Vor dem Genozid in Rwanda vor 25 Jahren schenkte der Westen den Ereignissen in dem Kleinstaat kaum Aufmerksamkeit.
Vor 25 Jahren, am 6. April 1994, begann in Rwanda eines der grössten Gewaltverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von drei Monaten wurden je nach Schätzung zwischen 500 000 und einer Million Menschen umgebracht. Angehörige der Hutu-Mehrheit ermordeten drei Viertel der Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich gegen den Völkermord zur Wehr setzten.
Dieses ungeheure Verbrechen, das nahezu alles Reden, Schreiben und Denken über Rwanda bis heute bestimmt, fand zu einer Zeit statt, die geprägt war durch das Ende des Kalten Krieges. Mit dem vermeintlichen Sieg des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells schien erstmals seit 1945 nicht nur eine friedlichere und gerechtere Welt ohne Armut greifbar, sondern gar die «Vollendung der Geschichte» in einer liberalen und unipolaren Welt.
Vor diesem Hintergrund hatte sich die westliche Staatengemeinschaft Anfang der neunziger Jahre zuversichtlich gezeigt, dass sich Konflikte nunmehr einfacher durch politische und militärische Interventionen lösen lassen würden. Der Golfkrieg 1991, die militärischen Eingriffe in die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien sowie die Uno-Intervention in Somalia waren Ausdruck dieses Glaubens.
In Rwanda indes schaute die Welt zu, als das Morden begann. Uno-Truppen waren vor Ort; aber als zehn belgische Blauhelme getötet wurden, zog Brüssel sein Kontingent ab. Die verbleibenden 2500 im Land stationierten Uno-Soldaten blieben weitgehend untätig, erst hundert Tage nach Beginn des Mordens intervenierte Frankreich.
Zwei Ereignisse waren für diese fatale Passivität mitentscheidend. Zum einen die Intervention amerikanischer Truppen in Somalia zwei Jahre zuvor: Als das Land im Chaos zu versinken drohte, schickten die USA Ende 1992 Truppen ans Horn von Afrika. Trotz anfänglichen Sympathien in der somalischen Bevölkerung endete die Intervention im Fiasko. Die Bilder von getöteten amerikanischen Soldaten, die durch die Strassen von Mogadiscio geschleift werden, veranlassten die USA zu einer grundlegenden Änderung ihrer Interventionspolitik. Fortan lautete die Devise «No dead!». Zum anderen das sich ankündigende Ende der Apartheid in Südafrika: Im April 1994 sollten dort die ersten freien Wahlen stattfinden. Die Welt blickte gebannt an die Südspitze des Kontinents. Nach Gewalt im Vorfeld des Urnengangs gab es Befürchtungen, ein Machtwechsel in Südafrika würde zu einem Blutbad zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen führen – zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte.
Entmutigt durch das Versagen in Somalia und im Bann der anstehenden Wahlen in Südafrika, schenkten die westliche Staatengemeinschaft und die internationalen Medien den sich ab 1990 zuspitzenden Ereignissen in Rwanda vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Bis 1994 fanden Besonderheiten, die die Politik und Gesellschaft in Rwanda prägten und einen Völkermord erst ermöglichten, kaum Beachtung.
Zu diesen Besonderheiten zählen zum einen der Aufbau und die Funktionsweise des rwandischen Staats. Viele afrikanische Staaten sind schwache Staaten, die von dezentraler Despotie, parastaatlichen Organisationsformen, informellen Wirtschaftsstrukturen oder sogar unterschiedlichen Stadien von Staatszerfall geprägt sind. Der postkoloniale rwandische Staat war demgegenüber von Anfang an stark und zeichnete sich durch die Allgegenwart staatlicher Institutionen und Kontrollen aus. Rwanda gliederte sich in eine Vielzahl von Präfekturen, Gemeinden, Sektoren, Zellen und Hügeln, die unter der Aufsicht von Regierungsvertretern standen. Die analog organisierte und straff geführte Regierungspartei verstärkte die Kontrolle und Verfügungsgewalt.
Zudem war in Rwanda die Zuordnung der Bevölkerung in die ethnischen Gruppen der Hutu und Tutsi ausgesprochen radikal. Wie in anderen afrikanischen Kolonien hatten zwar auch dort europäische Kolonialbeamte und Missionare mit einem vereinfachenden rassenideologischen Blick zur Festigung vorkolonialer ethnischer Zuordnung beigetragen. Besonders war in Rwanda aber, dass die Zuordnungen in Hutu und Tutsi nicht anhand kultureller, ritueller, religiöser oder sprachlicher Unterschiede erfolgen konnte, da diese fehlten. Ausschlaggebend waren vielmehr angebliche biologisch-genetische Merkmale. So lebten in Rwanda im Unterschied zu anderen afrikanischen Staaten bald nicht bloss erfundene «Stämme», sondern zwei auf kruden Theorien basierende «Rassen».
Diese rassisch begründete Unvereinbarkeit zwischen Hutu und Tutsi gehörte spätestens seit Ende der 1950er Jahre zum nationalen Selbstverständnis der rwandischen Gesellschaft. Sie begünstigte seit der Unabhängigkeit 1962 die Hutu-Machthaber darin, politische Ziele auch mit dem Mittel «ethnischer Säuberungen» zu verfolgen. Insbesondere in den Jahren 1964, 1966/67 und 1972/73 kam es zu landesweiten Pogromen, die von der internationalen Staatengemeinschaft allerdings kaum beachtet und geahndet wurden.
Ende der 1980er Jahre verschärften sich die sozioökonomischen Probleme Rwandas. Gründe dafür waren Dürren, Wirtschaftskrisen, Strukturanpassungsprogramme, das starke Bevölkerungswachstum und der 1990 aus Uganda erfolgte Einmarsch der Rwandan Patriotic Front (RPF), die sich zu grossen Teilen aus ehemals geflüchteten Tutsi zusammensetzte. Bedrängt durch die RPF, aber auch durch die internationale Staatengemeinschaft, die auf eine Machtteilung im Land hinarbeitete, griffen die Hutu-Machthaber zur Sicherung ihrer Herrschaft 1994 einmal mehr zu gewalttätigen Mitteln. Neu war, dass sich regierungsnahe Gruppierungen über einen längeren Zeitraum minuziös mit Training, Waffendepots und Listen potenzieller Opfer auf das Morden vorbereitet hatten. Neu war auch die Absicht einer totalen Vernichtung, mit der Sicherheitskräfte, Milizen und die breite Hutu-Bevölkerung zwischen April und Juni jenes Jahres gegen die Tutsi-Bevölkerung vorgingen.
Die Staatenwelt interpretierte den Genozid zunächst wahlweise als Krieg um die Vorherrschaft im Land oder als spontanen Ausbruch eines quasi naturwüchsigen afrikanischen «Stammeskonflikts», für den beide Seiten gleichermassen die Verantwortung trugen. Erst als das Ausmass der Gewalt nach und nach bekanntwurde, gerieten diese Sichtweisen in den Hintergrund. Trotzdem vermied es insbesondere die amerikanische Regierung noch lange, von einem Völkermord zu sprechen, da diese Wortwahl gemäss Uno-Konvention zu einem robusten Eingreifen verpflichtet hätte.
Die damalige Betrachtung des rwandischen Völkermords im Westen zeigt exemplarisch, wie sich zunächst bestehende Afrikabilder vor eine klare Analyse der realen Ereignisse vor Ort schoben und welche Auswirkungen dies für die Betroffenen hatte. Im globalen Kontext wird im Jahr 1994 zudem auf grausame Weise deutlich, dass Konflikte stets mit historischen und gegenwärtigen Dynamiken auf lokaler und globaler Ebene verknüpft sind und sich demnach einfachen Interventionslogiken entziehen. Spätestens im April 1994 wird klar, dass der ideologische Sieg des Westens nicht automatisch zu einer einfach zu regulierenden neuen Weltordnung führte, sondern paradoxerweise zu Untätigkeit bei Massakern und Völkermord – sei es in Rwanda oder ein Jahr später während des Bosnienkriegs in Srebrenica.
Lukas Zürcher promovierte zur Geschichte der Schweiz in Rwanda und führt heute als Co-Leiter den Campus Perspektiven in Huttwil.