Gastkommentar

Die folgsame Schar der Moralisten

Das Geschäft der Tugendwächter ist dasjenige des Schafs, das sich im Schutz der Herde zu blöken traut. Wie werden wir den Ungeist der politischen Korrektheit wieder los?

Milosz Matuschek
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(Illustration: Peter Gut)

(Illustration: Peter Gut)

In Monty Pythons «Ritter der Kokosnuss» muss König Artur auf dem Weg zum Heiligen Gral unter anderem an einem schwarzen Ritter vorbei, der sich ihm siegessicher in den Weg stellt, aber letztlich auf desolate Weise kämpft. Schon bei den ersten Hieben verliert er einen Arm, kurz darauf den anderen. Danach ist schon das erste Bein dran. Doch trotz allen Verlusten ist der jetzt auf einem Bein humpelnde schwarze Ritter nicht von seiner hohen Meinung über die eigene Überlegenheit abzubringen. «Nur eine Fleischwunde! Nur ein Kratzer! Nichts passiert.» Am Ende steht ein trauriger Rumpf in Rüstung am Boden und ruft dem Sieger hinterher: «Komm zurück, Feigling!»

Ein ähnlich verqueres, wenngleich todernstes Spektakel spielt sich derzeit vor unser aller Augen in öffentlichen Debatten ab. Auch hier sind die Massstäbe der Beurteilung, die Standards, aus den Fugen geraten. Wer heute keine guten Argumente hat, kann mit Verweis auf Identität, Gefühl und das persönliche Erleben dank dem Schutz einer folgsamen Schar von Moralisten leicht «recht bekommen». Fakten sucht man sich wie Rosinen: Wer auf der vermeintlich richtigen Seite steht, für den gibt es nur einen Grund für den Klimawandel, aber dafür 60 verschiedene Geschlechter.

Meinungsfreiheit und Demokratie

All das ist alarmierend, denn die freie Rede ist die Lunge der Demokratie. Aus der Krankheit der einen folgt unweigerlich ein Siechtum der anderen. Der Ungeist der politischen Korrektheit metastasiert sich gerade durch Universitäten, den Kulturbetrieb, Redaktionsstuben bis hin in die Politik. Was ist dem entgegenzusetzen?

Der Kern des Problems ist einfach: Es gibt im Grunde nur einen öffentlichen Debattenraum. Dessen Standards haben in Anlehnung an die Theorien John Stuart Mills und das Theorem des «Marktplatzes der Ideen» (Richter Oliver Wendell Holmes) Eingang in die Verfassungen der Länder der freien Welt gefunden: Die freie Debatte über alle Themen dient der Wahrheitsfindung, sie schützt den Prozess der Kollision unterschiedlichster Perspektiven (also von Meinungen, basierend auf Fakten), gleichgültig ob diese provokant, verletzend oder wertlos daherkommen. Da es seit je unpraktikabel war, die Wahrheitsfindung top-down zu organisieren, verständigte man sich auf einen Prozess der Erkenntnisgewinnung durch alle in einem Verfahren, welches seit Aristoteles massgeblich vom Logos, also von Rationalität bestimmt ist.

Praktisch umgekehrt ist der Prozess aus Sicht der Political- Correctness-Bewegung. Hier steht die Wahrheit in Form der Doktrin bereits fest, weshalb sich Debatten im Grunde erübrigen. Der Debattenraum wird im Namen einer Ideologie somit erst teilprivatisiert und dann schrittweise universalisiert, bis der Privatstandard der Doktrin als einzig neuer zulässiger Meinungskorridor erscheint. Nietzsche hat in seiner «Genealogie der Moral» von der «creatio ex nihilo» der moralischen Begriffe gesprochen. Der Moralist trägt seine Vorurteile in den Eingeweiden. In einer anmassenden Deutungsmacht über korrekte Begriffe wird eine Einteilung in gute Kollektive (LGBT, Frauen, marginalisierte Gruppen) und schlechte Kollektive (alte weisse Männer, Personen rechts der Mitte) vorgenommen, welche mancherorts über Zulassung zu öffentlichen Debatten entscheidet. Die latente Androhung von Shitstorms oder Karrierenachteilen resultiert in einer Narkotisierung des Debattenraums und einer Omertà der Intellektuellen.

Wer die Konfrontation von Ideen verhindert, tut dies aus Angst vor der Schwäche des eigenen Standpunkts.

Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz hat den Prozess des «Verführten Denkens», also der Anpassung von Intellektuellen an ein herrschendes Dogma – in seinem Fall des Kommunismus –, eindrücklich beschrieben. Sie schlucken die «Murti-Bing-Pillen» der Doktrin und umkreisen wie die Nachtfalter erst vorsichtig die Kerze, um sich dann schliesslich in die Flamme zu stürzen. Gerade sehen wir, dass es das verführte Denken auch in Demokratien gibt. Und es gedieh – höchst blamabel für alle Beteiligten – ursprünglich an Universitäten, dem Ort des Geistes par excellence. Dies ganz ohne äusseren Zwang, durch eine verhätschelte Millennial-Generation, die durch Vermeidung von Kollisionen mit unangenehmen Ideen auch ihren Anspruch aufgegeben hat, überhaupt etwas zu lernen.

Die «Furcht vor der Freiheit» hat eine Flucht ins Revolutionäre, Autoritäre oder Konformistische zur Folge, wusste Erich Fromm, und er scheint bei den Kindern und Kindeskindern der 68er mit seiner These noch einmal recht zu bekommen. Ein Teil der Linken findet in der Political-Correctness-Bewegung offenbar das gedeihlichste Feld für die eigene Selbstdemontage bei gleichzeitiger Befriedigung von Allmachtsphantasien.

Neue Tugendwächter

Die neuen Tugendwächter sind dabei nicht einmal eine Revolutionsbewegung, wie früher die Jakobiner oder vielleicht noch die Counterculture-Bewegung der 1960er Jahre, auch wenn sie sich vornehmlich für marginalisierte Gruppen einsetzen. Sie sind schon längst ein fester Bestandteil der Obrigkeit. Ihr Geschäft ist kein heroisches, es ist dasjenige des Schafs, das sich im Schutz der Herde zu blöken traut und im Geheimen den Wunsch hegt, sich selber als Ober-Opfer auszurufen. So ist dann auch alles, was man für die Tugend tut, aus dem Geist der angeblichen Notwehr gespeist – denn wer hypersensibilisiert ist, weiss, aus welchen Verfehlungen sich Kapital schlagen lässt. Sexistisch ist dann schon, wer zweimal nach einem Date fragt, und rassistisch, wer wissen will, wo jemand mit dunkler Hautfarbe denn herkomme.

Da der Hunger nach Feinden die Nahrung der Tugendwächter ist, brauchen sie ständig Nachschub an selber provozierten Angreifern, die sie sich mangels ständiger Verfügbarkeit zunehmend durch «reverses Trolling» schaffen müssen. So ruft der staatlich alimentierte Komiker Jan Böhmermann auf Twitter zum Sperren von missliebigen Accounts auf; die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli skandalisiert öffentlich und Hashtag-wirksam, dass sie im Flugzeug auf Englisch angesprochen wurde (was sie als Beleg für Alltagsrassismus nimmt), und Margarete Stokowski, das One-Trick-Pony unter den politisch korrekten Autoren, schreibt seit Jahren für Spiegel Online die immergleiche pauschal männerfeindliche Kolumne, in welcher die Begriffe «männlich», «weiss», «toxisch» und «Patriarchat» allenfalls neu angeordnet werden – als wäre ein Bot im Einsatz. Zur demonstrativen Selbstgewissheit dieses Elitenzirkels gehört dann nur noch, dass Kritik an der Simulation von Engagement ebenfalls als Sieg gefeiert wird: Wieder einen Nerv getroffen – der Ritter-Rumpf bei Monty Python lässt grüssen.

Wer nicht denken will

Während man in Europa in Intellektuellenkreisen angesichts dieser Travestie der öffentlichen Debatte eher eine lähmend-schweigende Bestürzung an den Tag legt, hat sich ausgehend von Amerika und Kanada gegen die Phalanx aus Kulturmarxisten, Relativisten und Methodenverwirrten bereits ein Bollwerk kritischer Intellektueller gebildet, die sich selber, leicht ironisch, als «intellectual dark web» betiteln lassen und sich für die Sicherung freiheitlicher Standards einsetzen. Wo bleibt der längst überfällige Schulterschluss? Es ist an der Zeit, dass europäische Intellektuelle Farbe bekennen und das Kernanliegen von Jordan B. Peterson, Sam Harris, Niall Ferguson, Ayaan Hirsi Ali, Steven Pinker und Jonathan Haidt öffentlich unterstützen, gleichgültig ob man all ihren Ansichten zustimmen mag oder nicht. Ziel muss es sein, den Debattenraum wieder von der Sektiererei durch falsche Propheten zu befreien und die eigene Geschäftsgrundlage zu verteidigen.

Die Situation ist zwar ernst, aber nicht hoffnungslos. Es gibt Auswege aus dem ideologischen Grabenkampf. Jonathan Haidt («The Coddling of the American Mind») sieht die Anfälligkeit für die derzeit grassierenden Denkmuster in der menschlichen Psyche begründet. Diese ist darauf gepolt, in festen Weltbildern und tribalistischen Strukturen zu denken und eher Positionen an sich heranzulassen, die das eigene Weltbild stützen. Das Kunststück besteht nun darin, den Reflex der Rechthaberei selber zu überwinden und sich – wie von John Stuart Mill vorgeschlagen – einem Programm konsequenter Diversität unterschiedlicher Sichtweisen zu unterwerfen.

Demokratie wird unter den Schmerzen aller Beteiligten geboren – denn wer gibt sich schon gerne mit Menschen ab, die einen gänzlich anderen Standpunkt vehement vertreten? Selbst wenn hundert Personen der gleichen Meinung sind, ist es Aufgabe der Meinungsfreiheit, dem einzigen Abtrünnigen Gehör und Schutz zu verschaffen. Meinungsfreiheit ist das Recht auf Gehör des Exzentrikers, nicht das Privileg des Mächtigen. Denn wie oft ist Konsens gleich Nonsens? Demokratie stirbt, wenn sich niemand mehr für ihre Grundlagen einsetzt. Hier ist deshalb insbesondere die Pädagogik gefragt. Um dem Vakuum der Lehrpläne in Sachen praktisches Demokratietraining und Standpunkt-Diversität (die diesen Namen verdient) etwas entgegenzusetzen, haben Wissenschafter in einer Zusammenarbeit Übungsprogramme frei zur Verfügung gestellt.

Haidt argumentiert hier mit der Erdnusstheorie: So wie die Anzahl der Erdnussallergien dort am stärksten gewachsen ist, wo man versucht hat, Kinder früh von Erdnüssen fernzuhalten, braucht es auch im Hinblick auf die Ausbildung demokratischer Fähigkeiten ein Training in Sachen Antifragilität. Einer späteren Konfliktallergie, wie sie in «safe spaces» gepflegt wird, kann so vorgebeugt werden. Wer die Konfrontation von Ideen verhindert, tut dies aus Angst vor der Schwäche des eigenen Standpunkts: Die wunderschöne Doktrin könnte ja das Opfer eines Überfalls einer Bande guter Argumente werden. Die militant-korrekte Linke tut sich mit ihrem derzeitigen Todestanz nicht nur selbst keinen Gefallen, sondern betreibt auch noch ein Rekrutierungsprogramm für autoritäre Kräfte. Sie sollte sich wieder auf die Fahnen schreiben, was der Künstler Joseph Beuys als Postulat an seine Studenten formulierte: «Wer nicht denken will, fliegt raus!»

Milosz Matuschek ist Unternehmer, Publizist und regelmässiger NZZ-Kolumnist. Zuletzt veröffentlichte er «Kryptopia» und «Generation Chillstand».