Wir backen einen Geburtstagskuchen für das Internet: Wie viele Kerzen sollen es sein?

Es hat sich eingebürgert, am 29. Oktober den Geburtstag des Internets zu feiern. An diesem Tag vor 50 Jahren gelang in Kalifornien die Datenfernübertragung zwischen zwei Computern.

Stefan Betschon
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Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, und nichts spricht dagegen, am 28. Oktober den Champagner kalt zu stellen, um dann um Mitternacht die Gläser zu erheben und fröhliche Gesänge anzustimmen. Es gilt, einen Geburtstag zu feiern, und heuer ist es sogar ein runder: Happy Birthday!

Kabel vermitteln zwischen Computern. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Kabel vermitteln zwischen Computern. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Das Internet hat Geburtstag. Es ist der 50. Am 29. Oktober 1969, so berichten dieser Tage viele Zeitungen, hätten erstmals zwei Computer über eine Internetverbindung miteinander Daten ausgetauscht. Wie schnell doch die Zeit vergeht. «Was, schon so alt!», rufen die einen; andere finden, der Jubilar präsentiere sich erstaunlich jung. Einig sind sich alle, dass das Internet die Welt in jüngster Vergangenheit grundlegend verändert hat. Knapp vier Milliarden Menschen – 51,2 Prozent der Weltbevölkerung – hatten laut Erhebungen der Internationalen Fernmeldeunion Ende 2018 Zugang zum Internet. In den Industriestaaten sind mehr als vier Fünftel der Bevölkerung an das Internet angeschlossen, in Entwicklungsländern sind es 45,3 Prozent.

Der Erfolg hat viele Väter

Es ist noch nicht lang her, dass man angefangen hat, am 29. Oktober den Geburtstag des Internets zu feiern. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn noch zu Beginn der 1990er Jahre war das Internet nicht viel mehr als ein obskures elektronisches Kommunikationssystem für Angehörige amerikanischer und westeuropäischer Universitäten.

Eine vielbeachtete Internet-Geburtstagsparty fand am 2. September 1999 im Rechenzentrum der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) statt. Eingeladen hatte der amerikanische Computerwissenschafter Leonard Kleinrock, der seit Mitte der 1960er als Professor an der UCLA tätig war. Hier, so liess er am 2. September 1999 die Welt wissen, sei 30 Jahre zuvor, am 2. September 1969, das Internet eingeschaltet worden. Das heisst: Es wurde ein sogenannter Interface Message Processor (IMP) in Betrieb genommen. Dieser kühlschrankgrosse Hilfscomputer, eine Art Modem, übernahm die Aufgabe, den Grossrechner der Universität mit dem Telefonnetz zu verbinden. Er war von der amerikanischen Computerfirma Bolt Beranek and Newman Inc. (BBN) gebaut worden. Führende Köpfe bei der Entwicklung dieser «Nachrichtenprozessoren» waren die amerikanischen Computerwissenschafter Wesley Clark, Frank Heart und Robert Kahn.

Ein Computernetzwerk bestehend aus nur einem einzigen Computer ist nun allerdings eine wacklige Sache, deshalb hat Kleinrock den Internet-Geburtstag später auf den 29. Oktober verlegt. An diesem Tag wurde der zweite IMP aufgestartet. Er stand in Menlo Park an dem mit der Stanford University verbandelten Stanford Research Institute.

Ein Netz der Netze

Es liessen sich auch Gründe finden, den Geburtstag des Internets vorzuverlegen. Einige Darstellungen der Geschichte des Internets beginnen bei den Brieftauben der alten Griechen oder beim 1836 patentierten Telegrafen. Man könnte die Geschichte des Internets an auch jenem Tag beginnen lassen, an dem die Russen im Oktober 1957 den Sputnik-Satelliten ins All schossen.

Für die Amerikaner war diese technisch-wissenschaftliche Meisterleistung des Erzfeindes ein Schock. Als Reaktion darauf gründete US-Präsident Dwight Eisenhower die Advanced Research Projects Agency (Arpa). Im Dezember 1966 stellte Bob Taylor als Chef der Arpa-Abteilung Information Processing Techniques Office (IPTO) den Computerwissenschafter Larry Roberts ein und gab ihm den Auftrag, ein Netzwerk – Arpanet genannt – zu schaffen, das die Computer der wichtigsten amerikanischen Universitäten und Forschungsinstitutionen verbinden sollte.

Anfang Oktober 1969 bestand das Arpanet aus einem rund fünf Meter langen Kabel, das im Rechenzentrum der Universität von Los Angeles eine Sigma 7 der Firma Scientific Data Systems mit dem Interface Message Processor und dem Telefonnetz verband. Am späten Abend des 29. Oktobers, nachdem der zweite Arpanet-Knoten in Menlo Park mit dem Telefonnetz verbunden worden war, versuchten Kleinrock und sein Assistent Charley Kline, zwischen den beiden Computern in Kalifornien eine Verbindung aufzubauen. Ein erster Versuch sei misslungen, noch bevor der Befehl «Log-in» habe eingegeben worden können, bereits beim zweiten Buchstaben sei der IMP abgestürzt.

Dass zwischen den Computern in Los Angeles und Menlo Park am 29. Oktober 1969 um 22 Uhr 30 eine Verbindung hergestellt wurde, ist durch den Eintrag in einem Labortagebuch bezeugt. Dass in diesem Moment das Internet auf die Welt kam, ist nicht wahr. Erstens ist eine Verbindung zwischen zwei Computern noch kein Netzwerk, zweitens ist das Arpanet nicht das Internet. Das Arpanet ist ein Netzwerk, das Internet ist ein Netzwerk der Netzwerke.

Die Atombombe als Vater der Innovation

Es sei die Atombombe gewesen, die in den USA die Entwicklung von neuartigen Kommunikationssystemen vorangetrieben habe, so heisst es. Doch was die Netzwerkarchitekten der IPTO antrieb, war nicht die Angst vor einem russischen Atomangriff, sondern der rasch steigende Geldbedarf der von ihnen unterstützten Forschergruppen. Einer der grössten Posten im Budget dieser Arpa-Abteilung war das Geld, das für die Anschaffung von Computer-Hardware ausgegeben werden musste. Indem diese Computer vernetzt würden, so hofften Taylor und Roberts, könnte vorhandene Rechenkapazität besser genutzt und Geld gespart werden.

Der wahre Kern der Atombombenlegende ist der, dass ein amerikanischer Elektroingenieur der Rand Corporation namens Paul Baran im Hinblick auf einen Atomkrieg zu Beginn der sechziger Jahre ein Konzept für eine redundant ausgelegte, dezentrale Netzwerktopologie und ein paketvermitteltes Übertragungsverfahren entwickelte. Seine bahnbrechende Arbeit, die im August 1964 veröffentlicht wurde, galt aber bei seinen Vorgesetzten als unrealisierbar und fand weder in Forscherkreisen noch bei Regierungsstellen Beachtung. Unabhängig von Baran und ohne militärische Hintergedanken erfand in London am British National Physical Laboratory (NPL) der Mathematiker Donald Davies dieselbe Kommunikationstechnologie und gab ihr den Namen «packet switching». Roberts wurde 1967 an einem Fachkongress auf die Arbeiten von Davies aufmerksam gemacht. Erst durch die Engländer erfuhr er später von der Arbeit Barans.

Der Name des britischen Mathematikers ist ein Hinweis darauf, dass in den 1960er Jahren nicht nur in den USA, sondern etwa auch in Europa Versuche unternommen wurden, die Grossrechner der wichtigsten Forschungsinstitute miteinander zu vernetzen. Besonders hervorgetan hat sich dabei der Franzose Louis Pouzin, ein an der französischen Ecole Polytechnique diplomierter Ingenieur, der unabhängig von Baran und Davies die paketvermittelte Datenübertragung erfunden hatte. Pouzin leitete ab 1971 in Frankreich am Institut de Recherche en Informatique et en Automatique (Iria) ein Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die wichtigsten Datenverarbeitungszentren Frankreichs zu vernetzen. Dieses Internet «avant la lettre» hiess Cyclades, es nutzte noch vor dem amerikanischen Arpanet die Paketvermittlung. Cyclades war 1974 funktionsfähig, musste aber 1978 aufgegeben werden, weil es die Geschäftspläne der Direction Générale des Télécommunications störte. Die staatliche Telefongesellschaft wollte mit Transpac ein eigenes Datennetz aufbauen.

Der Traum von einem globalen Netzwerk

Pouzin engagierte sich Mitte der 1970er Jahre auch für den Aufbau eines European Informatics Network. Dieses Netzwerk verband universitäre Forschungsstätten in Versailles (Iria), Zürich (ETH), Mailand und London. Auch dieses Projekt scheiterte, auch hier machten sich Interventionen staatlicher Telefongesellschaften störend bemerkbar. Gut möglich, dass auch in den USA der Aufbau des Internets gebremst worden wäre, hätte nicht das amerikanische Justizdepartement 1974 dem Telefonmonopol der AT&T den Kampf angesagt.

Am 24. Oktober 1972 wurde die International Packet Working Group (IPWG) gegründet mit dem Ziel, einen weltweiten Standard für die Vernetzung von Netzwerken zu erarbeiten. Zu den führenden Köpfen in diesem Gremium gehörte neben Davies, Pouzin, Heart und Kahn auch ein junger amerikanischer Mathematiker namens Vinton Cerf von der Stanford University. Bereits 1973 präsentierte Cerf einen Entwurf für ein «International Transmission Protocol», den er und Kahn zusammen mit europäischen Kollegen, darunter Roger Scantlebury (NPL) und Hubert Zimmermann (Cyclades), entwickelt hatten. Auf der Basis dieses gemeinsam erarbeiteten Entwurfs wurden noch im selben Jahr zwei verbesserte Vorschläge für den Zusammenschluss von «packet switching networks» präsentiert. Der eine stammte hauptsächlich von europäischen Forschern um Pouzin, der andere war von Cerf und Kahn verfasst worden. Beide Vorschläge wurden unabhängig voneinander weiterentwickelt. Eine Synthese der beiden Vorschläge wurde dann Anfang 1976 von einer deutlichen Mehrheit der internationalen Arbeitsgruppe angenommen und der ISO sowie der CCITT zur internationalen Standardisierung weitergeleitet.

Doch dann wollten die Amerikaner von der gemeinsam erarbeiteten Synthese plötzlich nichts mehr wissen. Die Mitglieder der International Packet Working Group seien «schockiert» gewesen, so berichtet ein Augenzeuge, als sie erfahren hätten, dass die Amerikaner den offiziellen Standard für ein Netz der Netze verworfen hätten, um sich auf den Vorschlag von Kahn und Cerf zurückzubesinnen. Die Anpassung des Arpanet an das von Cerf und Kahn definierte «Transmission Control Protocol / Internet Protocol» (TCP/IP) sei zu weit fortgeschritten, um jetzt noch Änderungen vornehmen zu können, erklärten die Amerikaner 1976 ihren verblüfften europäischen Kollegen. Diese Erklärung überzeugt nicht, denn es hat noch viele Jahre gedauert, bis es gelang, eine funktionsfähige und praxistaugliche Version des TCP/IP-Protokolls zu entwickeln und zu implementieren. Warum die Amerikaner ausgeschert sind, ist schwer nachvollziehbar, vielleicht waren es militärstrategische oder wirtschaftspolitische Überlegungen auf höchster Ebene, vielleicht war es auch nur die Arroganz oder die Eitelkeit einzelner Wissenschafter.

Alle bisher genannten Namen hätten es verdient, mit dem Ehrentitel «Vater des Internets» verbunden zu werden. Sogar Leonard Kleinrock. Es gibt zwar in seinen frühen Publikationen, die den Arbeiten von Baran und Davies vorangehen, keine Hinweise, dass er sich so etwas wie «packet switching» auch nur hat vorstellen können; und er war weder bei BBN, noch beim IPTO oder bei der INWG dabei. Aber er hat in den 1990er Jahren das Konzept des Internet-Geburtstags erfunden. Dieses Konzept hilft, die Erinnerung daran wachzuhalten, dass es einmal eine Zeit gegeben hat ohne Internet, ohne Likes, Fakes und Click-Betrug.

Der Urknall an der Börse

Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, deshalb wird niemand sich daran stören, dass das Internet viele Geburtstage hat. Am ehesten empfiehlt sich für Geburtstagsfeiern der 5. Mai 1974, das ist der Tag, an dem Cerf und Kahn in einer amerikanischen Fachzeitschrift ihr «Protocol for Packet Network Interconnection» vorstellten. Man könnte auch den 1. Januar 1983 wählen, das ist der Tag, an dem TCP/IP dann eingeführt wurde.

Oder man besinnt sich auf das erste E-Mail-Programm, das Ray Tomlinson zusammen mit einem neuen Verwendungszweck für das @-Zeichen im März 1972 vorstellte, auf ein Memo über das Junk-Mail-Problem von Jon Postel im November 1975, auf das erste Virus (9. Dezember 1987), auf die Freigabe der ersten WWW-Software durch Berners-Lee im März 1991 oder auf den Abdruck des berühmten Cartoons «On the Internet, nobody knows you’re a dog» von Peter Steiner im «New Yorker» am 5. Juli 1993. Dieser Cartoon markiert den Zeitpunkt, als auch Leute ausserhalb der Universitäten sich für das Internet zu interessieren begannen.

Die «New York Times» schrieb 1993 erstmals über das Internet. Die neue Software – gemeint war ein Web-Browser namens Mosaic – könne helfen, die «verschütteten Schätze des Informationszeitalters» zu entdecken. Mosaic wurde von Studenten einer amerikanischen Universität entwickelt, die dann eine Firma gründeten, um ihre Software zu vermarkten: Netscape Communications Inc. Der Börsengang von Netscape im August 1995 wurde von vielen Beobachtern als Urknall beschrieben, der nicht nur den Dotcom-Boom, sondern auch das Internetzeitalter begründet habe.

Das Herz des Internets

Er habe sich, als er Ende der 1960er Jahre das Internet erfunden habe, nicht vorstellen können, was aus dieser Erfindung alles hervorgehen werde, pflegte Kleinrock anlässlich von Internet-Geburtstagen den Journalisten zu erklären. Wie auch? Hat irgendjemand unterstellt, dass die Computerprogrammierer der 1960er Jahre etwas mit Kätzchenvideos oder Mamablogs im Sinne hatten? Das Internet ist nicht eine technische Innovation, sondern ein soziales Konstrukt. Die Bedeutung des Internets ergibt sich nicht aus der Gloriosität von TCP/IP, sondern aus den menschlichen Emotionen und allzumenschlichen Emanationen, die dieses Kommunikationssystem durchpulsen.