Die Energiepolitik ist für die Grünen ein zentrales Thema. Im Bild: das Braunkohle-Kraftwerk in der Nähe von Cottbus. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Die Energiepolitik ist für die Grünen ein zentrales Thema. Im Bild: das Braunkohle-Kraftwerk in der Nähe von Cottbus. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Kommentar

Wer will heute noch rechts oder links sein? Die Grünen passen perfekt zum ironischen Gestus der Postmoderne

Geschickt spielen die Grünen mit Ängsten. Sie warnen vor der Erderwärmung, so wie sie früher schon andere Katastrophen prophezeit haben. Aber sie versprechen auch Erlösung, wenn jeder seinen Beitrag leistet.

Eric Gujer
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Grün ist die Trendfarbe der politischen Modesaison. Die Grünen haben die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl in Bayern überflügelt und schicken sich an, dies bei der Europawahl im Mai zu wiederholen. In der Schweiz schnitten sie bei kantonalen Urnengängen ebenfalls sehr gut ab. Die Demonstrationen für mehr Klimaschutz geben den Grünen Auftrieb. Dass Greta Thunberg die Massen auffordert, angesichts des offensichtlich nahen Weltendes «in Panik auszubrechen», hilft ihnen besonders. Die Grünen sind seit je Experten für Zeitgeist-Apokalypse.

Religionsersatz für aufgeklärte Städter

Ob Atomkraftwerke, Nuklearwaffen, Waldsterben oder die Grenzen des Wachstums – wann immer sich die deutschsprachige Öffentlichkeit Untergangsstimmungen hingab, waren die Grünen zur Stelle. Das Echo der Romantik hallt lange nach. Doch die Grünen haben nicht nur Verdammung, sondern auch Erlösung im Angebot. Sie reklamieren eine überlegene Moral für sich und beanspruchen, zur Rettung des Planeten beizutragen.

Von der Hölle, wo «Klimaleugner» schmoren, führt ein Weg in den Himmel ohne Gen-Food und anderes Teufelszeug. Während andere Parteien dem Namen nach christlich sind, offerieren die Grünen eine säkularisierte Religion für aufgeklärte Städter. Dass sich Probleme wie Ressourcenverbrauch und Überbevölkerung nur global lösen lassen, ficht die Partei nicht an. Sie verspricht Absolution, wenn jeder Busse tut und seinen Beitrag leistet.

«Zügeln die Grünen ihren Hang zur Erziehungsdiktatur, dann wirken sie auf Wählerinnen und Wähler derzeit ziemlich cool.»

Gleichzeitig versteht es niemand so gut, dem elitären und paternalistischen Anspruch ein freundliches, der Welt zugewandtes Gesicht zu geben, wie Robert Habeck, der Vorsitzende der deutschen Grünen. Er ist weder ökologischer Messias noch Grossinquisitor, sondern der nette Kumpel von nebenan. Charmant versöhnt er die Gegensätze des Mittelschichteuropäers: Klimaschutz und zugleich Geländewagen für den urbanen Dschungel; Weltverbesserungsfimmel, aber auch eine privilegierte Existenz, von der ein Grossteil der Erdbevölkerung nur träumen kann.

Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der deutschen Grünen. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der deutschen Grünen. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Zügeln die Grünen ihren Hang zur Erziehungsdiktatur im Auftrag einer höheren Wahrheit, dann wirken sie auf Wählerinnen und Wähler unterschiedlichen Alters derzeit ziemlich cool. Das Image der Sektierer und Schrate haben sie jedenfalls abgestreift, weshalb es nicht viel bringt, wenn die CSU in Bayern oder die SVP in der Schweiz es ihnen anzuhängen versuchen.

Die Grünen profitieren vom Niedergang der traditionellen Linken. Deren Argumente haben sich abgenutzt. Die Möglichkeiten des Sozialstaats sind ausgereizt, die ethnisch-nationalen Trennlinien der neuen Rechten konkurrieren mit der Logik des Klassenkampfs. Erfolgreich sind Parteien besonders dann, wenn sie nicht nur eine politische Gesinnung, sondern einen Lebensentwurf verkörpern. Die postproletarische Kultur der Sozialdemokratie ist reichlich angestaubt. Die Grünen greifen hingegen mit bewusster Ernährung und naturnaher Lebensführung Trendthemen auf.

Die Sozialdemokraten hinterlassen eine Marktlücke

In Griechenland, Italien, Frankreich und den Niederlanden sind die Reformsozialisten bereits abgestürzt. In Deutschland und den nordischen Ländern kämpfen sie noch. Nur in dem wie immer widerständigen Gallier-Dorf namens Schweiz halten sie sich unverändert, auch wenn sich dort die Nibelungentreue der SP gegenüber den Gewerkschaften zunehmend als Problem erweist und das aufgeklärte, europafreundliche Milieu verschreckt.

Die Marktlücke machen sich die Grünen zunutze. Nur weil die Sozialdemokratie dahinsiecht, bedeutet das nicht das Ende des Antikapitalismus. Die Utopie der egalitären Gesellschaft ist nach wie vor verführerisch, zumal wenn sie sich zeitgemäss in ein ökologisches Mäntelchen hüllt. Die Erosion der Mittelschicht in der westlichen Welt (wiederum mit Ausnahme der Schweiz und Deutschlands) oder die Finanzkrise von 2008, als nicht nur die Bankenwelt in den Abgrund schaute, sind schliesslich keine kommunistischen Hirngespinste.

Die Linke jedweder Couleur findet auch heute genügend Gründe, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Es zeugte von beträchtlicher Denkfaulheit, die Marktwirtschaft gleichsam für alternativlos zu halten, nur weil der sowjetische Staatssozialismus seine Unfähigkeit bewiesen hat.

Beliebigkeit ist auch eine Strategie

Anderseits: Wer will heute noch rechts oder links sein? Die Konturen verschwimmen, und die Grünen passen perfekt zum ironischen Gestus der Postmoderne. Sie propagieren zwar ein Grundeinkommen und rechtfertigen die Enteignung von grossem Immobilienbesitz «in Notlagen». Aber sie haben auch einen realpolitischen Flügel oder kokettieren gleich ganz mit einem bürgerlichen Selbstverständnis wie die Schweizer Grünliberalen. Diese buhlen dafür mithilfe einer sozialdemokratischen Überläuferin um die Stimmen des linken Lagers.

Nichts demonstriert diesen Unernst besser als die Berliner Debatte über die Sozialisierung von Wohneigentum. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles lehnt – verantwortungsbewusst und «old school» – solche Enteignungen ab. In der privaten Altersvorsorge von Facharbeitern steckt schliesslich auch der Immobilienbesitz der Pensionskassen. Die Grünen halten sich hingegen ein Hintertürchen offen, weil sie um die Popularität sozial grundierter Beliebigkeit wissen. Wie viel hätten sie denn gerne? Die ewige Frage an der Theke für politischen Aufschnitt beantworten die Grünen so: ein halbes Pfund sozialistisch, ein Viertelpfund liberal und ein Viertelpfund wertkonservativ.

Modefarben haben es an sich, dass sie in der nächsten Saison schnell wieder out sind. Die Grünen sind schon oft totgesagt worden. Sie wurden als «Generationenprojekt» verspottet, als Endlager ausgebrannter Achtundsechziger, und fanden doch zu neuer Stärke. Das Auf und Ab gehört zu ihrer Geschichte. Unter Umständen neigt sich also ihr Höhenflug dem Ende zu, sobald die jüngste Renaissance der Ökologiebewegung wieder an Schwungkraft verliert.

Die europäischen Wähler sind verunsichert

Die Grünen müssen erst zeigen, ob sie als Resteverwerter des sozialdemokratischen Kadavers dauerhaft das gemässigt-linke Lager dominieren können. Vielleicht überwinden die Sozialdemokraten ja ihre Schwächephase, indem sie eine Antwort auf die Identitätsängste ihrer Stammklientel finden, statt diese in die Arme von Populisten zu treiben.

Der Aufstieg der ökologischen Parteien ist daher zunächst nicht mehr als ein Indiz für eine sehr viel grössere Entwicklung in Europa: die Volatilität der politischen Landschaft. Rechte und linke Protestparteien finden Zulauf, während nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch liberal-konservative Massenparteien an Schwindsucht leiden.

Frankreich ist hierfür geradezu ein Lehrbeispiel. Die neo-gaullistischen Républicains rangieren seit der Parlamentswahl 2017 nur noch knapp vor Marine Le Pens Nationalisten. Emmanuel Macrons neue, wie ein Komet aufgestiegene Bewegung sieht sich bereits existenziell herausgefordert, durch die Gelbwesten wie durch ihren abgehobenen Regierungsstil, der so gar nicht zu ihren Versprechungen passt.

Die Europawahlen im Mai werden voraussichtlich die Volksparteien ihre bequeme Kontrollmehrheit im Strassburger Parlament kosten. Die Protestparteien dürften deutlich zulegen und damit eine noch bessere Bühne finden, um den Totalumbau der EU zu propagieren. In Italien, Polen und Ungarn haben die Nationalisten die führende Position erobert, und es sieht nicht so aus, als müssten sie diese bald wieder abgeben. Aber was ist in diesem Treibsand noch gewiss?

Das grüne Hoch ist so gesehen typisch für einen verunsicherten Kontinent, der ahnt, dass Digitalisierung und Automatisierung seine Arbeitswelt erheblich verändern werden. Einen Kontinent, der durch die Globalisierung seinen Wohlstand bedroht sieht, der angesichts der Überalterung auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, aber das rasante Bevölkerungswachstum in Afrika und immer neue Wellen einer ungesteuerten Migration fürchtet. Nichts scheint mehr sicher, nachdem Westeuropa dreissig Jahre der Stabilität und Prosperität erlebt hat. In Umbruchzeiten schlägt die Stunde der Propheten – der echten wie der falschen.