919 zurück. Bald darauf wurde er verhaftet. Berühmt geworden sind seine Worte vor Gericht: «Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub. (. . .) Ich weiss nicht, ob sie mir meinen Urlaubsschein noch verlängern werden oder ob ich einrücken muss zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.» Eugen Leviné wurde eines von rund tausend Opfern, die durch Mordtaten der Gegenrevolution umkamen.