In den 1960er Jahren kamen die ersten Kaffeeröster – und Seattle entwickelte sich immer mehr zur Kaffeestadt. (Bild Reuters)

In den 1960er Jahren kamen die ersten Kaffeeröster – und Seattle entwickelte sich immer mehr zur Kaffeestadt. (Bild Reuters)

Auf einen Espresso in Seattle: das Kaffeemekka an der Westküste der USA

Beim Stichwort Kaffeehauskultur denkt man zuallererst an Wien. Dabei hat sich auch in den USA ein Zentrum für Kaffeegeniesser etabliert. Verkauft wird in Seattle neben dem schwarzen Gebräu auch ein Lebensgefühl.

Romina Spina
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David Schomer steht neben der Espressomaschine im hinteren Teil des gewölbten Tresens und schaut streng auf ein Häufchen frisch gemahlenes Kaffeepulver. Rundum herrscht reger Betrieb. Es ist acht Uhr morgens in einem historischen Café in Seattle. Mit flinken Handbewegungen bereiten Baristi an der Maschine im vorderen Teil des Lokals Kaffeespezialitäten zu.

Wissenschafter im Labor

Schomers Blick ist auf die wenigen Gramm Kaffee fixiert, die vor ihm auf einer schneeweissen Untertasse liegen. Vorsichtig hebt der Kaffeemeister das Geschirrstück gegen das Licht, um Farbe und Konsistenz des dunkelbraunen Pulvers zu prüfen. Ist der Farbton dieser Sorte zu hell, zu dunkel? Sind die Bohnen zu grob oder zu fein gemahlen? Er atmet tief ein, bevor er zum Siebträger greift. Nach einer halben Minute stehen zwei Espressi auf dem Tresen. Er nimmt seine Tasse, schnüffelt daran, nimmt einen Schluck und fragt mit ernster Miene: «Schmeckst du da Zitrus raus?»

Wie jeden Freitag um diese Zeit bietet Schomer in seinem Café «Espresso Vivace» in Seattle eine Kaffeedegustation an. Er ist ein schlanker Mann mittleren Alters mit Schnauz und weissem Haarschopf, spricht schnell und detailliert über jeden Schritt der Zubereitung und Verkostung von Espresso. Kaffee ist seine Leidenschaft. Trotzdem erklärt er die technischen Aspekte trocken und minuziös, fast wie ein Wissenschafter. Schomer kommt aus einer Familie von Ingenieuren. Er selber war in einem Labor der US Air Force als Meteorologe tätig. Dort hat er auch den ersten Kaffee seines Lebens getrunken, wie er sagt: eine geruchlose Brühe aus dem Automaten vor dem Start der Nachtschicht.

Nicht gerade ein vielversprechender Anfang für jemanden, der Jahre später die Kaffeewelt in Seattle entscheidend mitprägen sollte. Besonders enttäuschend soll für David Schomer damals die Entdeckung gewesen sein, dass der Kaffee im Pappbecher nichts von dem betörenden Duft frisch gemahlener Bohnen hatte, den er mit seiner Kindheit in Verbindung brachte.

Beginn der Kaffeerevolution

Jene Zeit, die frühen sechziger Jahre, markierte den Beginn der Kaffeehauskultur, für die Seattle bekannt ist. Im lebendigen Viertel um die University of Washington im Nordosten der amerikanischen Stadt wurden Cafés zu neuen Treffpunkten. Hier stellten Künstler aus, es traten Folk-Musiker auf, und hier plante man Kundgebungen und Protestaktionen.

Seattle

Zu den Kaffeeröstern, die damals in Seattle Fuss fassten, gesellten sich 1971 drei Jungunternehmer, die am zentralen Pike Place Market eine Rösterei gründeten. Passend zur Lage am Wasser benannten sie sie nach einer Figur aus Herman Melvilles Roman «Moby-Dick»: Starbucks. Später wurde in der Nähe auch das gleichnamige Kaffeehaus eröffnet, das dort bis heute in Betrieb ist.

Statt nur Filterkaffee erschienen bald auch andere Kaffeespezialitäten im Angebot – dies nicht zuletzt dank dem Import von Espressomaschinen aus Italien. Unter jenen, die Norditalien besucht hatten und die gleiche Kaffeekultur nach Seattle bringen wollten, war auch Howard Schultz, der spätere CEO von Starbucks. In den Cafés von Seattle verkaufte man fortan nicht nur Getränke, sondern auch ein neues Lebensgefühl.

Der perfekte Espresso

Inzwischen hatte Schomer das Labor verlassen und eine Ausbildung zum Flötisten gemacht. Doch in Seattle konnte er mit klassischer Musik kein Geld verdienen. So kam es, dass er 1988 ins boomende Kaffeegeschäft einstieg. Die Espressozubereitung mit Siebträger, so schien ihm, war eine kulinarische Kunst mit Ausbaupotenzial. So richtete er an der Hauptachse Broadway auf Seattles Capitol Hill zusammen mit seiner Partnerin einen Kaffeestand ein.

Die Espressozubereitung sieht Schomer als die einzige Methode, um das feine Kaffeearoma unverändert von der Bohne in die Tasse zu bringen. Akribisch studierte er jeden Aspekt dieses Handwerks und notierte, wie sich selbst kleinste Veränderungen auf den Geschmack des Kaffees auswirkten. Über Jahre experimentierte er an der Maschine und dokumentierte die Resultate, die er dann in Artikeln und in einem Buch veröffentlichte.

In den Cafés lebt und atmet die Stadt, hier kommt man zusammen, macht Geschäfte oder entspannt sich.

In Seattle sowie in den übrigen Teilen der USA lernten zwei Generationen von Cafébetreibern und Baristi Schomers Techniken, zuerst via Videokassetten und später via Internetvideos. Ihm wird in Fachkreisen auch die Einführung und Verbreitung der «Latte Art» in Amerika zugeschrieben, also der Verzierungen, die man bei Cappuccino oder Caffè Latte in den Milchschaum zeichnet.

Schomers Versuche liefen weiter. In Norditalien hatte er erfahren, dass Unterschiede bei der Wassertemperatur den Kaffeegeschmack stark beeinflussen konnten. Also musste er die Temperatur stabilisieren. Hier zahlte sich sein Fachwissen im Bereich der Präzisionsmessung aus. Als ehemaliger Meteorologe werkelte er so lange, bis ihm am Mittwoch, dem 28. Februar 2001, der Durchbruch gelang.

Doppeltes Erdbeben

An jenem Mittwoch bebte die Erde in Seattle. Mit einer Stärke von 6,8 auf der Richter-Skala war es das schwerste Beben an der Westküste seit Jahrzehnten. Nebst einem Todesopfer forderten die Erdstösse Hunderte von Verletzten. Der Bürgermeister rief den Notstand aus.

Schomer hatte gerade eben sein langersehntes Ziel erreicht, bevor er ins Freie rennen musste. Im Gebäudeinneren hatte er einen Espresso zubereitet, nachdem die Temperatur mit einem Regler stabilisiert worden war. Rückblickend kam für ihn der Augenblick, als die dickflüssige, haselnussbraune Crème in die vorgewärmte Tasse schoss, einem Erdbeben gleich. «Ich konnte erstmals das Buttercaramel schmecken. Es war wie ein Sonnenaufgang», erinnert sich Schomer. «Das hat mich umgehauen.»

Eine stabile Wassertemperatur, Röstung, Mühle oder Mahlgrad sind wichtige Schritte auf dem Weg zum perfekten Espresso. (Bild: Reuters)

Eine stabile Wassertemperatur, Röstung, Mühle oder Mahlgrad sind wichtige Schritte auf dem Weg zum perfekten Espresso. (Bild: Reuters)

Heute gibt es in Seattle zahlreiche Kleinbetriebe, die ausgezeichneten Espresso und andere Kaffeespezialitäten servieren. Statt Ladenketten besuchen Einheimische lieber Einzelgeschäfte, die Wert auf eine nachhaltige Wertschöpfungskette legen. Lokale, unabhängige Kaffeehäuser und Mikroröstereien sind hoch im Kurs. Viele von ihnen bieten auch regelmässig Kaffeedegustationen an.

Inzwischen haben sich auch jüngere Betriebe in Seattle etabliert. Moderne Einrichtungen und Designs widerspiegeln den Zeitgeist, doch die Kernidee, dass Kaffee in einem gemütlichen Umfeld genossen werden soll, bleibt. Cafés sind Arbeitsorte für Studenten und Selbständige, Treffpunkte für Künstler und Pensionierte. Sie stärken das Gemeinschaftsgefühl, und sie sind der Zufluchtsort, wenn die Temperaturen draussen tief sind und der Regen kommt. Hier lebt und atmet die Stadt, hier kommt man zusammen, macht Geschäfte oder entspannt sich.

Schomers Tag hat wie immer mit einem Espresso Macchiato begonnen. Selbst nach drei Jahrzehnten im Seattler Kaffeegeschäft arbeitet er unermüdlich weiter an seinem grossen Ziel: dem perfekten Espresso. Denn perfekt soll das Getränk immer, das heisst bei jeder einzelnen Zubereitung, herauskommen. Damit dies gelinge, müsse er weitere Verarbeitungsschritte verbessern, erklärt Schomer. Eine stabile Wassertemperatur sei erst der Anfang, es gehe auch um Dinge wie Röstung, Mühle oder Mahlgrad. Dazwischen will er sich weiterhin der Qualitätskontrolle und der Personalausbildung widmen. Von den fünfzig Personen seines Teams stehen die meisten an der Espressomaschine. Schomer trainiert sie alle persönlich. Für wie lange? Er zögert nicht: «Für immer.»

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