Tintin darf nun auch auf Englisch fluchen

Bisher lag auf Englisch nur eine gekürzte und geschönte Version von «Tintin» vor. Nun wurde der Comics-Klassiker des Belgiers Hergé neu übersetzt und als App herausgebracht.

Marion Löhndorf
Drucken
Tintin wird neunzig – und ist doch jung geblieben. (Bild: Zheng Huansong / Imago)

Tintin wird neunzig – und ist doch jung geblieben. (Bild: Zheng Huansong / Imago)

Die Comics-Serie «Tintin» (deutsch: «Tim und Struppi») legt im hohen Alter von 90 Jahren noch an Beliebtheit zu, obwohl ihr Zeichner Hergé verfügt hatte, dass niemand nach seinem Tod den Strip weiterführen sollte. Dafür ist ihm jetzt ein digitales Nachleben sicher. Apple hat in Zusammenarbeit mit der Hergé Foundation die App «The Adventures of Tintin» entwickelt, die alle 24 Folgen zugänglich macht.

Dabei wird die neue englische Ausgabe 20 Prozent länger sein als die alte. Denn in der bisher zugänglichen englischen Version war einiges gekürzt worden. So hatten die Verleger Methuen die Schimpfwörter mit religiösem Bezug und jegliche religiöse Assoziation verboten. Nicht einmal der Ausruf «Mon Dieu!» war in der englischen Ausgabe erlaubt. Die neue Übersetzung der App stützt sich nun akribisch auf das französische Original. Und dasselbe soll auch für alle weiteren Neuübersetzungen der App gelten.

Technische Pioniertat

Michael Farr, unter anderem Autor einer Hergé-Biografie und des in dreissig Sprachen vorliegenden «Tintin. The Complete Companion», war für die Neuübersetzung mitverantwortlich. Die App bezeichnet er als technische Pioniertat, die weit über die Leistung von E-Books hinausgehe. Vor allem in Asien erhoffe sich die Hergé Foundation von der App ein grosses Geschäft mit dem digitalen «Tintin». «In Ländern wie Indien und China gibt es ja kaum noch Buchläden», erklärt Michael Farr.

Interessant sei insbesondere auch der japanische Markt. Denn tatsächlich hat «Tintin» auch die neueren Manga-Zeichner beeinflusst. Diese haben sich vom belgischen «Tintin»-Schöpfer Hergé (1907–1983) auf verschiedene Weise inspirieren lassen – zum Beispiel von seiner «ligne claire», die seine farbintensiven, schattenarmen Motive mit scharfen Umrissen versah.

Dass Tintin sich als nationen- und geschlechterübergreifende Identifikationsfigur eignet, ist einem besonderen Kunstgriff zu verdanken. Denn anders als alle anderen Charaktere und die Schauplätze der Serie ist der Held fast gesichtslos, bis auf ein paar Striche, Punkte und die berühmte Haartolle. Der Name Tintin lässt sich als «Pustekuchen» – oder aber als «nichts» übersetzen. Der junge Mann ohne Eigenschaften, von dem man nur weiss, dass er stets für das Gute steht, schlägt sich durch detailreich gestaltete, komplizierte, fremde Welten, in denen meist das Böse lauert. Vielleicht dieses abgründigen Gegensatzes wegen begeisterten Tintins Abenteuer von Anfang an auch Erwachsene.

Politische Wechselfälle

Weltweit wurden die zuerst in Zeitungen (in der Schweiz im «Journal de Genève») erschienenen Strips später zu Büchern zusammengefasst und in mehr als hundert Sprachen übersetzt. Doch das politische Leben von «Tintin» war wechselhafter als der geradlinige kommerzielle Erfolg der Serie. Kritiker entdeckten Rassismus in «Tintin au Congo» (1931), weil der in den dreissiger Jahren entstandene Band damals übliche Klischees über Afrika enthielt; antisemitische Züge wiederum haben Kritiker aus der ersten Version von «L’Etoile mystérieuse» (1942) herausgelesen. Der Übersetzer und Hergé-Biograf Michael Farr allerdings findet solche Vorwürfe unfair: «Hergé war zeitlebens weder ein Rassist noch politisch rechts aussen, eher ein Linksliberaler.»

2006, fast ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des betreffenden Bandes, verlieh der Dalai-Lama den Zeichenfiguren den Light of Truth Award für die Förderung des Verständnisses der tibetischen Kultur; Auslöser war «Tintin au Tibet» (1959). Das Preiskomitee rühmte Hergés Beschreibung des Landes als «Einführung in die majestätische Landschaft und Kultur Tibets». So schaffte «Tintin» auch noch den Sprung in die Wirklichkeit.

Mehr von Marion Löhndorf (mlö)