Gastkommentar

Südtirol ist eine multiethnische Erfolgsgeschichte – trotz einer Vergangenheit voller Dissonanzen und Provokationen

Vor hundert Jahren wurde Südtirol in den Friedensverhandlungen von St-Germain bei Paris aus der «Konkursmasse» der untergegangenen Habsburger Monarchie Italien zugesprochen. Italienisch- und deutschsprachige Bevölkerung taten sich lange schwer, zusammenzufinden. Eine Analyse aus persönlicher Nahperspektive.

Sabine Gruber
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Südtirol ist seit hundert Jahren Teil Italiens. Ist das Anlass zu feiern? Für deutschnationale Kreise wären derlei Gedenkfeierlichkeiten ein Affront, schliesslich sehen sie sich noch immer als Opfer der italienischen Annexion. Fänden solcherlei Festivitäten statt, die Diskussionen begännen schon beim Namen. Wählt man die deutsche Bezeichnung: «Südtirol» oder doch die italienische: «Alto Adige»? Und was ist mit «Le Tirol», wie die Ladiner zu sagen pflegen? Man müsste auch an die sogenannten Ausländer im Land denken, es sind inzwischen um die 47 000 (von insgesamt etwa 528 000 Einwohnern) aus 135 Nationen, die meisten davon EU-Bürger, es folgen Albaner und Marokkaner. Also «South-Tyrol»?

Noch immer gehen kleine Risse durch das Land. – In den Dolomiten. (Bild bna.)

Noch immer gehen kleine Risse durch das Land. – In den Dolomiten. (Bild bna.)

In einem multiethnischen Grenzland, das von den Folgen des italienischen Faschismus ebenso wie von seinen nationalsozialistischen Verstrickungen geprägt ist, wird alles Individuelle erst einmal ans unmittelbar Politische gekoppelt. Ich brauche nur von meinem eigenen Namen auszugehen: Ich wurde gleich nach meiner Geburt im August 1963 mit dem Namen «Sabina» getauft – nach der römischen Heiligen. Als mein Vater im Gemeindeamt meine Geburt anzeigte, änderte der Standesbeamte den Namen eigenmächtig auf «Sabine» um. «Sabina» klinge zu wenig deutsch.

Leeres Versprechen

Noch 1919, unmittelbar nach den Friedensverhandlungen in St-Germain bei Paris, als von den Siegermächten die Auflösung der Habsburgermonarchie besiegelt und Südtirol Italien zugesprochen wurde, versprach der damalige italienische Aussenminister Tommaso Tittoni, Italien werde die deutschsprachige Minderheit respektieren. Doch als wenig später die Faschisten auch in Südtirol an die Macht kamen, änderten sich die Verhältnisse schlagartig. Orts- und Familiennamen wurden übersetzt, die Amts- und Unterrichtssprache in Südtirol war nur noch Italienisch. Der Zuzug von italienischen Arbeitern wurde durch die Schaffung neuer Industrieanlagen und billiger Sozialwohnungen von den Faschisten zum Zwecke der Italienisierung der Region forciert.

Die Beschwerde, welche die Südtiroler beim Völkerbund einreichten, nützte wenig. Die Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit wurde als inneritalienische Angelegenheit betrachtet.

Nachvollziehbar, dass im Schatten der Weltwirtschaftskrise und unter der Vorherrschaft der Faschisten nicht wenige Südtiroler auf Hilfe vonseiten des Deutschen Reichs hofften. Doch Hitler sah in Mussolini einen «natürlichen Verbündeten», er sicherte dem Duce bei seinem Besuch in Rom 1938 die Brennergrenze zu und gedachte das Problem mit den Südtirolern nicht mit einem Einmarsch, sondern mit einer Umsiedlung zu lösen.

Das sogenannte «Optionsabkommen», das den Südtirolern und Ladinern 1939 freistellte, als «Optanten» ins Deutsche Reich abzuwandern (86 Prozent stimmten dafür, aber nur 75 000 sind tatsächlich abgewandert) oder als «Dableiber» im faschistisch regierten Südtirol zu verbleiben, wurde für viele Familien zur Zerreissprobe. Meine Urgrosseltern Gruber waren überzeugte «Dableiber» gewesen. Meine belesene Urgrossmutter, Frau eines Buchbinders, glaubte Hitlers Versprechungen nicht. Wo denn die Leute jetzt seien, deren Besitztümer angeblich den Südtirolern in Russisch-Polen, Galizien oder auf der Krim zur Verfügung stünden, soll sie ihre Söhne gefragt haben. Es sei nicht rechtens, die Häuser von Vertriebenen oder gar Ermordeten zu bewohnen. Drei ihrer Söhne optierten dennoch, einer blieb in Südtirol. Die Optanten-Söhne wurden am Ende alle von der Deutschen Wehrmacht kassiert, und nicht alle kamen heil aus dem Krieg zurück.

Ambivalente Erinnerung

Die ausgewanderte Familie meiner Mutter hingegen kriegte freilich keine von der nationalsozialistischen Propaganda versprochenen Immobilien und Grundstücke geschenkt, sondern kam erst in einem Auffanglager in Innsbruck unter, dann in ärmlichen Wohnungen in Lienz und im Tiroler Oberinntal und kehrte – wie viele andere Optanten auch – nach dem Krieg wieder nach Südtirol zurück.

Die Dableiber waren als «Welschbastarde» und «feige Schweine» beschimpft worden, die Optanten als Verräter an ihren Ahnen und am ererbten Grund und Boden. Meine Mutter hat die Kindheit im reichsdeutschen Österreich in ambivalenter Erinnerung. Ihr schwarzes Haar und die dunkle Haut führten dazu, dass sie von anderen Kindern als «Katzelmacherin» – pejorativ für «Italienerin» – beschimpft wurde. Dabei hatte ihre Familie wegen der italienischen Faschisten Südtirol verlassen.

Als der Krieg zu Ende war, gab es keine Zeit für eine differenzierte Sicht auf die Vergangenheit. In der von Dableibern und Leuten aus dem Widerstand gegründeten Südtiroler Volkspartei standen der Minderheitenschutz und das Selbstbestimmungsrecht an erster Stelle, was zu grossem Unverständnis bei den Italienern führte.

Im Pariser Vertrag, der von Italien und Österreich 1946 unterzeichnet wurde, sicherte man den Südtirolern Autonomie zu. Die Minderheit sollte durch zweisprachige Ortstafeln, durch die Einführung der deutschen Sprache in der Verwaltung und durch eine proportionale Verteilung der öffentlichen Stellen an alle Sprachgruppen geschützt werden. Der Unmut wuchs, weil das Pariser Abkommen nur unzureichend durchgeführt worden war. Bruno Kreisky, österreichischer Aussenminister, brachte die «Südtirolfrage» 1960 vor die Uno-Vollversammlung, welche Österreich und Italien aufforderte, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Erst unter dem Eindruck der «Bumser-Attentate» wurden konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Lage der deutschsprachigen Minderheit ins Auge gefasst.

Es wird weiter provoziert

Mein Grossvater Josef Gruber war in den Bombenjahren Bürgermeister von Lana bei Meran; in seinem Nachlass fand ich einen Drohbrief des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS). Während seiner Amtszeit hatte er als Bürgermeister zweisprachige Ortstafeln aufstellen lassen. Die anonymen Schreiber drohten, ihn deswegen krankenhausreif zu schlagen oder gar umzubringen. Überhaupt wäre es an der Zeit, dass er «sein Tirolertum mehr zeigen würde» – steht in dem Schreiben der BAS-Aktivisten, die zwischen 1956 und 1968 mit Anschlägen auf italienische Einrichtungen für internationales Aufsehen gesorgt hatten. Vor allem nach der «Feuernacht» 1961 reagierte der italienische Staat mit der Verstärkung der Sicherheitskräfte, mit Verhaftungen und Hausarresten. Mein Grossvater – wie auch der damalige Landeshauptmann Silvius Magnago – hatte sich immer gegen diese Form des Freiheitskampfes und für einen friedlichen Dialog zwischen den deutschsprachigen Südtirolern und den Italienern ausgesprochen.

Provokationen blieben auch später nicht aus. 1984, ich war gerade als Studentin in Nordtirol, trugen Südtiroler Schützen – anlässlich der 175-Jahr-Feier des Tiroler Freiheitskampfes von 1809 – eine Dornenkrone als Märtyrersymbol durch Innsbruck und sorgten mit Plakataufschriften wie «Los von Rom» oder «Tirol den Tirolern» für Aufsehen. Aussenminister Giulio Andreotti zeigte damals Mitleid mit den Italienern in Südtirol, sah sie plötzlich als die eigentliche Minderheit, die es zu stärken galt. In den darauffolgenden Kommunalwahlen im Mai 1985 waren die Neofaschisten (MSI) die grossen Sieger.

Gezündelt wird immer wieder, manchmal auch von aussen: 2018 versprachen die österreichischen Regierungsparteien FPÖ und ÖVP den Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft. Eine Idee, die sich praktisch nicht umsetzen lässt, es sei denn fragwürdige, an den nationalsozialistischen Ariernachweis erinnernde Abstammungskriterien kämen zum Tragen. Das wäre nicht nur zutiefst antieuropäisch, sondern auch gefährlicher Sprengstoff im friedlichen Zusammenleben.

Denn Südtirol verfügt über eine der bestfunktionierenden Autonomien der Welt. Es ist ein wirtschaftlich florierendes Land, das gezeigt hat, wie man ethnische Probleme nahezu friedlich lösen kann. Es ist ein Erfolgs- und europäisches Vorzeigemodell.

Das Land hätte also allen Grund zu feiern. Noch. Denn mit Matteo Salvinis Lega hat sich die Südtiroler Volkspartei erst vor ein paar Wochen eine dezidiert europafeindliche, rassistische italienische Partei als Koalitionspartner in die Landesregierung geholt. Autonomien sind zerbrechliche Systeme. Wenn Italien kein voll integriertes Mitglied der EU mehr ist – und die neue italienische Regierung scheint daran zu arbeiten –, dürfte das fatale Folgen auch für Südtirol haben.

Sabine Gruber, geboren 1963 in Meran, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschien ihr Roman «Daldossi oder Das Leben des Augenblicks» 2016 bei C. H. Beck (2018 bei DTV).